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OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 03.03.2009 - 3 B 16.08 - asyl.net: M15518
https://www.asyl.net/rsdb/M15518
Leitsatz:

Rückkehrern nach Tschetschenien ohne Bezug zum Maschadow-Regime oder zu tschetschenischen Rebellen droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung; Tschetschenen steht jedenfalls in der übrigen russischen Föderation interner Schutz offen.

Schlagwörter: Russland, Tschetschenen, Tschetschenien, Situation bei Rückkehr, Maschadow-Anhänger, Rebellen, Separatisten, Sicherheitslage, Menschenrechtslage, soziale Gruppe, Grenzkontrollen, Glaubwürdigkeit, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Verfolgungssicherheit, Registrierung, Strafverfahren, Festnahme, Inhaftierung, Politmalus, Existenzminimum, Inlandspass
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist hinsichtlich Ziffer 2 rechtswidrig, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. [...]

Unter Anlegung dieser Maßstäbe kann es dahinstehen, ob der Beigeladene im Zeitpunkt seiner Ausreise wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Tschetschenen verfolgt war, denn es sprechen nach Überzeugung des Senats stichhaltige Gründe dagegen, dass er bei einer Rückkehr nach Tschetschenien dort von Verfolgung oder einem Schaden im Sinne von Art. 4 Abs. 4 QRL bedroht wird (1.). Jedenfalls aber wäre die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen, weil der Beigeladene in der übrigen Russischen Föderation als deren Staatsangehöriger weder begründete Furcht vor Verfolgung haben muss noch die tatsächliche Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, und von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, sich dort aufzuhalten (2.).

1 Es sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass Rückkehrer ohne Bezug zum Maschadow-Regime bzw. den tschetschenischen Rebellen von Verfolgungsmaßnahmen bedroht sein werden. Der Senat folgt insoweit den Entscheidungen des VGH Kassel (Urteil vom 21. Februar 2008, a.a.O.) und des OVG Magdeburg (Urteil vom 31. Juli 2008 - 2 L 23/06 -, juris), die auch durch weitere Erkenntnismittel bestätigt werden.

a). Die auch heute noch festzustellenden Sicherheitsdefizite in Tschetschenien steilen sich nicht als zielgerichtete, generell gegen tschetschenische Volkszugehörige gerichtete flüchtlingsrelevante Verfolgungsmaßnahmen etwa im Sinne überschießender Terrorismus- bzw. Separatismusabwehrmaßnahmen dar, sondern als Sicherheitsrisiken, die ohne besonderen asylrelevanten Bezug Ausdruck des unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten als katastrophal einzuschätzenden Machtsystems in Tschetschenien sind, denen es nach der Auskunftslage jedoch auch an der für die Anerkennung eines Flüchtlingsstatus erforderlichen Verfolgungsdichte fehlt.

Die Lage in Tschetschenien ist heute dadurch geprägt, dass die von dem vormaligen Präsidenten der Russischen Föderation Putin und dem tschetschenischen Präsdidenten Kadyrow verfolgte und betriebene Politik der "Tschetschenisierung" des Tschetschenienkonflikts aufgegangen zu sein scheint. [...]

Vor diesem Hintergrund einer sowohl in autoritären als auch willkürlichen Machtstrukturen gefangenen Gesellschaft wird die Sicherheitslage insbesondere zurückkehrender Tschetschenen von sachverständigen Stellen nicht einheitlich bewertet. [...]

b) Ohne Erfolg beruft sich der Beigeladene darauf, ihm drohe in Tschetschenien Verfolgung, weil er aus dem westlichen Ausland zurückkehre. Es dürfte sich bei den aus dem westlichen Ausland zurückkehrenden Tschetschenen bereits nicht um eine bestimmte soziale Gruppe gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art 10 Abs. 1 d) QRL handeln, da nicht ersichtlich ist, dass sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Jedenfalls ist aber in Auswertung der vorgenannten Erkenntnismittel davon auszugehen, dass Rückkehrer aus dem Ausland zwar durch die Sicherheitsdienste ins Visier genommen und befragt werden, ihnen aber bei Vorliegen einer "sauberen Akte" keine Repressionen staatlicherseits drohen. Soweit sie einer gesteigerten Gefahr unterliegen, Opfer von Straftaten zu werden, folgt dies nicht aus ihrem vormaligen Aufenthalt im westlichen Ausland, sondern daraus, dass bei ihnen Vermögen vermutet wird. Insofern sind sie nicht anders betroffen als vermögende Tschetschenen, die sich nicht im Ausland aufgehalten haben. Im Übrigen gehört das Eigentum nicht zu den flüchtlingsrechtlich geschützten Rechtsgütern.

