VG Karlsruhe

Merkliste
Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 14.04.2009 - A 2 K 414/09 - asyl.net: M15730
https://www.asyl.net/rsdb/M15730
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung von Kurden aus der Türkei, die wegen des Verdachts der Sympathie mit oder der Unterstützung der PKK in Erscheinung getreten sind und daher die Aufmerksamkeit der türkischen Sicherheitskräfte geweckt haben.

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, Rechtskraftwirkung, Bindungswirkung, Änderung der Sachlage, Verpflichtungsurteil, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Reformen, Folter, PKK, Verdacht der Unterstützung, Sympathisanten, Separatisten, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Antiterrorismusgesetz
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; VwGO § 121
Auszüge:

[...]

1. Die Klage des Klägers Ziff. 1 ist zulässig und begründet. Der angefochtene Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 10.06.2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger Ziff. 1 in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter und der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG liegen nicht vor. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an den grundlegenden Urteilen der Kammer vom 05.03.2009 - A 2 K 2200/08 und A 2 K 2201/08 -, in sie sich erstmals mit Widerrufsentscheidungen betreffend türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit beschäftigt hat. [...]

Beruht die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG auf einem rechtskräftigen verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsurteil, folgt aus dem Rechtsinstitut der Rechtskraft, dass ein Widerruf des Bundesamtsbescheides nur nach Änderung der für das Urteil maßgeblichen Sach- oder Rechtslage erfolgen darf. Rechtskräftige Urteile binden nach § 121 VwGO die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. [...]

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem grundlegenden Urteil vom 18.09.2001 (- 1 C 7.01 -, BVerwGE 115, 118) zusammenfassend Folgendes ausgeführt:

Die Rechtskraftwirkung eines Urteils endet, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich verändert (sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft). Dabei liegt es auf der Hand, dass nicht jegliche nachträgliche Änderung der Verhältnisse die Rechtskraftwirkung eines Urteils entfallen lässt. Gerade im Asylrecht liefe ansonsten die Rechtskraftwirkung nach § 121 VwGO weitgehend leer. Sofern es nämlich auf die allgemeinen politischen Verhältnisse im Heimatland des Asylbewerbers ankommt, sind diese naturgemäß ständigen Änderungen unterworfen. Eine Lösung der Bindung an ein rechtskräftiges Urteil kann daher nur eintreten, wenn die nachträgliche Änderung der - hier allein in Frage stehenden - Sachlage entscheidungserheblich ist. Dies ist jedenfalls im Asylrecht nur dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist. [...]

Der Zeitablauf allein stellt grundsätzlich keine erhebliche Änderung der Sachlage dar. Die Rechtskraftwirkung ist zeitlich nicht begrenzt. Gleichwohl darf nicht verkannt werden, dass gerade die Gefahrenprognose im Asylrecht, insbesondere soweit sie von den allgemeinen politischen Verhältnissen im Heimatland des Asylbewerbers abhängt, in besonderem Maße durch die weitere Entwicklung dieser Verhältnisse berührt sein kann. Je länger der Zeitraum ist, der seit dem rechtskräftigen Urteil verstrichen ist, desto eher kann - je nach Art der dem Urteil zugrundeliegende Gefahrenprognose - die Annahme gerechtfertigt sein, dass die Entwicklung im Heimatland zu einer Änderung der tatsächlichen Grundlagen der Gefahrenprognose geführt hat, die vom Geltungsanspruch des rechtskräftigen Urteils nicht mehr erfasst wird. Dies ist bei der Beurteilung der Frage, ob neue Tatsachen zu einer entscheidungserheblichen Sachlagenänderung führen, zu berücksichtigen.

Die Erheblichkeit der Sachlagenänderung hängt nicht notwendig davon ab, ob die Behörde oder das Gericht, welche die mögliche Rechtskraftbindung zu prüfen haben, auf der Grundlage des neuen Sachverhalts zu einem anderen Ergebnis kommen als das rechtskräftige Urteil. Ergibt sich allerdings eine solche Ergebnisabweichung wegen der geänderten Sachlage, kann regelmäßig davon ausgegangen werden, dass die Rechtskraft des alten Urteils nicht mehr bindet. Andererseits kann die Rechtskraft des früheren Urteils auch enden, wenn eine nachträgliche wesentliche Änderung der Sachlage, etwa ein politischer Umsturz im Heimatland des Asylbewerbers, die im rechtskräftigen Urteil getroffene Entscheidung im Ergebnis bestätigt.

Aus diesen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich, dass die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Widerrufs einer auf einem rechtskräftigen verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsurteil beruhenden Entscheidung des Bundesamts in zwei Schritten vorzunehmen ist. Im ersten Schritt ist zu prüfen, ob die Rechtskraftwirkung des das Bundesamt seinerzeit verpflichtenden Urteils geendet hat, weil neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den damals gegebenen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eine erneute Sachentscheidung gerechtfertigt ist. Noch nicht zu prüfen ist auf dieser Stufe, ob die erneute Sachentscheidung zu einem anderen Ergebnis führt. Wird die Hürde des § 121 VwGO überwunden, weil sich die entscheidungserhebliche Sachlage geändert hat, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die auf der Grundlage des neuen Sachverhalts durchzuführende erneute Prüfung zu einem anderen Ergebnis führt als das rechtskräftige Urteil.

