VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 19.02.2009 - AN 3 K 08.30096 - asyl.net: M15521
https://www.asyl.net/rsdb/M15521
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung einer irakischen Frau und ihrer Kinder nach Entführung eines Sohnes und versuchter Erpressung sowie nach Übergriff auf die geschiedene Mutter und versuchter Vergewaltigung; geschiedene Frauen sowie westlich orientierte Frauen sind im Irak der Gefahr von Übergriffen ausgesetzt.

Schlagwörter: Irak, Entführung, Erpressung, Lösegeld, Glaubwürdigkeit, gesteigertes Vorbringen, Frauen, Flüchtlingsfrauen, Vergewaltigung, geschiedene Frauen, Scheidung, Ehrenmord, Genitalverstümmelung, Übergriffe, westliche Orientierung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die zulässigen Klagen sind begründet.

Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 21. Februar 2008 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Diese haben einen Anspruch gegen die Beklagte auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. [...]

Zwar hat die Kammer die ab April 2007 vertretene Auffassung, Sunniten und Schiiten aus dem Zentral- und Südirak unterlägen ebenso wie sonstige religiöse Minderheiten einer Gruppenverfolgung, seit dem 9. Februar 2009 nicht mehr aufrecht erhalten (vgl. Urteil vom 9.2.2009, AN 3 K 07.30791). Allerdings liegt im Fall der Kläger zu 1) bis 4) eine individuelle Gefährdung aus nach § 60 Abs. 1 AufenthG relevanten Motiven vor, so dass die Voraussetzungen dieser Vorschrift bei ihnen vorliegen.

Dabei ist die Kammer der Auffassung, dass alle vier Kläger vorverfolgt aus dem Irak ausgereist sind. So hat die Klägerin zu 1) geschildert, dass ihr Sohn ... im Irak etwa im Februar 2007 entführt worden sei, um Lösegeld von ihr zu erpressen, wobei sie über das weitere Schicksal ihres Sohnes ... keine Angaben mehr machen könne. Auch ihre drei kleineren Kinder, die Kläger zu 2) bis 4), seien mit Entführung bedroht worden, nachdem die Entführung des Sohnes ... nicht zum gewünschten Ergebnis, nämlich einer Zahlung von erheblichen Lösegeld, geführt hätte. Um die Kläger zu 2) bis 4) aus dieser unmittelbaren Gefahr zu retten, die neben der Entführung allein bei Ausbleiben der Lösegeldzahlung realistischer Weise auch deren Misshandlung oder gar deren Ermordung beinhaltete, habe sie das Land verlassen. Diese Ausführungen erscheinen dem Gericht als glaubwürdig und im Wesentlichen widerspruchsfrei, auch wenn die Angaben der Klägerin zu 1) bezüglich des genauen Hergangs insbesondere bei der Anhörung beim Bundesamt zum Teil etwas schwer nachvollziehbar sind. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass die Klägerin zu 1) sich während dieser Ereignisse in einer erheblichen Drucksituation befand, da es ja um das Leben eines ihrer Kinder ging, zum anderen auch, dass es sich bei ihr um eine Analphabetin handelt, so dass die schriftlichen Mitteilungen der Entführer von ihr selbst nicht gelesen und verstanden werden konnten. Die Klägerin war somit insoweit davon abhängig, was ihr von ihrem Vater, der offenkundig des Lesens und Schreibens kundig war, mitgeteilt wurde. Auch die Klägerin zu 1) wurde nach ihren für das Gericht glaubhaften Angaben bei der Anhörung in der mündlichen Verhandlung einmal im Haus ihrer Tante überfallen und bedroht, wobei das Gericht das Fehlen entsprechender Angaben bei der Anhörung der Klägerin zu 1) und ihre dürftigen Einzelangaben hierzu in der mündlichen Verhandlung darauf zurückführt, dass nach dem von ihr geschilderten äußeren Hergang des Überfalls es sich aller Voraussicht nach um einen Versuch sexueller Übergriffe bzw. einer Vergewaltigung der Klägerin handelte. Dies ergibt sich auch daraus, dass die Klägerin zunächst angab, geschiedene Frauen hätten einen schlechten Ruf im Irak, was auch durch verschiedene Auskünfte und Stellungnahmen belegt ist. Dies macht es für das Gericht nachvollziehbar, dass die Klägerin über dieses Vorkommnis zunächst nicht von sich aus berichtete und erst Angaben dazu machte, als sie vom Gericht unter Vorhalt der Angaben ihres Sohnes ... bei dessen Therapeutin konkret hierzu befragt wurde. Dann allerdings hat sie den entsprechenden Vorfall widerspruchsfrei und nachvollziehbar geschildert, so dass das Gericht ihren Angaben insoweit ebenso wie auch ihren wesentlichen sonstigen Angaben Glauben schenkt. [...]

