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OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.06.2009 - 4 MB 35/09 - asyl.net: M15741
https://www.asyl.net/rsdb/M15741
Leitsatz:

Hält sich ein ausreisepflichtiger Ausländer außerhalb des Gebietes auf, auf das sein Aufenthalt gem. § 61 Abs. 1 AufenthG beschränkt ist, ist dennoch die Ausländerbehörde des tatsächlichen Aufenthaltsortes für die Erteilung einer Duldung zuständig, wenn spezifische örtliche Bindungen (hier: familiäre Lebensgemeinschaft mit Lebensgefährtin und gemeinsamer Tochter) bestehen.

Schlagwörter: D (A), Duldung, Ausländerbehörde, Zuständigkeit, örtliche Zuständigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt, Schutz von Ehe und Familie, nichteheliche Kinder, familiäre Lebensgemeinschaft, räumliche Beschränkung, Verlassenserlaubnis
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; LVwG § 31 Abs. 1 Nr. 3a; SGB I § 30 Abs. 3; AufenthG § 61 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 1; AufenthG § 12 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Beschwerde ist nicht begründet. [...]

Der Antragsgegner ist die für die beantragte Erteilung einer Duldung örtlich zuständige Ausländerbehörde.

Das Aufenthaltsgesetz regelt die örtliche Zuständigkeit der Ausländerbehörde nicht. Vielmehr wird die Bestimmung der örtlich zuständigen Ausländerbehörde dem jeweiligen Landesgesetzgeber überlassen. Nach § 31 Abs. 1 Nr. 3 a LVwG ist in anderen Angelegenheiten - um eine solche handelt es sich hier -, die eine natürliche Person betreffen, die Behörde zuständig, in deren Bereich die natürliche Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte.

Der Antragsteller hat nach den bisherigen Erkenntnissen seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Norderstedt und damit im Bezirk des Antragsgegners.

Da weder das Landesverwaltungsgesetz noch das Aufenthaltsgesetz den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts näher regeln, ist für die Auslegung des Begriffs auf die Legaldefinition des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I zurückzugreifen. Danach kommt es darauf an, wo sich jemand unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Ein gewöhnlicher Aufenthalt wird dadurch begründet, dass sich der Betroffene an den Ort oder in dem Gebiet "bis auf weiteres" im Sinne eines "zukunftsoffenen Verbleibs" aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (BVerwG, Urt. v. 07.07.2005 - 5 C 9.04 -, NVwZ 2006, 97).

Nach den Ausführungen des Verwaltungsgerichts im angefochtenen Beschluss hält sich der Antragsteller nach seinem eigenen sowie dem durch eidesstattliche Versicherung bekräftigten Vorbringen seiner Lebensgefährtin zur Zeit in deren Wohnung in Norderstedt auf und lebt dort in familiärer Lebensgemeinschaft mit dieser sowie der gemeinsamen Tochter. Ob dies auch in der Vergangenheit - insbesondere zum Zeitpunkt des Vermerks vom 17.10.2008 -, auf den die Beschwerde abhebt, der Fall gewesen ist, kommt es - wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat - nicht an. Allerdings ist der Aufenthalt des Antragstellers dort illegal, weil er nach bestandskräftiger Ablehnung der Verlängerung einer ihm von der Ausländerbehörde Berlin erteilten Aufenthaltserlaubnis vollziehbar ausreisepflichtig und deshalb gemäß § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG sein Aufenthalt auf das Gebiet des Landes Berlin beschränkt ist. Ein zukunftsoffener Verbleib im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann jedoch auch an einem illegalen Aufenthaltsort angenommen werden. Bei der Klärung der Frage der örtlichen Zuständigkeit der Ausländerbehörde in Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt, der eine in die Zukunft gerichtete Prognose erfordert (BVerwG, Urt. v. 04.06.1997 - 1 C 25.96 -, NVwZ-RR 1997, 751), kann nicht außer Betracht bleiben, aus welchen Gründen der Ausländer nunmehr einen Aufenthaltstitel bzw. in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Duldung begehrt (so schon Beschl. d. Senats v. 02.10.2007 - 4 MB 77/07 -). Folgt daraus eine spezifische schutzwürdige örtliche Bindung - wie hier jedenfalls aus der geltend gemachten gemäß Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdigen familiären Beziehung zu dem gemeinsamen Kind des Antragstellers und seiner Lebensgefährtin, die sich in Norderstedt aufhalten und denen ein Umzug nach Berlin nicht angesonnen werden kann - ändert dies zwar nichts daran, dass sich der Antragsteller derzeit (noch) zu Unrecht in Norderstedt aufhält, gleichwohl ist sein Aufenthalt dort "zukunftsoffen", weil im Falle des Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis der Aufenthalt in Norderstedt mit der Erteilung legalisiert wäre. Dies bedeutet, dass die Frage der örtlichen Zuständigkeit nicht losgelöst von dem geltend gemachten materiellen Anspruch gesehen werden kann (ebenso OVG Hamburg, Beschl. v. 26.04.2006 - 4 Bs 66/06 -, NordÖR 2006, 315 für den Fall einer begehrten Duldung). Die im vorliegenden Fall im Streit stehende Duldung, verbunden mit der Ermöglichung des Aufenthalts in Schleswig-Holstein, könnte die Ausländerbehörde Berlin wegen der kraft Gesetzes bestehenden räumlichen Beschränkung nach § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ohnehin nicht erteilen.

Der Antragsteller kann nicht darauf verwiesen werden, zunächst von der Ausländerbehörde Berlin eine Verlassenserlaubnis gemäß § 12 Abs. 5 AufenthG zu erstreiten. Eine solche Erlaubnis ermächtigt nur zum vorübergehenden Verlassen des beschränkten Aufenthaltsbereichs, nicht zur dauerhaften Wohnsitznahme in einem anderen Bundesland (OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 05.04.2006 - 2 M 133/06 -). Im Hinblick auf den gewöhnlichen Aufenthalt, der Anknüpfungspunkt für die örtliche Zuständigkeit ist, ändert die Verlassenserlaubnis mithin nichts. [...]