OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 25.03.2009 - 11 ME 178/09 - asyl.net: M15381
https://www.asyl.net/rsdb/M15381
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Schutz von Ehe und Familie, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Ehegatte, Ehefrau, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Depression, Suizidgefahr, Somatierungsstörung, Retraumatisierung, Ausweisung, versuchter Totschlag
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 6
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes ist zulässig und begründet. Sein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO, die Abschiebung vorläufig auszusetzen, hat Erfolg. Der Antragsteller hat den erforderlichen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht.

Nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. [...]

Rechtlich unmöglich kann eine Abschiebung insbesondere sein, wenn ihr der Schutz. der ehelichen Lebensgemeinschaft nach Art. 6 GG durchgreifend entgegensteht. [...]

Hinsichtlich der familiären Bindungen steht für den Antragsteller die gesundheitliche Situation seiner Ehefrau im Vordergrund. Mit Beschluss vom 26.7.2007 - 11 LB 398/05 - hat der Senat festgestellt, dass insoweit ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG besteht. Bereits das dieser Entscheidung zugrunde liegende medizinische Sachverständigengutachten von Prof. Dr. Machleidt stellt fest, dass bei der Ehefrau des Antragstellers - im Fall der Rückführung in die Türkei - auf dem Boden der Grunderkrankung einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer Depression mit chronischer Suizidalität und Angstsymptomen sowie einer Somatisierungsstörung durch die Konfrontation mit wesentlichen krankheitsreaktivierenden Hinweisreizen mit hoher Wahrscheinlichkeit im Rechtssinne eine Retraumatisierung verbunden mit einer akuten Suizidalität zu prognostizieren sei, die eine wesentliche oder lebensbedrohende Gesundheitsverschlechterung darstelle (S. 10 der Entscheidungsgründe). Der progressive Verlauf dieser schweren und chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung ist nach den Feststellungen des Sachverständigen von zusätzlichen psychotischen Symptomen und einer erhöhten Akuität suizidaler Impulse geprägt, wobei unter psychopathologischen Gesichtspunkten diese negative Art des Krankheitsverlaufs vom höchsten Grad der Vulnerabilität und Reaktualisierung akuter Zustände bedroht und mit der schlechtesten Prognose hinsichtlich eintretender negativer Erlebnisereignisse verbunden ist. Im Vorfeld von Abschiebungsandrohungen sind danach mehrere stationäre Aufenthalte in einer psychiätrischen Klinik erforderlich geworden, bei denen akute psychote Symptome und eine hochgradige Suizidalität festgestellt wurden. Diese chronische, in ihrer Akuität wechselnd ausgeprägte Suizidalität exazerbiert nach den Feststellungen von Prof. Dr. Machleidt im Zusammenhang mit Abschiebungsandrohungen, wobei Verlustängste, die sich auf ihren Mann und ihre Kinder beziehen, am höchsten einzustufen sind.

Unter Einbeziehung dieses Gutachtens stellt die vom Antragsteller beigebrachte fachärztliche Stellungnahme vom 11.11.2008 aufgrund erneuter Exploration und Untersuchung hinsichtlich der Frage, weiche Auswirkungen eine Abschiebung des Antragstellers auf den Gesundheitszustand der Ehefrau hätte, fest, für diese bestünde in diesem Fall mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine konkrete schwere Gesundheitsgefahr. Insoweit wird eine hochrisikobehaftete Selbsttötungsgefahr bejaht. Für den Fall, dass diese durch geschlossene Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus abgewendet werde, hätte dies nach fachärztlicher Feststellung eine dann unumkehrbar werdende schwere Persönlichkeitsänderung von bleibenden Krankheitswert ohne Aussicht auf Genesung zur Folge.

Mit seinen nachvollziehbären und in sich widerspruchsfreien Feststellungen und Bewertungen präzisiert der Facharzt damit unter dem Gesichtspunkt einer Abschiebung des Antragstellers die früheren, zu einer möglichen Abschiebung der Ehefrau getroffenen gutachtlichen Feststellungen. Die fachärztliche Stellungnahme steht - soweit für den Senat erkennbar - in keinem Widerspruch zu der Einschätzung von Prof. Dr. Machleidt, sondern stellt deren organische und stimmige Fortentwicklung dar. [...]

Nach alledem spricht Überwiegendes derzeit dafür, dass eine existenzbedrohende Beeinträchtigung von Leben und Gesundheit der Ehefrau des Antragstellers zu befürchten ist, falls der Antragsteller in die Türkei abgeschoben werden sollte. Diese gewichtigen Belange sind auch im Rahmen des nach Art. 6 GG gebotenen Schutzes der ehelichen Lebensgemeinschaft zugunsten des Antragstellers zu berücksichtigen. Dahinter hat das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung des Antragstellers zumindest vorläufig zurück zu stehen. Dies gilt umso mehr, weil sich bislang nicht verlässlich feststellen lässt, welche Gefahr von dem Antragsteller nach seiner Entlassung aus der Strafhaft ausgehen könnte. Insbesondere fehlt es an einer hinreichenden Erkenntnisgrundlage bezüglich der Gesamtpersönlichkeit des Antragstellers und einer tragfähigen Einschätzung einer Wiederholungsgefahr unter Einbeziehung seiner Resozialisierungschancen. Die Strafvollstreckungskammer hat ein Prognosegutachten über den Antragsteller in Auftrag gegeben, das im Hauptsacheverfahren gewürdigt werden kann. Die Beteiligten werden die Möglichkeit haben, sich damit ggf. auch unter Einholung weiterer gutachtlicher Stellungnahmen auseinander zu setzen. [...]