Die Überstellungsfrist des Art. 19 Abs. 4 der Dublin II-Verordnung wird durch den Stopp der Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat durch einstweilige Anordnung unterbrochen; die vom Bundesverfassungsgericht festgelegten Ausnahmen von der Drittstaatenregelung sind auf die Dublin II-Verordnung nicht anwendbar; erfüllt ein Mitgliedstaat nicht die europäischen Mindestnormen für das Asylrecht, kann daraus ein Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gem. Art. 3 Abs. 2 der Dublin II-Verordnung folgen (hier: Griechenland).
Anmerkung der Redaktion: Die Berufung gegen dieses Urteil wurde vom VGH Bayern mit Beschluss vom 10.2.2010 - 20 ZB 09.30102 [M17070] - zugelassen.
[...]
Die Klage ist begründet.
Der Bescheid des Bundesamts vom 28. Juli 2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Anordnung der Abschiebung war deshalb nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben. Auch Ziffer 1 des strittigen Bescheids war deshalb aufzuheben. Als Konsequenz war die Beklagte nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu verpflichten, das Asylverfahren fortzuführen. Infolge einer Ermessensreduzierung ist die Sache spruchreif.
Nach § 27 a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 27 a AsylVfG zuständigen Staat abgeschoben werden soll, ordnet das Bundesamt nach 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Die Voraussetzungen dieser Vorschriften sind an sich erfüllt. Es greift aber eine Ausnahme ein (siehe unten 2.).
a) Nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (Dublin II-VO) ist im vorliegenden Fall prinzipiell Griechenland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. [...]
b) Der Kläger kann sich nicht auf Fristen berufen, deren Ablauf die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland begründen könnte, wobei offen bleiben kann, ob die Fristbestimmungen überhaupt dem Schutz der Asylsuchenden zu dienen bestimmt sind und ihnen dementsprechend Rechte verleihen.
Nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO endet die Zuständigkeit nach Satz 1 zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts. Welches Ereignis für den Ablauf dieser Frist maßgeblich ist, wird nicht ausdrücklich geregelt. Im Gegensatz zu Art. 19 Abs. 4 Satz 1 bzw. Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) wird nicht an die Überstellung angeknüpft. Nach Ansicht der Kammer ist die Frist jedenfalls dann gewahrt, wenn innerhalb eines Jahres die Zuständigkeit zwischen den Mitgliedstaaten geklärt ist. So war es im vorliegenden Fall. Der Kläger wurde am 11. Juli 2007 in Griechenland aufgegriffen. Mit Schreiben vom 27. Mai 2008 erklärte sich das griechische Innenministerium zu seiner Übernahme bereit. [...]
Für die Aufnahme des Klägers gilt Art. 19 und nicht Art. 20 Dublin II-VO. Der Kläger hatte nämlich in Griechenland nicht Asyl beantragt. In der mündlichen Verhandlung hat er zwar angegeben, er habe bei der Polizei geäußert, dass er Asyl begehre. Es soll ein Syrer als Sprachmittler fungiert haben, der sich mit den Polizisten auf Englisch verständigt habe. Zu der Aufnahme eines Asylantrags ist es aber jedenfalls nicht gekommen. Das ergibt sich aus der Eurodac-Kennzahl (siehe Blatt 51 der Akte des Bundesamts.) Sie beginnt mit einer "2", wohingegen bei Asylbewerbern nach Art. 2 Abs. 3 Satz 5 der Verordnung (EG) Nr. 407/2002 die Kennzahl mit einer "1" beginnt. Der Kläger hat selbst nicht behauptet, dass er sich nach der Verbringung auf das griechische Festland um Asyl bemüht habe. Nach Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO erfolgt die Überstellung spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Wenn die Überstellung nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten durchgeführt wird, geht die Zuständigkeit nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. Im vorliegenden Fall ist die Frist zwar zunächst in Gang gesetzt