c) Auch soweit sich der Beigeladene auf eine individuelle Verfolgung beruft, sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass ihm heute ein ernsthafter Schaden droht oder er Verfolgung befürchten muss. Zwar ist eine Verfolgungssicherheit in Tschetschenien auch nach neuester Erkenntnislage nicht generell anzunehmen für Personen, die mit dem Maschadow-Regime oder den Rebellen in Verbindung gebracht werden, doch kann davon im Falle des Beigeladenen auch bei Berücksichtigung der besonderen Beweisnot von Asylbewerbern im Hinblick auf Vorgänge im Herkunftsland nicht ausgegangen werden. [...]

2. Dem Beigeladenen steht auch eine innerstaatliche Fluchtalternative in der übrigen Russischen Föderation (RF) außerhalb Tschetscheniens zur Verfügung.

in der RF lebt eine Vielzahl ethnischer Tschetschenen, bei denen es sich zum Teil um Flüchtlinge und zum Teil um sonstige Migranten (sog. "tschetschenische Diaspora") handelt. [...]

Es kann angesichts der in der Grundaussage übereinstimmenden Stellungnahmen sowohl des Auswärtigen Amtes als auch der einschlägigen Menschenrechtsorganisationen als gesichert gelten, dass sich Tschetschenen wegen ihrer Volkszugehörigkeit in der RF Übergriffen und Diskriminierungen seitens der Behörden, aber auch durch gesellschaftliche Kräfte ausgesetzt sehen können. Gleichwohl kann aufgrund dieser Situation nur dann von fehlender Verfolgungssicherheit ausgegangen werden, wenn es sich bei den zu gewärtigenden Maßnahmen um Verfolgungshandlungen im Rechtssinne handelt und diese eine Dichte haben, die zur Annahme einer Gruppenverfolgung ausreicht. Das Vorliegen einer Verfolgungshandlung beurteilt sich nach § 60 Abs. 1 AufenthG. Dessen Satz 1 benennt als Schutzgüter Leben und Freiheit. Satz 3 der Vorschrift nennt als weiteres Schutzgut die körperliche Unversehrtheit. Satz 5 ordnet die ergänzende Anwendung von Art. 7 bis 10 QRL an. Gemäß Art. 9 Abs. 1 QRL gelten Handlungen als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GK, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (a) oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a) beschriebenen Weise betroffen ist (b).

Vor diesem Hintergrund liegt eine Verfolgungshandlung nicht in einer Verweigerung der Registrierung. Auch wenn es sich dabei um eine Diskriminierung handelt, ist sie jedenfalls nicht gegen eines der geschützten Rechtsgüter gerichtet, denn in der Verweigerung bzw. Erschwerung der Wohnsitzregistrierung liegt kein Angriff auf Leben, Freiheit, körperliche Unversehrtheit und auch keine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung (vgl. BVerwG, Pressemitteilung zum Urteil vom 19. Januar 2009 - 10 C 52.07). Zwar mag sich im Einzelfall die Verweigerung der Registrierung in letzter Konsequenz nachteilig auf ein derartiges Rechtsgut auswirken, doch macht eine solch indirekte und wie beispielsweise im Fall verweigerter medizinischer Behandlung wegen fehlender Registrierung für den behördlichen Sachwalter gar nicht konkret abzusehende Auswirkung die Diskriminierung nicht zu einer Verfolgungshandlung.

