VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Beschluss vom 12.05.2009 - 8 AE 189/09 - asyl.net: M15750
https://www.asyl.net/rsdb/M15750
Leitsatz:

Der Ausschluss des Eilrechtsschutzes gem. § 34 a Abs. 2 AsylVfG setzt voraus, dass die Voraussetzungen des § 34 a Abs. 1 AsylVfG tatsächlich vorliegen und nicht lediglich vom Bundesamt behauptet werden; vorläufiger Stopp der Dublin-Überstellung nach Griechenland wegen menschenrechtswidriger Verhältnisse in den dortigen Asylbewerberlagern und einem nicht rechtlichen Mindeststandards entsprechenden Asylverfahrens.

Schlagwörter: Verfahrensrecht, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Verordnung Dublin II, unzulässiger Asylantrag, Abschiebungsanordnung, Drittstaatenregelung, normative Vergewisserung, Griechenland, Aufnahmebedingungen, Asylverfahrensrichtlinie, Anerkennungsrichtlinie, Selbsteintrittsrecht, Ermessen, Anspruch
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2; GG Art. 19 Abs. 4; AsylVfG § 27a; GG Art. 16a Abs. 2; AsylVfG § 26a; VwGO § 123 Abs. 1; VO EG Nr. 343/2003 Art. 3 Abs. 2; AsylVfG § 31 Abs. 1
Auszüge:

Der Ausschluss des Eilrechtsschutzes gem. § 34 a Abs. 2 AsylVfG setzt voraus, dass die Voraussetzungen des § 34 a Abs. 1 AsylVfG tatsächlich vorliegen und nicht lediglich vom Bundesamt behauptet werden; vorläufiger Stopp der Dublin-Überstellung nach Griechenland wegen menschenrechtswidriger Verhältnisse in den dortigen Asylbewerberlagern und einem nicht rechtlichen Mindeststandards entsprechenden Asylverfahrens.

(Leitsatz der Redaktion)

[...]

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

1. Der Antrag ist zulässig. Insbesondere steht § 34 a Abs. 2 AsylVfG der Statthaftigkeit des Antrags nicht entgegen.

Gemäß § 34a Abs. 2 AsylVfG darf eine Abschiebungsanordnung nach Absatz 1 der Vorschrift nicht nach § 80 oder 123 VWGO ausgesetzt werden Dies ist jedoch im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG so auszulegen, dass die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG tatsächlich gegeben sein müssen, das heißt, es muss um die Abschiebung des Ausländers in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) gehen. Nur wenn diese Voraussetzungen materiell-rechtlich vorliegen, nicht aber wenn ihr Vorliegen lediglich behauptet wird, kann der Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes greifen.

a. Im Rahmen der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung kann vorliegend offenbleiben, ob § 34a Abs. 2 AsylVfG bereits deshalb nicht anwendbar ist, weil die Antragsgegnerin den Antragsteller in den Anhörungen vom 07.01.2009 und vom 23.01.2009 zu seinem Verfolgungsschicksal angehört hat, und damit von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 VO (EG) Nr. 343/2000 (Dublin II) Gebrauch gemacht hat, mit der Folge, dass Griechenland nicht (mehr) zuständiger Staat im Sinne der Dublin II-Verordnung wäre (hierzu: VG Hamburg, B. v. 19.08.2008. 8 AE 356/08 - zit. nach Juris).

b. Selbst wenn es sich bei Griechenland (noch) um den im Sinne des § 27a AsylVfG für den Antragsteller zuständigen Staat handelt, ist aufgrund der derzeitigen Zustände in Griechenland einstweiliger Rechtsschutz gegen die Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland in verfassungskonformer Auslegung des § 34a AsylVfG möglich.

Entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Drittstaatenregelung (U. v. 14.05.1996, Az: 2 BvR 1938, 2315/93 - zit. nach Juris) ist die Vorschrift des § 34a AsylVfG auch im Hinblick auf die Fälle des § 27a AsylVfG verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass sie entgegen ihrem Wortlaut die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit geplanten Abschiebungen auf Grundlage der VO (EG) Nr. 343/2003 (Dublin II) nicht generell verbietet, sondern derartiger Rechtsschutz in Ausnahmefällen nach den allgemeinen Regeln möglich bleibt. Eine Prüfung, ob der Überstellung in den nach europäischem Recht für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, kann der Ausländer entgegen des Wortlauts des § 34a Abs. 2 AsylVfG bzw. Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG erreichen, wenn sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass er von einem der im normativen Vergewisserungskonzept des Art. 16a Abs. 2 GG und der §§ 26a, 27a, 34a AsylVfG nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist (VG Düsseldorf, B. v. 22.12.2008, Az: 13 L 1993/08; VG Gießen, B. v. 25.04.2008, Az: 2 L 201/08.GI.A - beides zit. nach Juris; mwN). Denn Rechtfertigung des generellen Ausschluss einstweiligen Rechtsschutzes in § 34a Abs. 2 AsylVfG ist der Gedanke des "normativen Vergewisserungskonzeptes", nach welchem es sich bei den Mitgliedstaaten der Europäischen Union per se um sichere Drittstaaten i.S.d. Art, 16 a Abs. 2 GG bzw. § 26 a AsylVfG handelt, in denen die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) generell sichergestellt ist, so dass der Ausländer sich nicht darauf berufen kann, in seinem Einzelfall sei dies nicht der Fall. Werden Abschiebungshindernisse nach § 60 AufenthG allerdings durch Umstände begründet, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können, so kann der Ausländer, wenn er einen derartigen Ausnahmefall substantiiert darlegt, eine Prüfung erreichen, ob der Zurückweisung oder sofortigen Rückverbringung in den Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen (BVerfG, a.a.O.). In diesem Fall ist § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht anwendbar, da er keine über Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG hinausgehende Regelung trifft und Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG nicht über die Grenzen hinausreicht, die denn Konzept normativer Vergewisserung gesetzt sind (BverfG, a.a.O.).

