VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 28.05.2009 - A 7 K 1811/08 - asyl.net: M15731
https://www.asyl.net/rsdb/M15731
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung eines Kurden aus der Türkei, der wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK vorverfolgt ist.

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, PKK, Unterstützung, Verdacht der Unterstützung, Änderung der Sachlage, Begründungserfordernis, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Reformen, politische Entwicklung, Menschenrechtslage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Klage ist auch mit dem Hauptantrag begründet; über den Hilfsantrag war daher nicht mehr zu entscheiden. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15.04.2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (nunmehr nach § 60 Abs. 1 AufenthG Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft) liegen nicht vor. [...]

Dies dürfte bereits deshalb gelten, weil das Bundesamt bei seiner Entscheidung zu § 51 Abs. 1 AuslG vom 07.03.1995 auf die Umstände des Einzelfalles nicht näher eingegangen ist und nicht nachvollziehbar dargelegt hat, von welchen tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen und Überlegungen es hierbei ausgegangen ist. Diese Vorgehensweise steht einer sachgerechten Prüfung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, ob eine nachträgliche entscheidungserhebliche Veränderung der maßgeblichen allgemeinen Verhältnisse im Vergleich zu denjenigen zum Zeitpunkt der Entscheidung über das Abschiebungsverbot nach § 51 Abs. 1 AuslG vorliegt oder ob/und eine derartige Veränderung bezüglich der speziell den Kläger betreffenden Verhältnisse dargetan oder sonst ersichtlich ist, von vornherein entgegen. Die Bezugnahme auf einen im Bescheid vom 07.03.1995 selbst nicht wiedergegebenen, vom Kläger "geschilderten Sachverhalt" sowie auf nicht näher genannte "hier vorliegende Erkenntnisse" schafft keine Klarheit darüber, worauf die Annahme des Bundesamts beruht, dass der Kläger "im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit asylrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen rechnen muss". Mit den gewählten Formulierungen wird gerade nicht objektiv eindeutig zum Ausdruck gebracht, welche konkreten Verhältnisse in der Türkei im März 1995 der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG in der Person des Klägers zugrunde gelegt worden sind. Im Übrigen kommt es nicht darauf an, was die Behörde - subjektiv - mit ihren Ausführungen in der Entscheidung vom 07.03.1995 gewollt hat.

Selbst wenn man aber davon ausgeht, dass zur Ermittlung des objektiven Erklärungsinhalts der Entscheidung vom 07.03.1995 auch die Angaben des Klägers im Rahmen seiner Anhörung am 30.11.1994 herangezogen werden dürfen, spricht dies in seinem Fall nicht für eine nachträgliche erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der für die Gewährung von Abschiebungsschutz maßgeblichen Verhältnisse.

Unter Zugrundelegung der Angaben des Klägers im Rahmen seiner Bundesamtsanhörung am 30.11.1994 ist davon auszugehen, dass dieser die Türkei vorverfolgt verlassen hat. Denn er hat vorgetragen, dass er vor seiner Ausreise wegen seiner Unterstützungstätigkeit für die PKK-Guerillas mehrfach festgenommen und unter erheblichen körperlichen Misshandlungen auf der Polizeiwache in Idil verhört worden ist. Nachdem er nach seiner letzten Freilassung untergetaucht war und von den Sicherheitskräften erneut gesucht wurde, entschloss er sich zur Flucht aus der Türkei. [...]