Gemessen an diesen Grundsätzen ist der angefochtene Widerrufsbescheid bereits deshalb rechtswidrig, weil ihm die Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils vom 16.02.1995 - A 5 K 13354/93 - entgegensteht. Auch unter Berücksichtigung der von der Beklagten in diesem Widerrufsbescheid ausführlich dargestellten - insoweit auch unstreitigen - neueren Entwicklung der allgemeinen politischen Verhältnisse in der Türkei hat sich die vom Verwaltungsgericht festgestellte Sachlage, aufgrund derer es die Beklagte verpflichtet hat, den Kläger Ziff. 1 als Asylberechtigten anzuerkennen und das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festzustellen, nachträglich nicht so wesentlich geändert, dass eine Durchbrechung der Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils gerechtfertigt ist.

Urteils des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 16.02.1995 war die Ausreise des Klägers Ziff. 1 durch eine asylerhebliche Verfolgung veranlasst und er war auch im Falle seiner Rückkehr vor einer solchen nicht hinreichend sicher. Die an den Kläger Ziff. 1 gerichteten Forderungen waren mit schweren, im Urteil in Einzelheiten geschilderten Misshandlungen verbunden. Das Verwaltungsgericht Freiburg ging damals davon aus, dass die Behandlung des Klägers Ziff. 1 offenbar das Ziel hatte, ihn wegen des Verdachts mangelnder Loyalität mit dem türkischen Staat und der Sympathie mit der PKK und damit wegen seiner unterstellten politischen Einstellung bzw. wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit zu treffen. Das Gericht konnte nicht ausschließen, dass der Kläger Ziff. 1 auch außerhalb seiner Heimatregion in der Türkei in Polizeikontrollen geraten kann, wobei Rückfragen bei den Behörden in der Heimatregion dazu führen könnten, dass der Kläger Ziff. 1 der Sympathie für die PKK bzw. deren Unterstützung verdächtigt und infolgedessen asylerheblicher Behandlung ausgesetzt wird. Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung lässt sich nicht feststellen, dass den Erkenntnismitteln eine entscheidungserhebliche Änderung der für die damalige Gefahrenprognose wesentlichen Merkmale zu entnehmen ist. Auch den nunmehr vorliegenden Erkenntnismit-teln lässt sich nichts dafür entnehmen, dass sich die Wahrscheinlichkeit von drohenden Verfolgungsmaßnahmen für individuell vorverfolgte bzw. vorbelastete türkische Asylbewerber kurdischer Volkszugehörigkeit bei einer Rückkehr in die Türkei geändert hat. Entscheidend sind insoweit nicht die vom Bundesamt in seinem Widerrufsbescheid angeführten Veränderungen der allgemeinen politischen Verhältnisse im Herkunftsland Türkei. Entscheidend ist vielmehr, dass das Gericht auch den neuen Erkenntnismitteln nicht entnehmen kann, dass aufgrund dieser Umstände auch die Gefahr einer drohenden individuellen Verfolgung des Klägers Ziff. 1 weggefallen ist (vgl. hierzu Hailbronner, AuslR, Band III, § 73 AsylVfG, Rn 19).

Die Frage, ob der vorverfolgt ausgereiste und im Jahr 1995-vor weiterer Verfolgung nicht hinreichend sichere Kläger Ziff. 1 im Hinblick auf die von der Beklagten im Widerrufsbescheid angeführte neuere tatsächliche Entwicklung in der Türkei dort gegenwärtig und in absehbarer Zeit vor politischer Verfolgung hinreichend sicher wäre, lässt sich - wie bereits zum Zeitpunkt des Ergehens des rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts Freiburg - nicht mit Hilfe von Erkenntnissen zur allgemeinen Behandlung von in die Türkei - freiwillig oder im Wege der Abschiebung - zurückkehrenden (abgelehnten) Asylbewerbern prognostizieren. Der Kläger Ziff. 1 ist vielmehr denjenigen türkischen Asylbewerbern zuzurechnen, deren zu beurteilende Rückkehr- und Gefährdungssituation - nach wie vor - nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (vgl. nur Urt. v. 25.11.2004 - A 12 S 1189/04 -, juris Rn. 56 ff.) durch "Besonderheiten" geprägt ist.