Diese Angaben der Klägerin selbst und ihres Sohnes decken sich im Wesentlichen auch mit Aussagen in den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen. So stellt das Auswärtige Amt im jüngsten Lagebericht fest, dass sich die Stellung der Frauen in der irakischen Gesellschaft seit der Zeit des Saddam-Hussein-Regimes teilweise deutlich verschlechtert hat, und dass fundamentalistische Tendenzen in Teilen der irakischen Gesellschaft negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen hätten. Ebenso zitiert dieser Lagebericht Angaben des UNHCR, wonach Ehrenmorde in der Praxis noch immer weitgehend straffrei und im patriarchalisch strukturierten Nord-Irak Steinigungen und Genitalverstümmelungen stattfänden, wobei allerdings auch ausgeführt wird, dass das gesellschaftliche Klima gegenüber Geschiedenen im Irak traditionell tolerant sei, allerdings nicht angegeben werden könne, inwieweit die zunehmende Islamisierung der Gesellschaft diese Akzeptanz der Ehescheidungen beeinträchtigt habe. So führt z.B. auch UNHCR im Bericht vom 26. September 2007 u.a. aus, dass sich die Menschenrechtslage der Frauen insbesondere im Zentral- und Südirak dramatisch verschlechtert habe und sich weiter verschlimmere. Die Anzahl so genannter "Ehrenmorde" als Reaktion auf vermeintlich schändliches Verhalten weiblicher Familienmitglieder, wie beispielsweise den Verlust der Jungfräulichkeit, Untreue, Scheidungsbegehren oder die Verweigerung von Eheschließungen habe Berichten zufolge zugenommen. Im Allgemeinen seien alleinstehende und allein erziehende Frauen besonderen Risiken ausgesetzt. Des Weiteren führt das europäische Zentrum für kurdische Studien in seinem Bericht an das VG Düsseldorf vom 30. September 2008 auch aus, die den Gegenstand der gerichtlichen Anfrage bildende Klägerin könne mit Sicherheit kein einigermaßen selbstbestimmtes Leben führen, wobei dies auf einen Bezirk von Bagdad abstellte, wobei sich aus anderen Berichten, insbesondere auch aus dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes ableiten lässt, dass die Situation außerhalb Bagdads für Frauen eher bedrückender und schlechter ist, als in Bagdad selbst. Auch wird in diesem Bericht ausgeführt, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass gerade Stammesmilizen, die für eine gewisse Sicherheit sorgten, begännen, ihre Machtposition zu missbrauchen, indem sie etwa Erpressungen verüben und sich Schutzleistungen bezahlen lassen und ansonsten mit Entführungen und ähnlichen Maßnahmen drohen. Weiter führt das Europäische Zentrum für kurdische Studien in einer Auskunft an das VG Göttingen vom 15. August 2008 aus, dass die Situation westlich geprägter Frauen schon im kurdischen Autonomiegebiet prekär sei, während außerhalb der kurdisch verwalteten Regionen sich die Situation westlich orientierter Frauen zum Teil noch deutlich schwieriger darstelle. So seien Ehrenmorde weit verbreitet, zumal dagegen bestehende Gesetze praktisch nicht angewendet würden. Ehrverletzungen könnten einen Mord auslösen, die Ehrverletzung könnte dabei schon das Gespräch mit einem Fremden sein, wobei die Ermordung häufig durch Selbstmord oder Unfall getarnt würde. Schließlich stelle ein westlich geprägter Lebensstil schon im kurdisch verwalteten Nord-Irak einen klaren Tabubruch dar, wobei auch bei Beibehaltung eines westlichen oder als westlich interpretierten Lebensstils befürchtet werden müsse, dass eine Frau tätlichen Angriffen ausgesetzt sei, jedenfalls ihr Verhalten als ehrlos ausgestuft werde. Diese Auszüge aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen zeigen, dass die von der Klägerin geschilderten Ereignisse durchaus plausibel sind und ihr Vorkommen verbreitet ist, dies gilt sowohl bezüglich der konkret geschilderten Lösegelderpressung ebenso wie bezüglich des - möglichen - Vergewaltigungsversuchs bei dem geschilderten Überfall im Haus der Tante. Dabei sind sich die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen darin einig, dass die lokalen und überregionalen Behörden im Irak weder willens noch in der Lage sind, den Schutz aus dem Westen in den Irak zurückkehrender und westlich geprägter Frauen gegen solche Übergriffe effektiv sicherzustellen, zumal wenn diese wie die Klägerin zu 1) als alleinerziehende Mutter nach einer Scheidung in den Irak zurückkehren. Ausreichenden Schutz können hier der Klägerin mit ihren Kindern auch weder die Familie noch sonstige Verwandte geben, wie die geschilderten Ereignisse belegen, darüber hinaus hat die Klägerin zu 1) auch glaubhaft angegeben, dass wegen ihrer Scheidung es auch Schwierigkeiten mit ihrer Familie und der Familie ihres Mannes gegeben habe und dass Verwandte von ihr sogar Schmuck erpressen wollten.