worden. Sie wurde aber vor dem Ablauf von sechs Monaten unterbrochen, weil über den Rechtsbehelf noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist und mit Beschluss vom 12. August 2008 (4 E 08.30114) die Abschiebung des Klägers nach Griechenland vorläufig untersagt worden ist. Hierbei ist es unerheblich, dass nicht (nach § 80 Abs. 5 VwGO) die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs angeordnet worden ist, sondern eine einstweilige Anordnung (nach § 123 VwGO) ergangen ist. Die unübliche Form des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine Abschiebungsanordnung erklärt sich aus der Praxis der Beklagten, den betreffenden Bescheid erst unmittelbar vor dessen Vollzug bekanntzugeben. Die Wirkung der einstweiligen Anordnung ist hier gleich wie bei der Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs. In § 34 a Abs. 2 AsylVfG wird die Aussetzung der Abschiebung sowohl nach § 80 als auch nach § 123 VwGO ausgeschlossen. Der Europäische Gerichtshof (U. v. 29.01.2009, C-19/08 - "Petrosian" - Asylmagazin 3/2009, S. 29) hat geklärt, dass die Frist nicht schon ab der Entscheidung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, sondern erst ab der Entscheidung in der Hauptsache läuft. Im betreffenden Fall sah das nationale (schwedische) Recht die gerichtliche Aussetzung der Vollziehung vor. Die Kammer vermag der im Schrifttum (Hruschka, Asylmagazin 3/2009 S. 6)) vertretenen Auffassung, dass die Frist auch dann ab der Annahme laufen soll, wenn Gerichte einstwelligen Rechtsschutz gewähren, obwohl er nach dem nationalen Recht - wie nach § 34 a Abs. 2 AsylVfG - ausgeschlossen ist, nicht zu folgen. Wenn man nur am Wortlaut haften würde, könnte man Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO auch so interpretieren, dass die Frist nur bei einer gesetzlich angeordneten aufschiebenden Wirkung ab der Entscheidung über den Rechtsbehelf beginne. Wenn die Gerichte das nationale Recht so interpretieren, dass die aufschiebende Wirkung angeordnet werden kann, dann gilt das bei einer Verweisung auf das nationale Recht auch auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts.
2. Die Zuständigkeit der Beklagten für die Durchführung des Asylverfahrens ist ausnahmsweise gegeben.
a) Nach Auffassung der Kammer kann allerdings die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Drittstaatenregelung (U. v. 14.05.1996, 2 BvR 1938, 2315/93, BVerfGE 94, 49 = NVwZ 1996, 700) nicht unmittelbar herangezogen werden. Diese Rechtsprechung betrifft § 26 a AsylVfG, also sichere Drittstaaten im Sinne des Artikels 16 a Abs. 2 Satz 1 GG und stammt aus einer Zeit vor Erlass der Dublin II-VO. Zwar sind nach Art. 16 a Abs. 2 Satz 2 GG alle Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften sichere Drittstaaten. Im vorliegenden Fall ist aber § 27 a AsylVfG anwendbar. Hiernach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Die Dublin II-VO ist eine solche Rechtsvorschrift. Nach Art. 249 Abs. 2 EG hat eine Verordnung allgemeine Geltung, sie ist in allen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Eine Ausnahme von der Zuständigkeitsregelung muss zunächst im Gemeinschaftsrecht gesucht werden. Allerdings kann auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Interpretationshilfe herangezogen werden. Nach Art. 6 Abs. 2 EU achtet die Union die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.
b) Die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze zu Ausnahmen von der Drittstaatenregelung sind im Übrigen gar nicht einschlägig.
Nach dem Urteil vom 14. Mai 1996 (2 BvR 1936, 2315/93) hat die Bundesrepublik Deutschland Schutz zu gewähren, wenn Abschiebungshindernisse nach § 51 Abs. 1 oder § 53 AuslG durch Umstände begründet werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können und damit vor vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich selbst heraus gesetzt sind. [...]