Trotz der vom Bundesamt im Widerrufsbescheid geschilderten Gesetzesreformen und der umfassenden politischen Reformbemühungen der jüngeren Vergangenheit (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Urt. v. 09.02.2006 - A 12 S 1505/04 -, juris Rn. 31 ff.) findet in der Türkei weiterhin individuelle politische Verfolgung statt. Dass die positiv anzuerkennenden Reformen staatliche Repressionen in asylrelevanter Intensität ausschließen sollten und sollen, bedeutet gerade nicht, dass sie tatsächlich hinreichend sicher ausgeschlossen wurden und werden. Die türkischen Sicherheitskräfte sind nach wie vor gewillt, - vermeintliche - separatistische Bestrebungen und Unterstützungstätigkeiten zugunsten des linken und kurdenfreundlichen Spektrums mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterbinden. Folter wird in diesem Zusammenhang allerdings seltener als früher und vorwiegend mit anderen, weniger leicht nachweisbaren Methoden praktiziert (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 01.12.2005 - 8 A 4037/05.A -, juris Rn. 12 und - eingehend zur Lage der Menschenrechte und zur Foltergefahr in der Türkei unter Berücksichtigung des im Juni 2005 in Kraft getretenen neuen Strafgesetzbuches - OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A -, juris). Misshandlungen und Folter vollständig zu unterbinden, ist der Regierung jedenfalls bislang noch nicht gelungen (siehe zuletzt Lagebericht des AA vom 11.09.2008, S. 26 und 27).

Unabhängig von einer geänderten strafrechtlichen Bewertung von Aktivitäten für die PKK lässt sich auch den neuen Erkenntnismitteln nichts dafür entnehmen, dass der Kläger Ziff. 1, der wegen des Verdachts der Sympathie mit bzw. der Unterstützung der PKK bereits in Erscheinung getreten ist und aus diesem Grund die besondere Aufmerksamkeit türkischer Sicherheitskräfte erweckt hat, nunmehr hinreichend sicher davor ist, seitens der türkischen Sicherheitskräfte erneut asylrechtlich relevanten Maßnahmen ausgesetzt zu werden. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass der Kläger Ziff. 1 - weiterhin - im Blickfeld türkischer Sicherheitsorgane ist. Auch nach der jetzigen Erkenntnislage werden Kurden in der Türkei - wie auch in der Vergangenheit - nach wie vor häufig Opfer von Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Intensität, die trotz der umfassenden Reformbemühungen, insbesondere der "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter weiterhin dem türkischen Staat zurechenbar sind. Auch im Widerrufsbescheid werden keine neuen Erkenntnisse oder wesentlichen Umstände aufgezeigt, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Annahme einer hinreichenden Verfolgungssicherheit in der Türkei auch für solche Rückkehrer rechtfertigen, die aus politischen Gründen in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten waren und bei denen sich ein aus der Zeit vor ihrer Ausreise fortbestehender Separatismusverdacht ergibt.

Die Annahme, dass in den Fällen vorverfolgter Asylbewerber aus der Türkei nunmehr generell eine hinreichende Verfolgungssicherheit besteht, ist auch nicht aufgrund des in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (zuletzt vom 11.09.2008, S. 32 und 33) hervorgehobenen Umstandes gerechtfertigt, dass in jüngerer Zeit keine Fälle bekannt geworden sind, in denen in die Türkei zurückgekehrte abgelehnte Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden wären. Denn im Rahmen der Risikobewertung ist zu berücksichtigen, dass sich nach den vorliegenden Erkenntnissen weder unter den freiwillig Zurückgekehrten noch unter den Abgeschobenen Personen befunden haben, die Mitglieder oder Kader der PKK oder einer anderen illegalen, bewaffneten Organisation gewesen sind oder als solche verdächtigt worden sind (vgl. Kaya, Gutachten v. 08.08.2005 an VG Sigmaringen). Derartige Personen sind in der Vergangenheit nach der insoweit einheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland entweder als Asylberechtigte anerkannt worden oder ihnen ist zumindest Abschiebungsschutz gewährt worden. Aus dem Fehlen von Referenzfällen kann deshalb nicht der Schluss gezogen werden, dass nunmehr alle in die Türkei zurückkehrenden Asylbewerber kurdischer Volkszugehörigkeit unabhängig von den Umständen und Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls vor politischer Verfolgung sicher seien (vgl. hierzu ausführlich unter Zugrundelegung der aktuellen Erkenntnismittel: OVG Niedersachsen, Urt. v. 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -, juris).

Zu berücksichtigen ist ferner, dass die zahlreichen positiven Ansätze insbesondere im legislativen Bereich und die Entwicklung, die die Türkei zuletzt genommen hat, nicht unumkehrbar sind. Die Überzeugung von der Notwendigkeit, die Menschenrechte auch und gerade in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner zu achten, ist noch nicht dauerhaft im Bewusstsein der Menschen verwurzelt. Die Menschenrechtsorganisationen gehen von einer erheblichen Dunkelziffer aus. Die Menschenrechtspraxis bleibt nach wie vor hinter den - wesentlich verbesserten - rechtlichen Rahmenbedingungen zurück. Die neuerliche Zunahme von Spannungen im Südosten der Türkei hat im Übrigen dazu geführt, dass das türkische Parlament am 29.06.2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft hat (OVG Niedersachsen, Urt. v. 18.07.2006, a.a.O.). [...]