Auch der Umstand, dass Tschetschenen im besonderen Blick der Strafverfolgungsbehörden stehen und es bei ihnen zu Befragungen, Kontrollen, kurzzeitigen Festnahmen und Wohnungsdurchsuchungen kommt, rechtfertigt nicht die Annahme einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte. Die Verschärfung des Kontrolldrucks gegenüber Tschetschenen ist im Zusammenhang mit schwerwiegenden Straftaten zu sehen, die Tschetschenen angelastet werden. Insbesondere nach der Geiselnahme im Moskauer Musiktheater Nord-Ost im Oktober 2002, Terroranschlägen im August 2004 (Absturz zweier Flugzeuge sowie Sprengstoffanschläge auf eine Moskauer Bushaltestelle und am Rigaer Bahnhof in Moskau) und der Geiselnahme in der Schule von Beslan am 1. September 2004 ist die Intensität polizeilicher Kontrollmaßnahmen gegenüber kaukasisch aussehenden Personen in der RF verstärkt worden (AA, Lagebericht vom 30. August 2005, S. 13 f.). Die genannten Maßnahmen gehören zum polizeilichen Standardrepertoire sowohl zu Zwecken der Gefahrenabwehr als auch zur Strafverfolgung. Es ist einer rechtsstaatlichen Ordnung auch keineswegs fremd, dass Wohnungsdurchsuchungen und Festnahmen zu den genannten Zwecken ohne richterliche Anordnung ausgeführt werden. Muss jemand seinen Ausweis vorzeigen und er ggf. auch Durchsuchungen seiner Person, mitgeführter Gegenstände sowie seiner Wohnung dulden, beeinträchtigt dies - für sich genommen - weder die asylrechtlich ausdrücklich geschützten Rechtsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit und persönliche Fortbewegungsfreiheit noch wird durch solche Maßnahmen, solange sie nicht mit weitergehenden Übergriffen einhergehen, die Menschenwürde verletzt. Der Umstand, dass bei der Auswahl der zu überprüfenden Personen an ethnische Merkmale angeknüpft wird, ändert an der asylrechtlichen Irrelevanz dieser Vorgehensweise solange nichts, wie der Bereich sog. polizeilicher "Standardmaßnahmen" nicht überschritten wird. Denn auch nach rechtsstaatlichen Maßstäben müssen es Personen, die aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe in höherem Maße als andere verdächtig sind, eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darzustellen, unter Umständen hinnehmen, in verstärktem Umfang mit polizeilichen Eingriffsmaßnahmen konfrontiert zu werden, Ob ein solches erhöhtes Besorgnispotenzial aufgrund der Tschetschenen angelasteten schweren Terrorakte und angesichts einer vermuteten Verflechtung nicht weniger Angehöriger dieser Ethnie mit der organisierten Kriminalität festgestellt werden kann (vgl. VGH Kessel, Urteil vom 18. Mai 2006 - 3 UB 177/04.A, juris), kann offen bleiben, denn derartige Kontrollen haben an Intensität abgenommen und erfolgen seit Anfang 2007 zumeist im Rahmen des verstärkten Kampfes der Behörden gegen illegale Migration und Schwarzarbeit (vgl. AA, Lagebericht vom 22. November 2008, S. 26 f.),

Allerdings ist nicht zu verkennen, dass der Umgang der Vollzugsbehörden mit Festgenommenen rechtsstaatlichen Maßstäben nicht durchweg genügt. So moniert der Menschenrechtsbeauftragte der RF, Wladimir Lukin, dass es bei Verhaftungen, Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft immer wieder zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung durch Polizei und Ermittlungsbehörden komme (vgl. AA, a.a.O., S. 21): Auch berichten Menschenrechtsorganisationen von Strafverfolgungsmaßnahmen und Verurteilungen auf der Grundlage fingierter bzw. untergeschobener Beweismittel ("Memorial" an VGH München vom 26, Dezember 2007, S. 2; AA, a.a.O., S. 11).

