VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, 0 vom 22.04.2009 - 1 L 775/09.GI.A - asyl.net: M15493
https://www.asyl.net/rsdb/M15493
Leitsatz:

Aussetzung der Dublin-Überstellung nach Griechenland wegen schwerer Mängel des dortigen Asylsystems; allein die Durchführung einer Anhörung stellt keine Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin II-Verordnung dar.

Schlagwörter: Griechenland, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, vorbeugender Rechtsschutz, Abschiebungsanordnung, unzulässiger Asylantrag, Drittstaatenregelung, normative Vergewisserung, Verordnung Dublin II, Verfahrensrichtlinie, Aufnahmebedingungen, Anerkennungsrichtlinie, Dolmetscher, Asylverfahren, Wohnraum, medizinische Versorgung, Schulbesuch, Misshandlungen, Küstenwache, Anhörung, Selbsteintrittsrecht
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AsylVfG § 34a Abs. 1; AsylVfG § 34a Abs. 2; GG Art. 16a Abs. 2; EG VO Nr. 343/2003 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Antrag ist zulässig. Er ist gemäß § 123 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - statthaft, weil ein vorrangiger Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht in Betracht kommt (§ 123 Abs. 5 VwGO). Ein Verwaltungsakt, gegen den ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann und dessen aufschiebende Wirkung vom Gericht angeordnet werden könnte, liegt bislang nicht vor. Der Bescheid, in dem die Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland angeordnet wird, liegt zur Zeit nur in einer Entwurfsfassung vor (Bescheidentwurf vom 24.03.2009; vgl. Schreiben des Bundesamtes an den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vom 30.03.2009). Jedenfalls fehlt es ausweislich der vorliegenden Behördenakte des Bundesamtes an der für die Wirksamkeit erforderlichen Zustellung (§ 43 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz - VwVfG -, § 31 Abs. 1 Satz 2 Asylverfahrensgesetz - AsylVfG -).

Dem Antragsteller kann auch nicht zugemutet werden, erst die Zustellung des Bescheids abzuwarten, weil angesichts der Regelungen in § 34a AsylVfG die Erlangung effektiven Rechtsschutzes vor Durchführung der Abschiebung dann wahrscheinlich nicht mehr rechtzeitig möglich wäre; vielmehr könnte die zuständige Behörde unmittelbar die Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland anordnen. Dass dies auch vorliegend geplant ist, lässt sich der Behördenakte des Bundesamtes entnehmen (vgl. Vermerk des Sachbearbeiters vom 16.03.2009, Bl. 100 der Bundesamtsakte).

Der Zulässigkeit des Antrags steht § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Hiernach darf die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat, der - wie hier - auf dem Wege des § 27 a AsylVfG ermittelt worden ist, zwar nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden; in verfassungskonformer Auslegung dieses Ausschlusses vorläufigen Rechtsschutzes kommt die vorläufige Untersagung der Abschiebung nach § 123 VwGO jedoch dann in Betracht, wenn eine die konkrete Schutzgewährung nach § 60 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - in Zweifel ziehende Sachlage im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gegeben ist.

Bereits in seinem Urteil vom 14.05.1996 hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass die Ausschlussregelung des § 34a Abs. 2 AsylVfG nur bei sinnentsprechender restriktiver Auslegung mit Art. 16a Abs. 2 Satz 3 Grundgesetz - GG - in Einklang steht. Aufgrund des mit Art. 16a Abs. 2 GG verfolgten Konzepts normativer Vergewisserung könne sich der Ausländer daher nicht mit Erfolg darauf berufen, dass in seinem Einzelfall die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention - GF - und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht erfüllt würden. Eine Prüfung, ob der Zurückweisung oder sofortigen Rückverbringung in den Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstünden, könne der Ausländer nur erreichen, wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdränge, dass er von einem der im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen sei (BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93 u.a., BVerfGE 94, 49).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Der Antragsteller hat durch seinen umfangreichen Vortrag einen Sonderfall in diesem Sinne glaubhaft gemacht, so dass vorliegend § 34a Abs. 2 AsylVfG dem Erfolg des Begehrens des Antragstellers nicht entgegensteht.

