OLG Hamburg

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Zitieren als:
OLG Hamburg, Beschluss vom 02.02.2009 - 2 Wx 151/08 - asyl.net: M15375
https://www.asyl.net/rsdb/M15375
Leitsatz:

Lehnt der Dublin-Staat ein Übernahmeersuchen Deutschlands ab, entfällt die weitere Aufrechterhaltung der Sicherungshaft über die Vier-Wochen-Frist des § 14 Abs. 3 S. 3 AsylVfG hinaus, so dass jedenfalls in den Fällen, in denen das Bundesamt über den Asylantrag bereits entschieden hat (hier: Ablehnung als offensichtlich unbegründet), die Haft sofort zu beenden ist.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, unerlaubte Einreise, Ausreisepflicht, Vollziehbarkeit, Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Asylantrag, Dienstleistungen, Aufenthaltsgestattung, Entziehungsabsicht, Zustellung, Ablehnungsbescheid, Justizvollzugsanstalt, Verordnung Dublin II, Wiederaufnahmeersuchen, Ablehnung, Vier-Wochen-Frist
Normen: AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 1; AufenthG § 4 Abs. 1; AsylVfG § 55 Abs. 1; AsylVfG § 14 Abs. 3 S. 1 Nr. 4; AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 5; AsylVfG § 14 Abs. 3 S. 1 Nr. 5; AsylVfG § 14 Abs. 3 S. 3
Auszüge:

Lehnt der Dublin-Staat ein Übernahmeersuchen Deutschlands ab, entfällt die weitere Aufrechterhaltung der Sicherungshaft über die Vier-Wochen-Frist des § 14 Abs. 3 S. 3 AsylVfG hinaus, so dass jedenfalls in den Fällen, in denen das Bundesamt über den Asylantrag bereits entschieden hat (hier: Ablehnung als offensichtlich unbegründet), die Haft sofort zu beenden ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

II. Die sofortige weitere Beschwerde ist gemäß den §§ 106 Abs. 2 S. 1 AufenthG, 3 S. 2, 7 Abs. 1 FEVG, 27, 29 FGG statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt. [...] In dem jetzt gestellten Umfang ist die Rechtsbeschwerde im Hauptantrag begründet. Die angefochtene Entscheidung des Landgerichts beruht auf einem Rechtsfehler (§§ 27 Abs. 1 FGG, 546 ZPO).

Nicht gefolgt werden kann dem Beschwerdegericht zunächst darin, dass es den Haftgrund des § 62 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG für gegeben hält. Zwar lagen die Voraussetzungen bei der ersten Inhaftnahme am 23. Juli 2008 vor, denn der Betroffene war entgegen seiner Verpflichtung gemäß § 3 Abs. 1 AufenthG ohne Pass oder Passersatz in die Bundesrepublik Deutschland und damit gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG unerlaubt eingereist und war aufgrund dieser unerlaubten Einreise gemäß §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig. Einen Aufenthaltstitel hat der Betroffene jedenfalls nicht besessen und war auch nicht nach europarechtlichen Vorschriften oder aufgrund des Assoziationsabkommens EWG/Türkei zum Aufenthalt berechtigt (§ 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG); allein die behauptete Absicht, hier Dienstleistungen in Verbindung mit dem beabsichtigten Asylverfahren in Anspruch zu nehmen, begründete keine entsprechende Berechtigung. Mit Stellung des Asylantrags entfiel allerdings die vollziehbare Ausreisepflicht aufgrund der unerlaubten Einreise, da einem Ausländer, der um Asyl nachsucht, der Aufenthalt im Bundesgebiet zur Durchführung des Asylverfahrens gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestattet ist. Gemäß § 14 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 AsylVfG steht dies der Aufrechterhaltung von Abschiebungshaft im Rahmen der in Abs. 3 Satz 3 der Vorschrift bezeichneten Befristung aber dann nicht entgegen, wenn sich der Ausländer in Sicherungshaft nach § 62 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG befindet, weil er sich nach der unerlaubten Einreise länger als einen Monat ohne Aufenthaltsgenehmigung im Bundesgebiet aufgehalten hat.