Die Fallaufzählung wird in der Literatur (siehe Randelzhofer in Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art 16 a Rd.Nr, 69 mit Nachweisen) überwiegend als abschließend angesehen. Sie betrifft im Wesentlichen nur konkrete Gefahrenlagen, die in der Person des Asylsuchenden ihre Ursache haben. Im vorliegenden Fall geht es aber um eine allgemeine Gefahr. Es kommt deshalb nur die Variante in Betracht, dass sich die maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26a Abs. 3 AsylVfG hierauf noch aussteht. Nach dieser Vorschrift bestimmt die Bundesregierung ohne Zustimmung des Bundesrates, dass ein in Anlage I bezeichneter Staat nicht mehr als sicherer Drittstaat gilt, wenn Veränderungen in den rechtlichen oder politischen Verhältnissen die Annahme begründen, dass die in Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG bezeichneten Voraussetzungen entfallen sind. Die Anlage I betrifft aber nur noch Norwegen und die Schweiz, nicht dagegen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Dies bedeutet aber auch, dass im Blick auf EG-Staaten die Anwendung des § 26 a AsylVfG nicht durch Rechtsverordnung nach § 26 a Abs. 3 Satz 1 AsylVfG vorübergehend ausgeschlossen werden kann. Vielmehr kann nur der verfassungsändernde Gesetzgeber im Falle gravierender Veränderungen in den rechtlichen und politischen Verhältnissen in einem EG-Staat die gebotenen Konsequenzen ziehen (so Marx, Kommentar zum AsylVfG, 6. Aufl. 2005, Rd.Nr. 199 zu § 26 a).
c) Die Kammer hält die Beklagte auf Grund der gegenwärtigen Situation in Griechenland für verpflichtet, nach dem Gemeinschaftsrecht von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.
aa) Die Dublin II-VO sieht allerdings Ausnahmen von der Zuständigkeitsregelung (Kapitel IV, Art. 15, Humanitäre Klausel) nur in eng begrenzten Fällen vor. Nach Art. 15 Abs. 1 kann jeder Mitgliedstaat aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären und kulturellen Kontext ergeben, Familienmitglieder und andere abhängige Familienangehörige zusammenführen, auch wenn er dafür nach den Kriterien dieser Verordnung nicht zuständig ist (Satz 1). In diesem Fall prüft jener Mitgliedstaat auf Ersuchen eines anderen Mitgliedstaats den Asylantrag der betroffenen Person (Satz 2). Die betroffenen Personen müssen dem zustimmen (Satz 3). Nach Art. 15 Abs. 2 entscheiden die Mitgliedstaaten im Regelfall in Fällen, in denen die betroffene Person wegen Schwangerschaft, eines neugeborenen Kindes, einer schweren Krankheit, einer ernsthaften Behinderung oder hohen Alters auf die Unterstützung der anderen Person angewiesen ist, den Asylbewerber und den anderen Familienangehörigen, der sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, nicht zu trennen bzw. sie zusammenzuführen, sofern die familiäre Bindung bereits im Herkunftsland bestanden hat. Die humanitäre Klausel der Dublin II-VO greift im vorliegenden Fall nicht.
Der Verordnungsgeber hat an den Fall, dass in einem Mitgliedstaat der Schutzstandard - wenn auch nur vorübergehend - absinkt, offenbar nicht gedacht. Die Europäische Kommission hat nun einen Vorschlag vom 3. Dezember 2008, KOM (2008) 820, für eine Änderung der Dublin II-VO vorgelegt, der für diesen Fall folgende Regelung vorsieht: [...]
Diese Regelung ist als Schutzvorschrift zugunsten überlasteter Mitgliedstaaten konzipiert und nicht als Norm, die dem Asylbewerber Rechte verleihen soll. Der Entwurf zeigt jedenfalls, dass die Grundlage des Dublin II-Systems, nämlich dass alle Mitgliedstaaten einen den Mindeststandards entsprechenden Schutz gewähren (können), nicht immer der Realität entspricht.
bb) Die Kammer leitet einen Anspruch des Klägers auf Selbsteintritt aus Art. 3 Abs. 2 Satz Dublin II-VO ab, wonach jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen kann, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Aus dem Wortlaut der Norm folgt ein solcher Anspruch freilich noch nicht. Es besteht ein Ermessen, für dessen Ausübung die Vorschrift keine Anhaltspunkte gibt.