Die Frage, ob der im Jahr 1994 unmittelbar von politischer Verfolgung bedrohte Kläger im Hinblick auf die von der Beklagten im Widerrufsbescheid angeführte neuere tatsächliche Entwicklung in der Türkei dort gegenwärtig und in absehbarer Zeit vor politischer Verfolgung hinreichend sicher wäre, lässt sich nicht mit Hilfe von Erkenntnissen zur allgemeinen Behandlung von in die Türkei - freiwillig oder im Wege der Abschiebung - zurückkehrenden (abgelehnten) Asylbewerbern prognostizieren. Der Kläger ist vielmehr denjenigen türkischen Asylbewerbern zuzurechnen, deren zu beurteilende Rückkehr- und Gefährdungssituation - nach wie vor - nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (vgl. nur Urt. v. 22.07.1999 - A 12 1891/97-, v. 07.10.1999-A 12 S 981/97-, v. 10.11.1999 - A 12 S 2013/97 - und v. 22.03.2001 - A 12 S 280/00 - v. 07.05.2002 - A 12 S 196/00 - und vom 25.11.2004 - A 12 S 1189/04) durch "Besonderheiten" geprägt ist. Davon ausgehend ist nach wie vor nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei wegen des Verdachts, die PKK zu unterstützen erneut politische Verfolgung droht in Gestalt von Verhaftungen und Misshandlungen bis hin zur Folter. Denn es gibt keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass sich die für seine Ausreise maßgebliche Verfolgungssituation entscheidend zu seinen Gunsten geändert hätte. Der Kläger ist wegen Unterstützung der PKK bzw. des Verdachts von Unterstützungshandlungen bereits in Erscheinung getreten und hat aus diesem Grund die besondere Aufmerksamkeit türkischer Sicherheitskräfte erweckt. Es kann daher nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass er weiterhin im Blickfeld türkischer Sicherheitsorgane ist und bei Verhören unangemessenen, asylrechtlich relevanten Methoden ausgesetzt sein wird. Dies zu widerlegen hat das Bundesamt in seiner Widerrufsentscheidung jedenfalls nicht vermocht. Denn es wurden in der Vergangenheit und werden nach wie vor Kurden in der Türkei häufig Opfer von Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Intensität, die trotz der umfassenden Reformbemühungen, insbesondere der "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter weiterhin dem türkischen Staat zurechenbar sind, weshalb verfolgt ausgereiste Kurden auch gegenwärtig vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sind. Unter Berücksichtigung dessen werden im Widerrufsbescheid keine neuen Erkenntnisse oder wesentliche Umstände aufgezeigt, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Annahme einer hinreichenden Verfolgungssicherheit in der Türkei auch für solche Rückkehrer rechtfertigen, die aus politischen Gründen in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten waren und bei denen sich ein aus der Zeit vor ihrer Ausreise fortbestehender Separatismusverdacht ergibt. [...]

Das Bundesamt hat angenommen, dass eine entscheidungserhebliche Änderung der Sachlage u.a. im Hinblick auf im Widerrufsbescheid näher wiedergegebene neuere Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes vorliegt. Trotz der geschilderten Gesetzesreformen und der umfassenden politischen Reformbemühungen der jüngeren Vergangenheit (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Urt. v. 09.02.2006 - A 12 S 1505/04 -; Niedersächs. OVG, Urt. v. 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -, Juris; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25.10.2007, S. 28 ff.) findet jedoch in der Türkei weiterhin individuelle politische Verfolgung statt. Dass die positiv anzuerkennenden Reformen staatliche Repressionen in asylrelevanter Intensität ausschließen sollten und sollen, bedeutet gerade nicht, dass sie tatsächlich hinreichend sicher ausgeschlossen wurden und werden. Die türkischen Sicherheitskräfte sind nach wie vor gewillt, - vermeintliche - separatistische Bestrebungen und Unterstützungstätigkeiten zugunsten des linken und kurdenfreundlichen Spektrums mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterbinden. Folter wird in diesem Zusammenhang allerdings seltener als früher und vorwiegend mit anderen, weniger leicht nachweisbaren Methoden praktiziert (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 01.12.2005 - 8 A 4037105 - m.w.N. und - eingehend zur Lage der Menschenrechte und zur Foltergefahr in der Türkei unter Berücksichtigung des im Juni 2005 in Kraft getretenen neuen Strafgesetzbuches - OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 19.04.2005 - 8 A 273/04. - A und v. 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A -; Kaya, Gutachten v. 08.08.2005 an VG Sigmaringen und v. 10.09.2005 an VG Magdeburg; Taylan, Gutachten v. 21.07.2005 an VG Sigmaringen). Misshandlungen und Folter vollständig zu unterbinden, ist der Regierung jedenfalls bislang noch nicht gelungen (Lageberichte des AA vom 11.11.2005, S. 31, und vom 27.07.2006, S. 34 und 35; Lageberichte des AA vom 11.01.2007, vom 25.10.2007, S. 29 und vom 11.09.2008; vgl. auch Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 06.11.2007; Schweizerische Flüchtlingshilfe (Hrsg.), Türkei - Zur aktuellen Situation - Oktober 2007, S. 9 und Aktuelle Entwicklungen, Information vom 09.10.2008).