Das Bundesverfassungsgericht nennt als Beispielsfälle für vom Konzept der normativen Vergewisserung nicht erfasste Gefährdungstatbestände die drohende Todesstrafe im Drittstaat, eine erhebliche konkrete Gefahr, dass der Ausländer in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verbringung in den Drittstaat dort Opfer eines Verbrechens wird, oder den Fall, dass sich die für die Qualifizierung als sicher maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung bzw. des Gesetzgebers hierauf noch aussteht (BVerfG, a.a.O.). Dem wird man eine Konstellation gleichstellen müssen, in der in einem Aufnahmeland eine Verletzung von Kernanforderungen der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) festzustellen ist, die mit einer Gefährdung des Betroffenen in seinem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art, 2 Abs. 2 Satz 1 GG einhergeht (VG Gießen a.a.O.; VG Düsseldorf a.a.O.).

Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass in Griechenland derzeit eine solche Situation besteht. Mit der Abschiebung nach Griechenland drohen dem Antragsteller unzumutbare Nachteile, nämlich menschenrechtswidrige Verhältnisse in den dortigen Asylbewerberlagern und ein auch nicht annähernd rechtlichen Mindeststandards entsprechendes Asylverfahren. Nach der dem Gericht vorliegenden Erkenntnislage leidet das griechische Asylverfahren an erheblichen Mängeln, was die Art und Weise der Bearbeitung von Asylanträgen, den Zugang zu Dolmetschern und Rechtsanwälten, die menschenwürdige Unterbringung und die Gewährung effektiven Rechtsschutzes gegen ablehnende Entscheidungen betrifft. Wegen der Einzelheiten wird verwiesen auf: Frankfurter Rundschau Bericht vom 06.08.2008; Süddeutsche Zeitung Bericht vom 19.06.2008; NZZ Online Bericht vom 19.04.2008; UNHCR Positionspapier zur Überstellung von Asylsuchenden nach Griechenland nach der Dublin II-Verordnung vom 15.04.2008; UNHCR Positionspapier 01.12.2008 (Asylmagazin 12/2008, S. 23 f.); sowie die Darstellungen in den Entscheidungen das Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 23. Juni 2008 - Az. A 3 K 1412/08; des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 8. Juli 2008 - Az. 6 B 30/08; des Verwaltungsgerichts Gießen vom 25.04.2008 - Az. 2 L 201/08.GI.A; des VG Ansbach vom 22. Juli 2008 - Az. AN 3 E 08.30292; des VG Düsseldorf vom 22.12.2008 - Az. 13 L 13993/08.A). Nach dem Positionspapier des UNCHR vom 15.04.2008 ist insbesondere die Stellung von Flüchtlingen aus dem Irak durch eine extrem hohe Ablehnungsquote und das Fehlen von Informationen über das Verfahren und Dolmetscher gekennzeichnet.

Zwar hat die griechische Regierung zwischenzeitlich die Richtlinie 2005/85/EG (sog. Asylverfahrensrichtlinie) und die Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) in das griechische Recht umgesetzt. Der UNHCR bleibt in einem Positionspapier vorn 01.12.2008 (Asylmagazin 12/2008, S. 23 f.) aber bei seiner Einschätzung, angesichts der sich noch ausweitenden Überlastungssituation sei aus Sicht des UNHCR weiterhin von Überstellungen nach Griechenland abzusehen, weil Asylsuchende, einschließlich "Dublin-Rückkehrer" in Griechenland weiterhin übermäßigen Härten ausgesetzt seien, was die Anhörung (Einsatz von Dolmetschern), die Frage der Unterkunft und die angemessene Bearbeitung ihrer Anträge betrifft. Diese Bewertung der aktuellen Situation Asylsuchender in Griechenland wird durch Herrn Kopp, Europareferent von Pro Asyl, in seinem Bericht vom 13. November 2008 (Asylmagazin 12/2008, S. 24 ff.) über seine Informationsreise nach Griechenland in der Zeit vom 20. bis 28. Oktober 2008 nachhaltig gestützt. Auch aus der aktuellen Stellungnahme von Pro Asyl vom 19.02.2009 (Asyldokumentation VG Hamburg, Dublin II-Abkommen, G1/09), basierend auf einem erneuten Aufenthalt in Griechenland vom 15. Januar bis zum 25. Januar 2009, ergeben sich deutliche Anhaltspunkte dafür, dass das Asylverfahren in Griechenland (auch für Dublin II-Fälle) nicht in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Der UNHCR kommt in seiner Stellungnahme an das Verwaltungsgericht Hamburg vom 27.02.2009 zum Verfahren 8 AE 43/09 (Asyldokumentation des VG Hamburg, Dublin II-Abkommen, G2/09) zur Einschätzung, die europäischen Regierungen sollten von einer Rücküberstellung nach Griechenland Abstand nehmen und von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen, weil die Lage der Flüchtlinge in Griechenland trotz gewisser begrüßenswerter Anstrengungen, sie zu verbessern, nach wie vor desolat und das Recht, Asyl zu suchen und zu genießen, ernsthaft korrodiert sei.