Wenngleich festzustellen ist, dass Tschetschenen in der RF außerhalb Tschetscheniens in gesteigertem Maße Anfeindungen und Misstrauen begegnen, so ist damit allerdings die Schwelle für die Annahme einer Gruppenverfolgung nicht überschritten. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr um nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Februar 2007, NVwZ 2007, 590), Objektive Anhaltspunkte, die eine derartige Behandlung ethnischer Tschetschenen in der RF als nicht nur ganz entfernte und damit durchaus reale und nicht nur theoretische Möglichkeit erscheinen lassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. September 1992, NVwZ 1993, 191/192) sind indes nicht ersichtlich. Angesichts der eingangs genannten Vielzahl von in der RF sowohl als Binnenflüchtlinge als auch als Migranten lebenden Tschetschenen bieten die nicht mit näherer Quantifizierung verbundenen Angaben zu gegen sie gerichteten Maßnahmen keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme einer auch nur geringen Wahrscheinlichkeit einer eigenen Verfolgungsbetroffenheit. Im Übrigen bestehen Zweifel daran, dass die genannten Missstände im Zusammenhang mit Verfolgungsgründen im Sinne von Art. 10 QRL stehen. Vielmehr dürfte es sich um ein generelles Problem der Justizbehörden handeln, denn der Menschenrechtsbeauftragte der RF hat in einem Zeitungsinterview vom 8. Februar 2008 allgemein beklagt, russische Gerichte schenkten den Menschenrechten nicht genug Beachtung und hätten sich noch nicht freigemacht von Formalismus, Bürokratie, niedriger Qualität von Gerichtsentscheidungen und dem Subjektivismus der Richter. Er erhalte eine riesige Zahl von Beschwerden zu Gerichtsentscheidungen in Straf- und Zivilsachen (Bundesamt, Erkenntnisse Russische Föderation, Tschetschenienkonflikt, Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion, April 2008, S. 5).

Anhaltspunkte dafür, dass der Beigeladene in der RF außerhalb Tschetscheniens einer individuellen Verfolgung ausgesetzt sein könnte, sind nicht ersichtlich. Insbesondere die vom Beigeladenen geltend gemachte Assoziierung mit den tschetschenischen Rebellen wegen der Existenz der ihn bewaffnet zeigenden Fotos begründet nicht die Annahme eines Verfolgungsrisikos, denn sein Vorbringen ist - wie unter 1. c) dargelegt - unglaubhaft. Im Übrigen spricht nichts für ein Verfolgungsrisiko in der RF allein aufgrund eines allgemeinen Verdachts der Zugehörigkeit zu den tschetschenischen Rebellen. Ob dies im Falle eines Vorwurfs konkreter Beteiligung an bestimmten Aktionen der Rebellen und dabei eventuell begangener Straftaten ebenso zu beurteilen wäre, bedarf hier wegen der Weigerung des Beigeladenen, sich näher zu den behaupteten kämpferischen Aktivitäten zu erklären, keiner Entscheidung.

Eine interne Fluchtalternative im Sinne von Art. 8 Abs. 1 QRL setzt neben der Verfolgungssicherheit voraus, dass von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Maßgeblich ist insofern, ob der Beigeladene im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative existentiellen Bedrohungen ausgesetzt sein wird, wobei es im Hinblick auf die Neufassung des § 60 AufenthG zur Umsetzung der QRL nicht (mehr) darauf ankommt, ob diese Gefahren am Herkunftsort ebenso bestehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Mai 2008, BVerwGE 131, 186).

Eine existentielle Bedrohung ist gegeben, wenn das Existenzminimum nicht gesichert ist. Erwerbsfähigen Personen bietet ein verfolgungssicherer Ort das wirtschaftliche Existenzminimum in aller Regel, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können. Nicht zumutbar ist hingegen die entgeltliche Erwerbstätigkeit für eine kriminelle Organisation, die in der fortgesetzten Begehung von oder der Teilnahme an Verbrechen besteht. Ein verfolgungssicherer Ort, an dem das wirtschaftliche Existenzminimum nur durch derartiges kriminelles Handeln erlangt werden kann, ist keine innerstaatliche Fluchtalternative (BVerwG, Urteil vom 1. Februar 2007, NVwZ 2007, 590).