Die Annahme, dass in den Fällen vorverfolgter Asylbewerber aus der Türkei nunmehr generell eine hinreichende Verfolgungssicherheit besteht, ist auch nicht aufgrund des in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (zuletzt vom 11.09.2008) hervorgehobenen Umstandes gerechtfertigt, dass in den vergangenen Jahren keine Fälle bekannt geworden sind, in denen in die Türkei abgeschobene Personen gefoltert oder misshandelt worden wären. Denn im Rahmen der Risikobewertung ist zu berücksichtigen, dass sich nach den vorliegenden Erkenntnissen unter den Zurückgekehrten oder Abgeschobenen keine Personen befunden haben, die Mitglieder oder Kader der PKK oder einer anderen illegalen, bewaffneten Organisation gewesen sind oder als solche verdächtigt worden sind (vgl. Kaya, Gutachten v. 08.08.2005 an VG Sigmaringen). Derartige Personen sind in der Vergangenheit nach der insoweit einheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland entweder als Asylberechtigte anerkannt worden oder ihnen ist zumindest Abschiebungsschutz gewährt worden. Aus dem Fehlen von Referenzfällen kann deshalb nicht der der Schluss gezogen werden, dass nunmehr alle in die Türkei zurückkehrenden Asylbewerber kurdischer Volkszugehörigkeit unabhängig von den Umständen und Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls vor politischer Verfolgung sicher seien (vgl. hierzu ausführlich unter Zugrundelegung der auch zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens gemachten aktuellen Erkenntnismittel: OVG Niedersachsen, Urt. v. 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -, Juris und Beschl. v. 14.09.2006 - 11 LA 43/06 -; zur Beurteilung der Gefährdungssituation von Rückkehrern bei Vorliegen von "Besonderheiten" vgl. auch Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urt. v. 22.07.1999 - A 12 1891/97 -, v. 07.10.1999 - A 12 S 981/97 -, v. 10.11.1999 - A 12 S 2013/97 - und v. 22.03.2001 - A 12 S 280/00 -, v. 07.05.2002 - A 12 S 196/00 - und vom 25.11.2004 - A 12 S 1189/04).

Zu berücksichtigen ist ferner, dass die zahlreichen positiven Ansätze insbesondere im legislativen Bereich und die Entwicklung, die die Türkei zuletzt genommen hat, nicht unumkehrbar sind. Die Überzeugung von der Notwendigkeit, die Menschenrechte auch und gerade in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner zu achten, ist noch nicht dauerhaft im Bewusstsein der Menschen verwurzelt. Die Menschenrechtsorganisationen gehen von einer erheblichen Dunkelziffer aus. Die Menschenrechtspraxis bleibt nach wie vor hinter den - wesentlich verbesserten - rechtlichen Rahmenbedingungen zurück. Die neuerliche Zunahme von Spannungen im Südosten der Türkei hat im Übrigen dazu geführt, dass das türkische Parlament am 29.06.2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft hat (OVG Niedersachsen, Urt. v. 18.07.2006 a.a.O.). Auch diese Gesetzesänderungen geben nach Auffassung der EG-Kommission Anlass zur Besorgnis, weil sie geeignet sind, die Bemühungen um die Bekämpfung von Folter und Misshandlung zu untergraben (vgl. Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 08.11.2006, S. 15, 70, sowie vom 06.11.2007, [http://ec.europa.eu]; Schweizerische Flüchtlingshilfe (Hrsg.), a.a.O., S. 6 f.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 17.04.2007 - 8 A 2771/06.A -). Insbesondere diese Änderungen weisen darauf hin, dass der Reformprozess sich nicht nur verlangsamt hat (so aber der Lagebericht vom 25.10.2007, S. 8), sondern dass deutliche Rückschritte zu verzeichnen sind (Schweizerische Flüchtlingshilfe (Hrsg.), a.a.O., S. 6). Dies gilt umso mehr, als die Auseinandersetzung mit der PKK die Regierung innenpolitisch unter zusätzlichen Druck der Öffentlichkeit, der Opposition, der Sicherheitskräfte und des Generalstabs setzt (Lagebericht vom 25.10.2007, S. 8). Mit der Zuspitzung der Lage im Südosten ist der Ruf insbesondere von Seiten der Militärführung nach schärferen Gesetzen und härterem Vorgehen gegen die PKK-Guerilla und deren Sympathisanten immer lauter geworden (Niedersächs. OVG, Urt. v. 18.07.2006, a.a.O.). Insgesamt ist nach allem noch keine dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten, die den Schluss zuließe, dass der vorverfolgte Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist. [...]