VG Leipzig

Merkliste
Zitieren als:
VG Leipzig, Beschluss vom 08.05.2009 - 5 L 169/09 - asyl.net: M15702
https://www.asyl.net/rsdb/M15702
Leitsatz:

§ 34 a Abs. 2 AsylVfG steht dem Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Unterlassung der Abschiebung aufgrund einer Abschiebungsanordnung nicht entgegen, wenn sich der Antragsteller nicht gegen den Ablehnungsbescheid selbst wendet, sondern geltend macht, dass er aufgrund einer Änderung der Sach- und Rechtslage nicht mehr vollstreckt werden kann; eine Verlängerung der Überstellungsfrist gem. Art. 19 Abs. 4 der Dublin II-Verordnung tritt ein, wenn der Ausländer flüchtlig ist und deshalb die Überstellung nicht erfolgen kann; das ist nicht der Fall, wenn er vor Zustellung des Ablehnungsbescheides oder nach Ablauf der Sechs-Monats-Frist des Art. 19 Abs. 3 der Dublin II-Verordnung flüchtig ist; der Ausländer kann sich auf den Ablauf der Übernahmefrist berufen.

Schlagwörter: Verfahrensrecht, Verordnung Dublin II, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Abschiebungsanordnung, unzulässiger Asylantrag, Änderung der Sachlage, Änderung der Rechtslage, Griechenland, Überstellung, Abschiebung, Zuständigkeit, Überstellungsfrist, Sechs-Monats-Frist, Untertauchen, Anspruch, subjektives Recht, Fristen, Verhältnismäßigkeit, Ausländerbehörde, Bindungswirkung, Ablehnungsbescheid, Dublin II-VO, Dublinverfahren,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2; VwGO § 123 Abs. 1; AsylVfG § 27a; EG VO Nr. 343/2003 Art. 10 Abs. 1; EG VO Nr. 343/2003 Art. 19 Abs. 4; EG VO Nr. 343/2003 Art. 19 Abs. 3; EG VO Nr. 343/2003 Art. 18 Abs. 7
Auszüge:

[...]

a. Vorab ist klarzustellen, dass es hier nicht um den Fall des Rechtsschutzausschlusses nach § 34 a Abs. 2 AsylVfG geht. Danach darf die Abschiebung aufgrund einer Entscheidung zu § 27 a AsylVfG nicht nach § 123 VwGO ausgesetzt werden. Der Antragsteller wendet sich hier aber nicht gegen den materiellen Gehalt des - im Übrigen unanfechtbaren - Bescheides des Bundesamtes vom 13.8.2008. Vielmehr beruft er sich darauf, dass die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 13.8.2008 mittlerweile aufgrund einer Änderung der Sach- und Rechtslage im europarechtlichen Zuständigkeitsbereich nicht mehr vollstreckt werden kann.

b. Der als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO auszulegende Antrag gegen den Antragsgegner zu 2 hat Erfolg. [...]

Sowohl unter Zugrundelegung des § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO als auch unter Zugrundelegung der Maßstäbe des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO hat der Antragsteller glaubhaft gemacht, dass ihm ein Anordnungsanspruch auf Unterlassung der ihm drohenden Abschiebung nach Griechenland durch den hierfür gemäß § 3 Abs. 1 AAZuVO zuständigen Antragsgegner zu 2 zusteht. Griechenland ist nämlich nicht (mehr) verpflichtet, das Asylbegehren des Antragstellers zu bearbeiten und deshalb seine Überstellung hinzunehmen (unten aa.). Der Antragsteller kann sich auch subjektiv darauf berufen (unten bb.)

aa. Es spricht bei der hier gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung alles dafür, dass der Asylantrag des Antragstellers nicht mehr unzulässig nach § 27a AsylVfG ist. Vielmehr ist mittlerweile das Bundesamt, also die Antragsgegnerin zu 1., für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Nach der insoweit maßgeblichen Dublin II-VO war zwar zunächst Griechenland nach Art. 10 Abs. Dublin II-VO zuständig, da der Antragsteller dessen Landgrenze illegal überschritten hat. [...]