Das Verwaltungsgericht hat die Klageabweisung im Wesentlichen darauf gestützt, dass die Niederlassung in der RF und die dortige Erlangung des wirtschaftlichen Existenzminimums entweder durch Arbeit oder Sozialleistung eine Registrierung voraussetze, die ihrerseits den Besitz eines gültigen Inlandspasses erfordere, zu dessen Erlangung der Beigeladene sich zumindest kurzzeitig nach Tschetschenien begeben und sich dadurch in ihm nicht abzuverlangender Weise der Gefahr erneuter Verfolgung aussetzen müsste (UA S. 22 ff.). Diese Situation hat sich allerdings zugunsten des Beigeladenen geändert. Die Verordnung der Regierung der RF Nr. 779 vom 20. Dezember 2006 erweitert die Möglichkeit zur Beantragung des Inlandspasses in räumlicher Hinsicht. Dieser kann nunmehr am Wohnort, Aufenthaltsort oder dem Ort der Antragstellung ausgestellt werden (vgl. AA, Lagebericht vom 22. November 2008; S. 28; so auch Gannuschkina, Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der RF August 2006 - Oktober 2007, S. 90). Die Innehaltung eines gültigen Inlandspasses ist ihrerseits Voraussetzung für die in diesen Pass zu stempelnde Wohnsitzregistrierung, von der der Zugang zum regulären Arbeitsmarkt und zu Sozialleistungen de facto abhängig ist. Nichtregistrierte Tschetschenen sollen in der RF allenfalls in der tschetschenischen Diaspora untertauchen und dort überleben können (vgl. AA, a.a.O., S. 27). Obwohl Tschetschenen wie allen russischen Staatsbürgern das Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthaltes in der RF zusteht, ist es das Bestreben der Behörden in vielen Gebieten der RF, den Zuzug von Personen aus dem Kaukasus mittels restriktiver Verwaltungsvorschriften zu erschweren, um so deren Rücksiedlung nach Tschetschenien zu erreichen (AA, a.a.O.). Diese Haltung spiegelt sich sowohl in der Passerteilungspraxis als auch in der Registrierungspraxis wider. Allerdings sind diese Administrativmaßnahmen dem Bereich der vom Bundesverwaltungsgericht (a.a.O.) als Anfangsschwierigkeiten bezeichneten Hindernisse zuzuordnen, deren Überwindung möglich und im Regelfall auch zumutbar ist. So führt Gannuschkina (a.a.O.) zur Frage der Passerteilungspraxis aus, es scheine "einigen Beamten" nicht in den Kopf zu gehen, dass Tschetschenien auch Russland sei und dass Umsiedler aus Tschetschenien russische Staatsbürger seien. Sodann benennt sie einen Beispielsfall zunächst verweigerter Passausstellung und schildert, dass ein Beschwerdebrief an den Behördenleiter zur Erteilung des Passes innerhalb eines Tages geführt habe. Einen weiteren Beispielsfall führt sie als "analogen Fall" an, so dass auch hier davon ausgegangen werden kann, dass der begehrte Pass ausgestellt wurde.

Ebenso verhält es sich mit der Registrierung. Auch insofern heißt es übereinstimmend, dass Tschetschenen in vielen Teilen der RF Zuzugsbeschränkungen unterliegen, die ihnen seitens der Verwaltung auferlegt werden So berichtet die norwegische Organisation "LandInfo" (Tschetschenische Binnenflüchtlinge in Wolgograd, Kalmykien und Astrachan - Informationsreise nach Moskau, Wolgograd, Kalmykien und Astrachan im März 2006, Bericht November 2007, S. 18 f. des englischsprachigen Originals) über Recherchen ihrer Mitarbeiter zusammen mit der norwegischen Einwanderungsbehörde in Wolgograd, Kalmykien und Astrachan. Danach hat die Mission widersprüchliche Ergebnisse in Bezug auf die Registrierungspraxis erbracht. Während befragte tschetschenische Studenten in Wolgograd davon berichtet haben, die Registrierung habe bei einigen von ihnen bis zu sechs Monaten gedauert, haben zwei weitere befragte Tschetschenen völlig unterschiedliche Darstellungen gegeben. So soll nach der einen Auskunft das Problem ungenügender Registrierung ein Problem der Vergangenheit und unterdessen eine praktisch vollständige Registrierung aller Tschetschenen erreicht sein, der anderen Auskunft nach sollen hingegen nur sehr wenige Tschetschenen über eine Registrierung verfügen. Das "Friedenskomitee" in Wolgograd habe sich dahingehend geäußert, dass jeder, der nachweise, dass er Arbeit suche, auch eine Registrierung erhalte. "Memorial" habe davon berichtet, dass die zurückliegende Praxis verweigerter Registrierungen durch die örtlichen Verwaltungsbehörden auf Druck von "Memorial" und anderen Organisationen durch die Gerichte unterbunden worden sei.