Der mit der Bestimmung zum sicheren Drittstaat gemäß Art. 16a Abs. 2 GG einhergehende Ausschluss des Eilrechtsschutzes erfordert, dass in dem jeweiligen Drittstaat die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskommission, - GFK - vom 28. Juli 1951 (BGBl 1953 II S. 560) und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 953) sichergestellt ist. Diese Voraussetzung ist für Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union in Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG ausdrücklich normiert, gilt aber aufgrund der gebotenen Wertungsgleichheit entsprechend auch für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Für Letztere sind die aus den genannten Regelungen folgenden Verpflichtungen zudem unter anderem in der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 01.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft und in der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten konkretisiert worden.

Die feststellbare Verletzung von Kernanforderungen des vorgenannten europäischen Rechts, die mit einer Gefährdung des Betroffenen insbesondere in seinem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einhergeht, ist ein Sonderfall im Sinne der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Eilrechtsschutz bleibt in diesen Ausnahmefällen möglich und zulässig (vgl. auch VG Düsseldorf, Beschluss vom 06.11.2008 - 13 L 1645/08.A -; VG Weimar, Beschluss vom 24.07.2008 - 5 E 20094/08.We -; VG Karlsruhe, Beschluss vom 23.06.2008 - A 3 K 1412/08 -; VG Schleswig, Beschluss vom 16.06.2008 - 6 B 18/08 -; VG Gießen, Beschluss vom 25.04.2008 - 2 L 201/08.GI.A -; VG Frankfurt/Main, Beschluss vom 11.01.2008 - 7 G 3911/97.A -).

Diese Voraussetzungen liegen vor. Der Antragsteller hat einen Sonderfall in diesem Sinne glaubhaft gemacht, so dass der Antrag entgegen § 34a Abs. 2 AsylVfG zulässig ist.

Der Antrag ist auch begründet. [...]

Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht und im Einzelnen dargelegt, ohne dass die Antragsgegnerin dem bislang inhaltlich widersprochen hätte, dass ihm im Falle der Abschiebung nach Griechenland dort ein menschenrechtswidriges und europäisches Recht verletzendes Verfahren droht und ihm dort kein asylrechtliches Prüfungsverfahren offen steht, welches die Mindestnormen der Richtlinien 2005/85/EG vom 01.12.2005 sowie 2003/9/EG vom 27.01.2003 einhält.

Ausweislich der vom Antragsteller angegebenen Erkenntnisquellen sowie diesen und weiteren dem Gericht vorliegenden Dokumente entspricht das Asylverfahren in Griechenland gegenwärtig nicht den zitierten Kernanforderungen.

Im Einzelnen:

Die drei EU-Asylrichtlinien wurden nicht in die Praxis umgesetzt. Weder die Richtlinie über die Aufnahmebedingungen noch die Richtlinien über die Anerkennungsvoraussetzungen für den Flüchtlingsschutz oder über das Asylverfahren finden Anwendung (vgl. Pro Asyl, Bericht vom 19.02.2009 "Zur aktuellen Situation von Asylsuchenden in Griechenland"). Vielmehr ist Griechenland als eines der Südosteuropäischen Länder mit Zugang zum Mittelmeer bereits seit Jahren einem steigenden Flüchtlingsstrom ausgesetzt, dem es eigenem Bekunden zufolge nicht gewachsen ist (vgl. nur Deutsche Welle vom 13.02.2009 <Rundfunkmeldung> "Die willkürliche Auslese - Griechenlands schikanöse Asylpolitik"; Frankfurter Rundschau vom 06.08.2008 "Täglich neue Flüchtlinge. Griechenland ist mit den Hilfesuchenden überfordert und fordert EU zum Handeln auf"; Frankfurter Rundschau vom 10.04.2008 "Null Chance auf Asyl in Griechenland. Flüchtlinge haben äußerst schlechte Karten - Hilfswerke fordern Abschiebestopp aus anderen EU-Staaten nach Athen"; NZZ vom 19.04.2008 "Die EU tut sich schwer mit der Asylpolitik. Griechenland in der Schusslinie - Symptom einer Systemkrise"). Diese Überforderung des Landes führt dazu, dass tausende Flüchtlinge überhaupt nicht als Asylsuchende registriert werden; lediglich einmal in der Woche können in Athen bei dem zuständigen Ausländerpolizeidirektorat Anträge auf Asyl gestellt beziehungsweise hierfür Termine in Empfang genommen werden. Zwischen 2000 und 3000 Menschen stellen sich hier an, die teilweise schon in der Nacht vorher vor Ort unter harten Bedingungen warten. Aufgrund der begrenzten Kapazitäten werden jedoch maximal 350 bis 400 Personen wöchentlich überhaupt zur Behörde vorgelassen. Die Auswahlkriterien hierbei sind undurchschaubar. Die schwierige Situation in der Warteschlange führt zu Spannungen und offensichtliche Härten für besonders schutzbedürftige Personen. Zuletzt kam es sogar zu zwei Todesfällen und einer schweren Verletzung (zu alledem: UNHCR an Verwaltungsgericht Hamburg vom 27.02.2009; Deutsche Welle, Rundfunkmeldung vom 13.02.2009, siehe oben; Pro Asyl, Bericht vom 19.02.2009, siehe oben; Schweizerisches Bundesamt für Migration, Bericht vom 05.01.2009, Ländermonitor 2009, Nr. 1). Während der übrigen Zeit bleibt den mit ihrem Anliegen erfolglosen Flüchtlingen häufig nur der Weg in die Obdachlosigkeit, weil nur mit einer Registrierung als Flüchtling wiederum die Anmeldung bei entsprechenden Aufnahmeeinrichtungen und die Inanspruchnahme von sonstigen Leistungen möglich ist; solange kein abgestempelter Antrag vorgewiesen werden kann, ist man illegal. Wird man von der Polizei kontrolliert, droht zudem Inhaftierung. Die Unterbringungen in Haft finden zu überwiegend menschenunwürdigen Bedingungen statt. Selbst unbegleitete Minderjährige müssen zum Teil ihr Dasein in Parks fristen oder Inhaftierung befürchten (vgl. UNHCR an RA Fränkel vom 17.04.2009; UNHCR an VG Hamburg vom 27.02.2009; Pro Asyl, Bericht vom 19.02.2009, siehe oben; Schweizerisches Bundesamt für Migration vom 05.01.2009, siehe oben; Deutsche Welle vom 13.02.2009, siehe oben; Frankfurter Rundschau vom 06.08.2008, siehe oben).

Bei den aufgrund der Dublin-Abkommen zurückgeschobenen Flüchtlingen aus anderen EU-Ländern sieht die Lage kaum besser aus. Die Anhörungen werden überwiegend ohne Dolmetscher durchgeführt. Wenn überhaupt, so wird eine "sprachkundige Person" (Zitat aus dem Schreiben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge an das VG Frankfurt/Main vom 05.01.2009) hinzugezogen, bei der es sich jedoch um einen arabisch sprechenden Menschen am anderen Ende einer Telefonleitung für einen irakischen Flüchtling oder eine wenige Brocken Englisch beherrschende Person für einen Iranerin handeln kann. Auch finden die Befragungen nicht in vertraulicher Atmosphäre, sondern in der Nähe anderer Flüchtlinge statt (Pro Asyl, Bericht vom 19.02.2009, siehe oben). Zwar existiert ein UNHCR-Faltblatt in den fünf Sprachen arabisch, türkisch, persisch, englisch und französisch, das aber nach den Ergebnissen einer Untersuchung von Human Rights Watch meist nicht an die Flüchtlinge verteilt wird; dasselbe berichten amnesty international und das Ecumenical Refugee Program (vgl. Pro Asyl, Bericht vom 19.02.2009, siehe oben). Teilweise müssen auch die überstellten Dublin-Fälle sich bei der Behörde in Athen melden und sich dort binnen 5 Tagen registrieren lassen (Stellungnahme des Bundesministeriums des Innern an Petitionsausschuss vom 13.01.2009; auch Bundesamt an VG Frankfurt/Main vom 05.01.2009; vgl. zudem Pro Asyl, Bericht vom 19.02.2009), was angesichts der oben beschriebenen dortigen Verhältnisse einem unmöglichen Unterfangen gleichkommt.