Die Antragsgegnerin ist diesen Informationen zur tatsächlichen Situation von Asylsuchenden in Griechenland nicht substantiiert entgegengetreten. Dass die Antragsgegnerin bei bestimmten besonders schutzbedürftigen Personen von einer Überstellung absieht, ist zwar begrüßenswert, ändert für das vorliegende Verfahren aber nichts, da der Antragsteller diesem Personenkreis ausweislich eines sich in der Sachakte befindenden Vermerks vom 24.04.2009 nicht zugeordnet worden ist. Die Antragsgegnerin räumt in ihrer Stellungnahme in diesem Verfahren ein, dass es in Griechenland "gegenwärtig und auch noch in der Zukunft Schwierigkeiten bei der Durchführung von Asylverfahren und der Bereitstellung ausreichender Kapazitäten geben kann, die im Einzelfall gegenüber dem betroffenen Ausländer zu persönlichen Härten und Schwierigkeiten führen können". Soweit hieraus indes die Schlussfolgerung gezogen wird, es seien keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass der Antragsteller nicht in der Lage wäre "mit der Situation in Griechenland umgehen zu können", teilt das Gericht die hiermit verbundene Einschätzung, es drohten lediglich im Einzelfall Härten und Schwierigkeiten, nicht. Aus der Auskunftslage (vgl. oben) ergeben sich massive Anhaltspunkte dafür, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt.

2. Angesichts der geschilderten, den Antragsteller bei einer Überstellung nach Griechenland erwartenden Umstände, erweist sich der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz als begründet.

Es ist nach dem oben dargelegten (mindestens) offen, ob die beabsichtigte Ablehnung des Asylantrags als unzulässig aufgrund Zuständigkeit eines anderen Staates und die Abschiebungsanordnung sich im Hauptsacheverfahren als rechtmäßig erweisen. Gemäß dem sich in der Akte befindlichen nicht datierten Entwurf ist eine derartige Entscheidung beabsichtigt. Mangels Bekanntgabe handelt es sich zurzeit lediglich um einen Entscheidungsentwurf.

Jedenfalls in einer Konstellation wie der vorliegenden dürfte Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO dem Ausländer ein subjektives Recht auf eine ermessenfehlerfreie Entscheidung über die Ausübung des Selbsteintrittsrechts gewähren (VG Düsseldorf, a.a.O.), welches angesichts des nur pauschalen Hinweises im Vermerk vom 24.04.2009, der Antragsteller gehöre nicht zu dem besonders schutzwürdigen Personenkreise, verletzt sein dürfte. Im Falle einer Ausnahmesituation hält das Bundesverfassungsgericht nicht nur den Ausschluss einstweiligen Rechtsschutzes in § 34a AsylVfG für unanwendbar, sondern geht von einer positiven Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland aus, "Schutz zu gewähren, wenn Abschiebungshindernisse nach § 51 Abs. 1 oder § 53 AuslG durch Umstände begründet werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können" (BVerfG, a.a.O.).

Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (mindestens) offen, überwiegt angesichts der dargestellten Zustände in Griechenland das Interesse des Antragstellers am vorübergehenden Verbleib in der Bundesrepublik, ohne dass dies weiterer Begründung bedürfte.

3. Die einstweilige Anordnung war auf den Ablauf von zwei Wochen nach dem Zugang einer Entscheidung über den Asylantrag des Antragstellers zu befristen. Die Antragsgegnerin hat über diesen Antrag unverzüglich - sei es auf der Ebene der Zulässigkeit, sei es in der Sache - zu entscheiden (§ 31 Abs. 1 S. 2 AsylVfG). Die Frist von zwei Wochen ab Zugang des Bescheides sichert die Möglichkeit ab, mit der Klagerhebung die aufschiebende Wirkung der Klage zu beantragen. Da vorliegend mit dem Verfahren 8 A 188/09 bereits eine Klage (als Untätigkeitsklage) erhoben ist, wäre nach Bekanntgabe einer negativen Entscheidung die Klage entsprechend umzustellen und ggf. die aufschiebende Wirkung zu beantragen. Durch die gewählte Tenorierung ist sichergestellt, dass der Antragsteller in angemessener Zeit eine Entscheidung erhält und in das Hauptsacheverfahren eingetreten werden kann. [...]