Da der Betroffene unmittelbar nach der unerlaubten Einreise in Sicherungshaft genommen worden ist, fehlt es an der Voraussetzung des einmonatigen Aufenthalts. Dass es nach Auffassung des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLGZ 99,97; a.A.: OLG Düsseldorf, S. v. 212.00, 26 Wx 4/00; jeweils zitiert nach juris; a.A. auch Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., § 14 AsylVfG Rn. 25) auf diese Voraussetzung nicht ankommt, wenn der Ausländer nach § 13 Absatz 3 Satz 2 AsylVfG nicht unverzüglich um Asyl nachgesucht hat, bedingt selbst dann, wenn die Asylantragstellung hier nicht mehr als unverzüglich erfolgt zu beurteilen wäre, keine Vorlage an den Bundesgerichtshof nach § 28 FGG, da diese Frage aus den unten dargestellten Gründen letztlich nicht entscheidungserheblich ist.

Ohne Rechtsfehler hat das Beschwerdegericht angenommen, dass der daneben in der angefochtenen Entscheidung zur Begründung angeführte Haftgrund des § 62 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG zunächst bestand und im Hinblick auf § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylVfG auch anfänglich über die Asylantragstellung hinaus die Haft begründet hatte. Die Anwendung des § 62 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG setzt den begründeten Verdacht voraus, dass sich der Ausländer der Abschiebung entziehen will. Die bloße Weigerung zur freiwilligen Ausreise ist als Haftgrund allein nicht ausreichend; vielmehr müssen konkrete Umstände den Verdacht begründen, dass der Ausländer die Absicht hat, sich der Abschiebung zu entziehen (vgl. Renner, 8. Aufl., § 62 2.1.5). Diese Anforderungen hat die Kammer auch nicht verkannt. Dass das Beschwerdegericht nach ausführlicher Anhörung des Betroffenen durch den beauftragten Richter die fehlende Entziehungsabsicht im Hinblick auf die Gesamtheit der für das Gegenteil sprechenden objektiven Umstände, insbesondere im Hinblick auf die Umstände der illegalen Einreise, nicht geglaubt hat, bedeutet nicht, dass dessen Angaben nicht in Erwägung gezogen worden sind und stellt deshalb entgegen der Auffassung des Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen auch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar. Die mit der Stellung des Asylantrags entfallende Ausreisepflicht stand auch zunächst der Aufrechterhaltung der Sicherungshaft nicht entgegen. § 14 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 AsylVfG verlangt anders als Nr. 4 der Vorschrift - im Falle der Stellung eines Asylantrags aus der Sicherungshaft nach § 62 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG keine weitere Voraussetzung.

In der Folgezeit sind die Voraussetzungen der Sicherungshaft allerdings entfallen. Gemäß § 14 Abs. 3 S. 3 AsylVfG endet die Haft, und zwar die Haft in jedem Fall des Absatz 3 Satz 1, mit der Zustellung der Entscheidung des Bundesamtes - auch der ablehnenden -, spätestens jedoch vier Wochen nach Eingang des Asylantrags beim Bundesamt, es sei denn, der Asylantrag wurde (innerhalb der Frist) als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet abgelehnt oder es liegen die Voraussetzungen der mit Wirkung ab 28. August 2007 neu eingeführten Ausnahme vor, dass (innerhalb der 4-Wochen-Frist) ein Antrag auf ein Auf- oder Wiederaufnahmeersuchen an einen anderen Staat gerichtet worden ist. Ergeht innerhalb der gesetzlichen Vier-Wochen-Frist keine Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und ist auch ein Antrag mit dem vorgenannten Inhalt innerhalb dieser Frist nicht gestellt, so endet die Haft des Betroffenen, und zwar nach der bisherigen Rechtsprechung kraft Gesetzes (vgl. OLG Köln, FGPrax 07, 297, und OLGR Köln 08, 328, jeweils für die Rechtslage nach alter Fassung, zitiert nach juris).