Die Antragsgegnerin zu 1 ist dann jedoch nach Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO zuständig geworden, da der Antragsteller nicht innerhalb der Sechs-Monats-Frist des Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO nach Griechenland überstellt wurde. Danach erfolgt die Überstellung "spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme". Der Antrag auf Aufnahme galt nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO am 20.7.2008 als angenommen. Die Überstellungsfrist lief damit am 20.1.2009 ab.

Die Voraussetzungen für eine Verlängerung der Frist nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II-VO - Inhaftierung oder Flüchtigsein - sind jedenfalls bis zum 20.1.2009 nicht erfüllt gewesen. [...] Eine Fristverlängerung nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II-VO kommt nur in Betracht, wenn die Überstellung nicht erfolgen konnte, weil der Asylbewerber flüchtig war. Die Überstellung des Antragstellers konnte aber innerstaatlich rechtlich frühestens ab der Zustellung des Bescheides vom 13.8.2008, also ab dem 14.1.2009 erfolgen. Zu diesem Zeitpunkt aber war der Antragsteller nicht flüchtig und er war es auch nicht bis zum Ablauf des 20.1.2009 (vgl. auch VG Münster, Urt. v. 23.4.2008 - 8 K 1585/07.A -, juris, Rdnr, 30). Das Laisser-Passer wurde auch erst am 21.1.2009 ausgestellt. Erneut unbekannten Aufenthalts war der Antragsteller dann erst wieder seit dem 5.2.2009.

Unter diesen Umständen. kann Griechenland die Übernahme des Antragstellers jetzt zu Recht verweigern, weil es nicht mehr zuständig ist zur Bearbeitung dieses Asylbegehrens und die Bundesrepublik Deutschland ist verpflichtet, sich an die Dublin II-VO zu halten und keine rechtswidrigen. Aufnahmeersuchen zu stellen. Darüber hinaus besteht nach Art. 21 Abs. 1 lit. c und d) Dublin II-VO die Verpflichtung zur Übermittlung aller personenbezogenen Daten über den Asylbewerber, darunter seiner Aufenthaltsorte, für die Erfüllung aller Verpflichtungen aus der Dublin II-VO, hier also insbesondere der Zuständigkeit zur Bearbeitung des Asylantrages. Die Überstellung des Antragstellers nach Griechenland ist derzeit also wegen des Rückfalls der Asylzuständigkeit an die Bundesrepublik Deutschland rechtlich und tatsächlich nicht (mehr) möglich. Eine dennoch einvernehmliche Übernahme durch Griechenland ist nicht vorgetragen worden und auch sonst gerade angesichts der bekannten Probleme Griechenlands bei der Bearbeitung von Asylverfahren nicht ersichtlich.

bb. Der Antragsteller kann sich auch auf die beschriebenen Regelungen und deren rechtliche und tatsächliche Folgen berufen. Die Einhaltung der Überstellungsfristen und damit ein Recht auf Bearbeitung des Asylantrags durch das Land, in dem der Asylantrag gestellt wurde, kann wohl subjektiv-rechtlich von den Asylbewerbern jedenfalls dann geltend gemacht werden, wenn keine einvernehmliche Übernahme durch Griechenland trotz Ablaufs der Übcrstellungsfristen erklärt wurde (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AsylVfG, § 27 a, Rdnr. 263; Hruschka in: Beilage zum Asylmagazin 1-2/2008, S. 11 am Ende; Dolk, a.a.O. S. 19; siehe auch: EuGH, Urt. v. 29.1.2009 - C-19/08 -, juris; VG Münster, a.a.O. Rdnr. 40 m.w.N.). Im Übrigen aber liegt nach derzeitigem Erkenntnisstand hier ein faktisches Überstellungshindernis vor, angesichts dessen alle Maßnahmen auf Durchsetzung der Überstellung als unverhältnismäßig und damit auch wegen der einschneidenden tatsächlichen Konsequenzen für den Antragsteller als rechtswidrig erscheinen. Der Antragsteller müsste sich also nicht entgegen halten lassen, solche Überstellungshindernisse seien ausschließlich Kriterien bei der tatsächlichen Vollstreckung der Überstellung.

Scließlich kann der Antragsgegner zu 2 angesichts der geschilderten Umstände nicht damit gehört werden, er sei an die Entscheidungen des Bundesamtes gebunden, da es vorliegend um faktische Überstellungshindernisse geht, die unmittelbar seine Überstellungsmöglichkeiten betreffen. [...]