Der von "Memorial" gegebene Hinweis auf erlangte gerichtliche Hilfe bestätigt die Rechtswidrigkeit der Verweigerungspraxis. Diese hat auch die Staatsanwaltschaft der RF als Aufsichtsbehörde über die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in ihrem Bericht vom 20. Januar 2004 festgestellt, in dem es heißt, trotz der relativ gut entwickelten bundesgesetzlichen Grundlage auf dem Gebiet der Migration führen die Organe der Staatsmacht in den Subjekten der Föderation und die Organe der örtlichen Selbstverwaltung fort, Rechtsakte im Widerspruch zur Migrationsgesetzgebung zu erlassen. Am häufigsten handele es sich hierbei um die Einführung zusätzlicher Beschränkungen und Gebühren für die Registrierung, welche in der Gesetzgebung der Föderation nicht vorgesehen seien (vgl. Heinrich/Lobova, "Die Situation von tschetschenischen Vertriebenen [IDPs] in Russland" vom 24. November 2005).

Nach alledem kann davon ausgegangen werden, dass rückkehrenden Tschetschenen in vielen Gebieten der RF zwar zunächst mit einiger Wahrscheinlichkeit Hindernisse und Hürden seitens der örtlichen Verwaltungen in den Weg gestellt werden, dies jedoch widerrechtlich, so dass sie mit zumutbarer Anstrengung entweder durch Anrufung vorgesetzter Stellen undloder Einschaltung von Hilfsorganisationen oder letztlich durch Beschreitung des Rechtsweges beseitigt werden können.

Ein polizeiliches Einschreiten wegen des anfänglichen Aufenthaltes ohne Registrierung hat der Beigeladene nicht zu befürchten, denn die Registrierungspflicht setzt erst nach Ablauf von 90 Tagen ein (LandInfo, a.a.O., S. 17). Die Registrierungsvorschrift ist am 22. Dezember 2004 dahingehend geändert worden und wird nach anfänglich nur sehr schleppender Anwendung unterdessen faktisch angewandt (vgl. Gannuschkina, Tschetschenische Flüchtlinge und die Qualifikationsrichtlinie der EU, Redemanuskript vom 25. November 2006, S. 4 f.). Allerdings führt die Befreiung von der Registrierungepflicht während der ersten 90 Tage eines Aufenthaltes nicht dazu, dass dem Betroffenen während dieser Zeit Zugang zum öffentlichen Sozialsystem, insbesondere medizinischer Behandlung, gewährt würde. Ist jedoch kein besonderer Bedarf für die Inanspruchnahme derartiger Leistungen während der Dauer des Registrierungsverfahrens ersichtlich, so wird hierdurch die Zumutbarkeit eines Aufenthaltes in der RF nicht beeinträchtigt, denn maßgeblich sind gemäß Art. 8 Abs. 2 QRL die persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag, So liegt es hier, denn der Beigeladene hat sich auf eine Behandlungsbedürftigkeit nicht berufen.

Schließlich kann auch davon ausgegangen werden, dass der Beigeladene das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige durch eigene Arbeit wird erlangen können, ohne hierfür notwendigerweise kriminelle Handlungen begehen zu müssen. [...]