Zu all diesen äußerst bedenklichen äußeren Bedingungen des Asylverfahrens in Griechenland kommt die schlechte Qualität der Entscheidungen hinzu. Die Anerkennungsquote in der ersten Instanz liegt vernachlässigbar bei 0,03 %; in der Berufungsinstanz lag sie zuletzt zwar bei 11 %, diese Entscheidungen betrafen jedoch überwiegend irakische Christen, deren Asylanträge bereits seit Jahren anhängig waren (hierzu: UNHCR an RA Fränkel vom 17.04.2009 und an VG Hamburg vom 27.02.2009; Pro Asyl, Bericht vom 19.02.2009, siehe oben). Die Qualität der Anhörungen, die in Großraumbüros ohne Vertraulichkeit durchgeführt werden, lässt zu wünschen übrig; die angebliche durchschnittliche Dauer von 20 Minuten je Anhörung werde in Wahrheit meist deutlich unterschritten, berichten Anwälte. Die Entscheidungen selbst ließen eine Auseinandersetzung mit den Asylgründen häufig vermissen, es finde keine Auseinandersetzung mit den Fakten statt. Nach Auffassung einer Asylrechtsexpertin handele es sich bei der ersten Instanz um eine reine Registrierungsinstanz (Pro Asyl, Bericht vom 19.02.2009, siehe oben).

Schließlich sind auch die Bedingungen, unter denen die Flüchtlinge während der Dauer des Verfahrens leben müssen, nicht akzeptabel. Zur Zeit hat Griechenland keine Kapazitäten, eine größere Anzahl von Asylsuchenden in Aufnahmezentren aufzunehmen, die vom Staat oder von nichtstaatlichen Akteuren geleitetet werden. Es stehen nicht genügend Plätze zur Unterbringung aller Asylsuchenden, die eine solche benötigen, zur Verfügung. Die Chancen für neu ankommende Asylsuchende, eine Unterkunft bereitgestellt zu bekommen, die den Standards der Aufnahmerichtlinie entspreche, sind daher extrem beschränkt (UNHCR an VG Frankfurt/Main vom 10.01.2008).

Der Leiter des griechischen Büros des UN-Flüchtlingshochkommissariats hat bereits die Schließung eines restlos überfüllten Flüchtlingslagers (Unterbringung von mehr als 390 Personen statt vorgesehener 120) auf der griechischen Insel Samos gefordert. Männer, Frauen und Kinder schliefen auf dem Boden, überall gebe es Mäuse, die Toiletten liefen über und jederzeit könnten Krankheiten wie Cholera ausbrechen. Im Übrigen gebe es in den überfüllten Auffanglagern keineswegs ausreichende Rechtsberatung, auch an Übersetzern mangele es (Bericht der BZ vom 29.01.2008; der NZZ vom 5.10.2007; dpa-Bericht vom 17.10.2007). Laut Pro Asyl (Bericht vom Oktober 2007 "The truth may be bitter, but it must be told") hat sich bereits im Juni 2007 eine Delegation des Europaparlaments über das Lager in Samos entsetzt gezeigt: "Generell lassen sich die Bedingungen als schmutzig, erbärmlich und unmenschlich beschreiben." Weiter führt Pro Asyl aus, die meisten der im ganzen Land vorhandenen 740 Unterkunftsplätze verfügten nicht einmal über minimale Standards, auch sei der Zugang zu medizinischer Versorgung und Schulbildung nicht ausreichend gewährleistet. Als Folge des Mangels an Unterkünften und sozialer Versorgung blieben in Griechenland Asylsuchende auch während des laufenden Verfahrens vielfach obdachlos und ohne jede soziale Unterstützung. Das Athener Innenministerium hat eingeräumt, dass Griechenland nicht genug Auffanglager für die wachsende Zahl der Asylsuchenden hat (Frankfurter Rundschau vom 10.04.2008, siehe oben). Zudem berichteten Hilfsorganisationen von schweren Misshandlungen.