Eine Entscheidung des Bundesamtes ist im vorliegenden Fall während der Frist nicht wirksam geworden. Denn Voraussetzung für die Wirksamkeit des Bescheids des Bundesamtes ist nicht dessen Erlass, sondern dessen Zustellung (§ 31 Abs. 1 S. 2 AsylVfG, vgl. auch OLG Köln a.a.O.). Diese ist hier aber nicht innerhalb der 4-Wochen-Frist bewirkt worden. Hierzu hat das Landgericht zwar keine Feststellungen getroffen, das Scheitern des Zustellungsversuchs vom 25. August 2008 ist aber nach Vorlage einer Kopie der Zustellungsurkunde durch den Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen unstreitig. [...] Mangels Feststellungen durch das Landgericht hierzu ist der Senat als Rechtsbeschwerdegericht berechtigt, anhand des insoweit aktenkundigen unstreitigen Sachverhalts selbst zu entscheiden (vgl. BayObLG, B. v. 12.10.00, 3Z BR 307/00, zitiert nach juris). Danach ist die Zustellung des Bescheids vom 21. August 2008 mit dem Vermerk, dass der Betroffene unter der Zustellanschrift (der Justizvollzugsanstalt) nicht zu ermitteln sei, zunächst gescheitert und erst am 6. Oktober durch Zustellung an den Verfahrensbevollmächtigten, der durch amtliche Änderung vom 2. Oktober in dem Bescheid nachgetragen wurde, bewirkt worden. Entgegen der Auffassung der Beteiligten greift auch die Zustellfiktion des § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylVfG nicht ein. Ihre Anwendung setzt wegen des nach Sinn und Zweck der Regelung gegebenen inneren Zusammenhangs mit den in der Vorschrift vorgenannten Mitwirkungspflichten deren Verletzung voraus. Hier ist die Zustellung aber nicht daran gescheitert, dass sich der Betroffene unter der Zustellanschrift nicht aufhielt und seinen neuen Aufenthaltsort nicht mitgeteilt bzw. seine Erreichbarkeit nicht sichergestellt hat, sondern daran, dass aus unverständlichen Gründen er laut Zustellungsurkunde in der Haftanstalt nicht zu ermitteln war, obwohl er sich dort in der Verantwortung der beteiligten Ausländerbehörde gegen seinen Willen in Sicherungshaft befand, und dass seitens des Bundesamtes auf den Rückbrief zunächst nichts weiter unternommen wurde, um den Bescheid (an der zutreffenden Anschrift) zuzustellen.