Die meisten Entscheidungen zu den "Griechenland-Fällen" sind im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangen. Das Verwaltungsgericht Gießen hat im Beschluss vom 25. April 2008 (Asylmagazin 5/2008, S. 11 und juris), an dem sich überwiegend die stattgebenden Sofortbeschlüsse anderer Verwaltungsgerichte orientiert haben (siehe auch den Beschluss der Kammer vom 12.08.2008, W 4 E 08.30114), ein subjektives Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über einen Selbsteintritt angenommen (siehe auch Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, § 27 a, RdNr, 223, Marx, AsylVfG, § 29, RdNr. 51). Allerdings hat das VG Gießen eine Ermessensreduzierung verneint, weil die Möglichkeit eingeräumt werden müsse, entsprechend den Empfehlungen des UNHCR, entsprechende Garantien einzuholen. So wurde die einstweilige Anordnung auch nur auf sechs Monate befristet. In den wenigen der Kammer bekannt gewordenen Hauptsacheentscheidungen (VG Augsburg, U. v. 06.05.2008, Au 5 K 08.30051; VG München, U. v. 30.05.2008, M 10 K 07.51049; VG Ansbach, U. v. 18.07.2008, AN 19 K 08.30206; VG Saarland, U. v. 24.09.2008, 2 K 94/08 - jeweils juris) wurde ein Anspruch auf Selbsteintritt verneint. Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz hat jedoch mit Beschluss vom 10. Dezember 2008 (InfAuslR 2009, 130), die Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 9. Juli 2008 zugelassen, weil es grundsätzlich klärungsbedürftig sei, ob die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die Behandlung von nach Griechenland überstellten Ausländern nicht ein Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO und damit ausnahmsweise die von einem Ausländer einklagbare Verpflichtung habe, dessen in Deutschland eingereichten Asylantrag zu prüfen.
Im vorliegenden Fall kommt eine Ermessensreduzierung in Hinblick auf den sich aus Art. 3 Abs. 1 GG ergebenden Grundsatz der Gleichbehandlung und eine bestimmte Selbsteintrittspraxis der Beklagten (siehe hierzu B. der Kammer v. 07.11.2008, Asylmagazin 3/2009, S. 34 - Verlust einer Niere und Traumatisierung durch Bombenanschlag -) nicht in Betracht. Es ist nicht ersichtlich, dass eine Überstellung nach Griechenland gerade für den Kläger im Vergleich zu anderen Asylsuchenden eine besondere Härte darstellen würde.
Die Kammer geht für den Rechtsschutz eines Asylsuchenden im Fall eines - wenn auch nur vorübergehenden - Absinkens des allgemeinen Schutzstandards in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft von einer nicht beabsichtigten Lücke im Dublin II-System aus. Die Lösung ist im Gemeinschaftsrecht zu suchen. Es kommt also darauf an, ob in dem an sich zuständigen Mitgliedstaat die sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden Standards eingehalten werden. Hierbei braucht nicht auf das primäre Gemeinschaftsrecht zurückgegriffen zu werden, denn mittlerweile ist das Asylrecht durch sekundäres Gemeinschaftsrecht weitgehend harmonisiert worden. Es handelt sich um die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 über die Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (Aufnahme-RL), die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1 Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (Verfahrens-RL) und die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtling oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikations-RL). Wie sich aus den Überschriften ergibt, stellen diese Richtlinien Mindestanforderungen auf.
Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts dürfe die Ablehnung subjektiver Rechte aus Rechtsvorschriften weniger strengen Anforderungen unterliegen als nach nationalem deutschen Recht (so Dolk in der Beilage zum Asylmagazin 1-2/2008 - Das Dublin-Verfahren - S. 16).