Damit steht nach Auffassung des Gerichts fest, dass die Kläger zu 1) bis 4) vor der letzten Ausreise aus dem Irak dort Verfolgung im Sinn des § 60 Abs. 1 AsylVfG erlitten haben, aus Furcht vor dem Fortdauern dieser Verfolgung das Land verlassen haben und im Fall ihrer Rückkehr in den Irak nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden kann, dass diese Gefahr für sie beendet ist. Diese Schlussfolgerung ergibt sich für das Gericht insbesondere auch deshalb, weil die Klägerin zu 1) mit vier ihrer Kinder damals freiwillig nach der Scheidung von ihrem Mann nach dem Abschluss ihres vorangegangenen Asylverfahrens in den Irak zurückgekehrt ist, um dort bei der Familie zu leben. Die dann von der Klägerin zu 1) geschilderten Übergriffe und Verfolgungshandlungen sind für das Gericht glaubhaft, die daraufhin erfolgte Ausreise der Klägerin zu 1) mit ihren Kindern erfolgte nach Überzeugung des Gerichts aus Angst vor weiteren Verfolgungen der Kinder bzw. der Klägerin selbst, die Gefahr der Wiederholung solcher Vorkommnisse erscheint dem Gericht zudem als hoch. Es handelt sich im vorliegenden Verfahren gerade nicht um irgendwelche fiktiven Gefahren, die seit langem in Deutschland lebende Asylbewerber aus dem Irak für den Fall ihrer Rückkehr befürchten, sondern die auf Grund von Erlebnissen in der jüngsten Vergangenheit gebildeten Befürchtungen, dass solche Übergriffe erneut stattfinden werden. Darüber hinaus kann auch nicht angenommen werden, dass die Klägerin an einem anderen Ort im Irak mit ihren Kindern vor solchen Übergriffen sicher wäre, wenn sie selbst in ihrem Heimatort bzw. am Wohnort ihrer Familie und im Haus ihrer Tante vor solcher Verfolgung nicht sicher gewesen ist. [...]