Allerdings stand der Asylantrag einer Fortdauer der Haft im vorliegenden Fall über den Zeitraum von vier Wochen hinaus deshalb nicht entgegen, weil innerhalb von 4 Wochen ein Wiederaufnahmeersuchen an Frankreich gerichtet worden ist. Dieses Ersuchen ist am 3. September 2008 jedoch abgelehnt worden. Eine Begrenzung der Wirkung der rechtzeitigen Einleitung des Verfahrens nach der VO (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II-VO) ist in der Vorschrift des § 14 AsylVfG bei der Neufassung zwar nicht geregelt worden, sie ergibt sich aber nach Auffassung des Senats zumindest bei einer Fallkonstellation wie der vorliegenden durch die angesichts der Bedeutung des Freiheitsgrundrechts gebotene einschränkende Auslegung. Mit der Neuregelung sollte verhindert werden, dass der Ausländer, der um Asyl nachsucht, während er sich in öffentlichem Gewahrsam befindet, wegen des dann ausgelösten Bleiberechts entlassen werden muss und vor der Übernahme durch den anderen Staat untertauchen kann(vgl. Begründung des Entwurfs der Bundesregierung, Bt-Drucksache 16/5065 S. 215); die Anwendung hängt aber nicht vom Nachweis einer Missbrauchsabsicht ab, diese wird vielmehr generell ohne Möglichkeit der Widerlegung unterstellt; die danach im Hinblick auf die Vorgaben der Verfassung notwendige Begrenzung des Anwendungsbereichs sollte durch eine abschließende Aufzählung der Gewahrsamsarten und strikte Befristung erreicht werden (vgl. Oberlandesgericht Brandenburg, B. v. B. 11. 07, 11 Wx 50/07, zitiert nach juris), wobei der Gesetzgeber aber nicht bedacht hat, dass durch die Neuregelung auch im Fall der Ablehnung durch den anderen Staat die Befristung entfallen ist, obwohl der mit ihr verfolgte Zweck nicht mehr erreicht werden kann. Lehnt der andere Staat die Übernahme ab, ist eine weitere Aufrechterhaltung der Sicherungshaft über vier Wochen hinaus nicht mehr durch diesen Zweck gedeckt. Nach Melchior (Melchior, Abschiebungshaft, online-Kommentar, 08/2007 Nr. 423) müsste eine sachgerechte Auslegung dazu führen, dass die 4-Wochen-Frist spätestens dann neu zu laufen beginnt, sobald der ersuchte Staat die Übernahme ablehnt. Für diesen Vorschlag spricht, dass der Gesetzgeber ausweislich der zitierten Materialien offenbar davon ausgegangen ist, dass das Bundesamt bei Einleitung eines Übernahmeverfahrens nicht innerhalb der 4-Wochen-Frist selbst entscheidet, da die Entscheidung des Bundesamtes nach § 27 a AsylVfG erst getroffen werden könne, wenn der andere Staat seine Zuständigkeit anerkannt hat. Ob der Auffassung von Melchior zu folgen ist, wenn sich die Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag im Hinblick auf laufende Bemühungen im sog. Dublin-Verfahren verzögert hat, etwa weil nach den Umständen begründet die Zuständigkeit des Mitgliedstaates angenommen wird, über dessen Grenzen der Asylsuchende illegal eingereist ist, und deshalb eine eigene Entscheidung zunächst unterbleibt, braucht nicht entschieden zu werden. Denn im vorliegenden Fall hat das Bundesamt mit der Entscheidung nicht zugewartet, sondern alsbald eine Entscheidung dahingehend getroffen, dass der Antrag offensichtlich unbegründet ist, die lediglich wegen fehlender Zustellung nicht vor Ablauf der 4-Wochen-Frist wirksam geworden ist, so dass die auf die rechtzeitige Bescheidung als offenbar unbegründet gestützte Alternative einer Ausnahme von der strikten Fristenregelung nicht eingreift. Mit der Ablehnung der Übernahme durch Frankreich war der Verbleib in der Haft zwecks Sicherstellung der Überstellung nicht mehr erforderlich, so dass die weitere Haft bei noch anhängigem Asylverfahren hier zumindest unverhältnismäßig war.

Da die sofortige weitere Beschwerde bereits nach den obigen Ausführungen vollen Umfangs begründet ist, kann dahin stehen, ob die Haftanordnung auch aus anderen Gründen rechtswidrig war. Entgegen der Auffassung des Betroffenen dürfte die Sicherungshaft hier allerdings nicht nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG unzulässig gewesen sein. Denn es steht nicht fest, dass er die nach eigenen Angaben durch die von ihm benutzte Schlepperorganisation verursachte Passlosigkeit nicht zu vertreten hatte; auch ist er durch Verweigerung der Unterzeichnung des Antrags auf Erteilung eines Passersatzpapiers seiner Mitwirkungspflicht an dessen Erlangung nicht hinreichend nachgekommen. Unter diesen Umständen konnte das Landgericht ohne Rechtsverstoß den Schluss ziehen, dass die pflichtwidrige (vgl. § 3 Abs. 1 AufenthG) Passlosigkeit in Verbindung mit der fehlenden Mitwirkung des Betroffenen an der Beschaffung von Passersatzpapieren, zu der er gemäß § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG aber verpflichtet gewesen wäre, eine wesentliche Ursache für die eingetretenen Verzögerungen darstellt. [...]