cc) Die Kammer ist zu der Überzeugung gekommen, dass die gegenwärtige Asylpraxis in Griechenland den Mindeststandards in wesentlichen Punkten nicht entspricht. Sie stützt sich hierbei insbesondere auf folgende Erkenntnisquellen:
- UNHCR, Positionspapier zur Überstellung von Asylsuchenden nach Griechenland nach der Dublin Verordnung vom 15. April 2008;
- Schreiben des Stellvertretenden Bürgerbeauftragten (Andreas Takis) an das griechische Innenministerium vom 27. Oktober 2008;
- UNHCR, Ergänzende Informationen zur Situation des Asylverfahrens in Griechenland vom 1. Dezember 2008;
- UNHCR, Stellungnahme vom 29. Januar 2009 (gerichtet an den Klägerbevollmächtigten, welche nach den Angaben des UNHCR-Vertreters in der mündlichen Verhandlung den allgemeinen Standpunkt wiedergebe);
- Human Rights Watch (HRW) "Stuck in a Revolving Door ("In einer Drehtür eingeklemmt"), XIV (Seeking Access to Asylum in Greece) und XVII (Dublin Returns) von November 2008 (in Englisch);
- Council of Europe Commissioner for Human Rights (Menschenrechtskommissar des Europarats Thomas Hammarberg), Bericht vom 4. Februar 2009 (in Englisch);
- PRO ASYL, Stellungnahme zur aktuellen Situation von Asylsuchenden in Griechenland vom l9. Februar 2009.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Entscheidung vom 2. Dezember 2008 (Nr. 32733/08), welche einen "Dublin II-Fall" betraf, ernsthafte Bedenken zur Situation Asylsuchender in Griechenland durchblicken lassen. Der Gerichtshof hat jedoch die Asylpraxis in Griechenland nicht abschließend gewürdigt, weil eine sofortige Abschiebung in das Herkunftsland aus Griechenland nicht drohe und es dem Betroffenen offenstehe, nach der Überstellung eine Menschenrechtsbeschwerde gegen den griechischen Staat zu erheben.
Die Kammer hat zwar keine Erkenntnisse über die Abschiebung irakischer Asylbewerber in den Irak aus Griechenland. Offenbar werden von dort auch unanfechtbar abgelehnte Asylbewerber derzeit nicht in den Irak abgeschoben. Eine Verletzung des "Refoulement-Verbots" droht also nicht unmittelbar. Auch sieht sich die Kammer weder dazu berufen noch in der Lage, die Qualität griechischer Asylentscheidungen zu würdigen. Es kann aber unterstellt werden, dass die erste Verwaltungsinstanz (Polizei) die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an die Prüfung eines Asylgesuchs in der Praxis nicht zu erfüllen vermag, weil nach den obigen Berichten die Zuziehung qualifizierter Dolmetscher (siehe Art. 10 Abs. 1 Buchst. a) u. b) Verfahrens-RL) in diesem Verfahrensstadium nicht gesichert ist. Als zweite Verwaltungsinstanz fungiert aber eine aus sechs Personen bestehende unabhängige Kommission, die nach dem Präsidialerlass 90/2003 vom 11. Juli 2008 - im Gegensatz zu früher - nicht nur beratende Funktion hat, sondern selbst entscheidet (siehe Hammarberg, Rd.Nrn. 27 u. 28, Bericht des BMI an den Deutschen Bundestag v. 13.01.2009). Dieser Kommission gehören auch ein Rechtsanwalt und ein Vertreter des UNHCR an. Die im UNHCR-Bericht vom 15. April 2008 angemahnte Umsetzung von EG-Richtlinien ist mittlerweile erfolgt. Die Verfahrens-RL wurde mit Präsidialerlass 90/2008, die Qualifikations-RL mit Präsidialerlass 96/2008 vom 30. Juli 2008 umgesetzt (UNHCR v. 01.12.2008). Hierdurch hat sich die von der Europäischen Kommission nach Art. 226 EG erhobene Vertragsverletzungsklage C-220/03 erledigt. Mit dem Dekret vom 11. Juli 2008 wurde auch die von der Kommission und vom UNHCR (Bericht v.15.04.2008, Nr. 9) beanstandete Regelung geändert (HRW Punkt V S. 25), wonach das Asylverfahren zu Lasten der "Dublin-Rückkehrer" wegen Verlassens des Landes als "abgebrochen" behandelt wurde. Auf der Ebene der Normsetzung sind also die Beanstandungen grundsätzlich behoben. Gleichwohl bestehen nach den obigen Berichten noch in der Praxis Defizite, weiche zwar die Abschiebung in den Irak nicht wahrscheinlich machen, "Dublin-Rückkehrer" aber in die Illegalität zu drängen drohen.