Diesbezüglich hat auch Pro Asyl in seinem Bericht vom Oktober 2007, in dem es Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, der griechischen Küstenwache schwere Misshandlungen von Flüchtlingen vorgeworfen. Bei Besuchen in drei Abschiebelagern in der Ägäis hätten zahlreiche Insassen von Schlägen berichtet, andere seien von der Küstenwache auf unbewohnten Inseln ausgesetzt oder auf offener See ihrem Schicksal überlassen worden. Ein Flüchtling habe von einer Scheinhinrichtung berichtet; zuvor sei er auf der Insel Chios gefoltert worden. Ferner berichtet Pro Asyl von Regelinhaftierungen - auch Minderjähriger. In der Haft sei es für die Insassen in der Regel nicht möglich, ihre Rechte wahrzunehmen. Sie würden nicht einmal über ihre Rechte informiert. Professionelle Dolmetscher gebe es nicht. Häufig werde den Inhaftierten tagelang der Hofgang verweigert. Auch bei der Entlassung würde die versäumte Information und Rechtshilfe nicht nachgeholt. Den Betroffenen werde ein Dokument in griechischer Sprache ausgehändigt, worin sie aufgefordert würden, das Land innerhalb von dreißig Tagen zu verlassen. Nach der Weiterreise nach Athen drohe häufig Obdachlosigkeit, und zwar auch dann, wenn Asylantrag gestellt werde. Zwar sollten Asylsuchende eine sog. "pink card" (Rosa Karte) ausgestellt bekommen, dies geschehe jedoch häufig mit einer erheblichen Zeitverzögerung von einem Monat (zu alledem: Pro Asyl, Presseerklärung vom 29.10.2007, "Griechenland: Flüchtlinge werden Opfer von Misshandlungen und Rechtlosigkeit").

Der UNHCR empfiehlt daher inzwischen und bis heute, dass Regierungen von der Rücküberstellung Asylsuchender nach Griechenland unter der Dublin II-Verordnung Abstand nehmen und vom Selbsteintrittsrecht des Artikel 3 Abs. 2 der Dublin II-Verordnung Gebrauch machen sollen (UNHCR-Positionspapier zur Überstellung von Asylsuchenden nach Griechenland vom 15.04.2008; zuletzt UNHCR an RA Fränkel vom 17.04.2009 und an VG Hamburg vom 27.02.2009, siehe oben).

Die Schilderungen des Antragstellers zu seinen Erfahrungen auf der Flucht und während seiner Zeit in Griechenland decken sich, dies sei nur am Rande angemerkt, in geradezu erschreckender und erschütternder Weise mit den oben dargestellten Erkenntnissen zu den dortigen Zuständen.

Diese Umstände führen nach Überzeugung des Gerichts dazu, dass von einem den Kernanforderungen des europäischen Flüchtlingsrechts entsprechenden Asylverfahren in Griechenland derzeit - trotz kleinerer Fortschritte und Verbesserungen (vgl. dazu UNHCR an VG Hamburg vom 27.02.2009) - keine Rede sein kann. Von den angeführten zahlreichen Defiziten in Verfahren, Unterbringung und Versorgung sind sämtliche Asylsuchende einschließlich jener aufgrund der Dublin-Vereinbarungen Rücküberstellten gleichermaßen betroffen.

Dem Antragsteller droht damit die konkrete Gefahr, im Falle der Abschiebung nach Griechenland, einem den verfassungsmäßigen Anforderungen nicht genügenden Asylverfahren ausgesetzt zu sein und damit der Schutzlosigkeit anheim zu fallen.

Insbesondere wäre die Erfüllung der Anforderungen hinsichtlich der Aufnahme bzw. Registrierung des Asylantrags gemäß Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2005/85/EG, der Erteilung von Informationen gemäß Art. 5 der Richtlinie 2003/9/EG und Art. 23 der Richtlinie 2005/85/EG, der Hinzuziehung eines Dolmetschers Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85/EG bzw. eines Rechtsbeistands gemäß Art. 15, 16 der Richtlinie 2005/85/EG und Art. 21 der Richtlinie 2003/9/EG, und insbesondere hinsichtlich der Unterbringung sowie medizinischen und sozialen Versorgung gemäß Art. 23 GFK und Art. 13 bis 15 der Richtlinie 2003/9/EG nicht hinreichend sicher gewährleistet. Wegen dieser Defizite besteht zudem die erhebliche Gefahr einer weiteren Abschiebung des Antragstellers ohne hinreichende sachliche Prüfung seines Schutzbegehrens (Kettenabschiebung).

Ob allerdings die Durchführung von zwei persönlichen Anhörungen durch die Antragsgegnerin als Ausübung des Selbsteintrittsrechts angesehen werden muss, bedarf im Rahmen des Eilverfahrens keiner Entscheidung. Dies und ggf. die Frage, ob dem Antragsteller ein Anspruch hierauf zusteht, bleibt der Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten. [...]