Der UNHCR hat im Bericht vom 15. April 2008 (Nr. 8) mitgeteilt, dass Asylbewerber, die keine Adresse angeben können, über den Stand des Asylverfahrens durch öffentliche Bekanntmachung informiert werden. Dies führt zu einem ernsten Rechtsschutzdefizit. Nach Art. 39 Verfahrens-RL besteht ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Griechenland ist bei der Unterbringung von Asylsuchenden derzeit überfordert. Es hat die Aufnahme-RL erst nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. April 2007 (C-72/06), mit dem eine Vertragsverletzung festgestellt wurde, mit Präsidialerlass 220/2007 vom 13. November umgesetzt (UNHCR v. 15.04.2008, Nr. 19). Die Asylanträge sind in Griechenland von 4.469 im Jahre 2004 auf 25.113 im Jahre 2007 angestiegen. Die Zahl der irregulären Grenzübertritte wurde für das Jahr 2008 auf bis zu 150.000 geschätzt (Hammarberg, Rd.Nr. 7). Nach den vorliegenden Berichten können die sich aus Art 13 und 14 ergebenden Anforderungen an die Unterbringung in der Praxis derzeit nicht erfüllt werden. Wenn die griechische Seite vorträgt, dass für einen Überstellten, der über keine Kontakte zu Freunden und Verwandten verfüge, eine Unterkunft in einer Aufnahmeeinrichtung bzw. in Hotels oder Mietwohnungen gesucht werde (BMI v. 13.01.2009), zeigt schon die Wortwahl, dass eine vom Staat organisierte Unterbringung nicht gesichert ist. Am 10. März 2009 wurde auch die parallele Streitsache W 4 K 08.30198 verhandelt. Der Kläger in der Parallelsache ist zusammen mit dem Kläger des vorliegenden Verfahrens nach Griechenland eingereist. Er wurde mittlerweile nach Griechenland überstellt und hat von dort über seine Situation berichtet. Natürlich können solche Schilderungen nicht unbesehen übernommen werden, denn der Betroffene wird bemüht sein, die Situation ungünstig darzustellen. Hinzu kommt, dass beide Kläger nachweislich schon unwahre Angaben gemacht haben Sie haben bei den Anhörungen in Deutschland den Aufenthalt in Griechenland verschwiegen und hatten sich in Griechenland zunächst mit falschen Namen als Libyer ausgegeben. Gleichwohl kann die Behandlung des anderen Klägers als "Referenzfall" herangezogen werden. Wie der Klägerbevollmächtigte, der beide Asylsuchenden vertritt, durch Vorlage einer der "rosa Karte" (über die Erfassung als Asylbewerber) nachgewiesen hat, ist in dem Dokument "ohne festen Wohnsitz" vermerkt. Nach den vorliegenden Berichten (siehe insbesondere HRW, Surviving in Greece; Hammarberg Rd.Nrn. 17, 18) bleibt die tatsächliche soziale Betreuung der Asylsuchenden hinter den gemeinschaftsrechtlichen Mindeststandards zurück. Nach dem Bericht von PRO ASYL vom 19. Februar 2009 (S. 31) sollen die für die Auszahlung der vorgeschriebenen "Tagegelder" an Asylsuchende erforderlichen Haushaltsmittel fehlen. Die Leiterin des griechischem "Ökumenischen Flüchtlingsprogramms" habe erklärt, keinen einzigen Fall zu kennen, in dem diese Sozialleistung gewährt worden sei. Es liegt auf der Hand, dass obdachlose und mittellose Asylbewerber nicht nur unter den Lebensbedingungen zu leiden haben, sondern auch Gefahr laufen, wegen der Versäumung öffentlich bekannt gemachter Fristen ihren Status als Asylsuchende zu verlieren. Die Kammer sieht hierin jedenfalls ein markantes Beispiel für allgemeine Defizite bei den Asylverfahren von "Dublin-Rückkehrern".
Ob Garantien der griechischen Seite (siehe hierzu VG Gießen, B. v. 25.04.2008) eine wirksame Abhilfe wären, bedurfte keiner Entscheidung, denn derartige Garantien liegen im konkreten Fall nicht vor.
dd) Obwohl sicherlich Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO für ein weites Ermessen spricht, hält die Kammer die Beschränkung auf die Verpflichtung, über die Fortsetzung des Asylverfahrens unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden (siehe § 113 Abs. 2 Satz 2 VwGO) nicht für angemessen. Voraussetzung wäre eine rechtmäßige Alternative. Eine solche sieht die Kammer gegenwärtig aber nicht. [...]