VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 31.07.2009 - 18 L 194.09 - asyl.net: M15960
https://www.asyl.net/rsdb/M15960
Leitsatz:

Lässt sich das Alter eines Ausländers, der als unbegleiteter Minderjähriger in Obhut genommen worden ist, im Eilverfahren nicht sicher feststellen, spricht die Folgenabwägung dafür, die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen die Rücknahme der Inobhutnahme anzuordnen.

 

Schlagwörter: Jugendhilfe, Inobhutnahme, Jugendliche, Alter, Altersfeststellung, unbegleitete Minderjährige, Gutachten, Weisheitszähne, Ermessen, Folgenabwägung, Rücknahme, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; SGB VIII § 42 Abs. 1 Nr. 3; SGB VIII § 7 Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

Lässt sich das Alter eines Ausländers, der als unbegleiteter Minderjähriger in Obhut genommen worden ist, im Eilverfahren nicht sicher feststellen, spricht die Folgenabwägung dafür, die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen die Rücknahme der Inobhutnahme anzuordnen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 6. Juli 2009 ist zulässig und begründet. [...]

Im vorliegenden Fall ist der Ausgang des Klageverfahrens offen. Der Antragsgegner hat den Antragsteller am 28. Mai 2009 gemäß § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut genommen. Beendigungsgründe nach § 42 Abs. 4 SGB VIII liegen nicht vor. Der Bescheid vom 6. Juli 2009 stellt sich deshalb als Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts mit Wirkung für die Zukunft gemäß § 45 SGB X dar. Voraussetzung der Rücknahme ist zunächst die Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme. Nach § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. Rechtswidrig war die Inobhutnahme, wenn der Antragsteller nicht mehr Jugendlicher im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII, also schon 18 Jahre alt ist.

Das kann die Kammer bei der hier nur möglichen summarischen Prüfung nicht feststellen. Hierfür sprechen zwar das Gutachten des Sachverständigen vom 22. Juni 2009 und die ergänzende Stellungnahme vom 14. Juli 2009, in denen der Gutachter auf Grund der Kenntnis von Studien mitteilt, dass bei afrikanischen Jugendlichen Weisheitszähne mit 17,6 bis 18,9 Jahren durchbrechen und bis zur vollständigen Einstellung in die Okklusionsebene durchschnittlich mindestens ein weiteres Jahr vergeht, andererseits auf Grund seiner Untersuchung feststellt, dass beim Antragsteller alle vier Weisheitszähne vollständig in der Okklusionsebene stehen und daraus schließt, dass der Antragsteller 20 Jahre oder älter, jetzt berichtigt mindestens 18 Jahre oder älter ist. Demgegenüber behauptet der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers die Kenntnis von Forschungsergebnissen, wonach bei schwarzafrikanischen Probanden bei 14-jährigen mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 10 und bei 16-jährigen mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 2 alle vier Weisheitszähne durchgebrochen sind. Zählt man ein Jahr für das Wachstum bis zur Okklusionsebene hinzu, wären die Weisheitszähne bei diesen Probanden bereits im Alter von 15 bzw. 17 Jahren vollständig durchgebrochen. Bei dieser Sachlage kann die Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme als Voraussetzung der Rücknahme gegenwärtig nicht festgestellt werden und muss der Ausgang der Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 6. Juli 2009 als offen bezeichnet werden.

Hinzu kommt, dass weder dem angefochtenen Bescheid noch dem Verwaltungsvorgang zu entnehmen ist, ob sich der Antragsgegner bewusst gewesen ist, dass es sich bei der von ihm getroffenen Entscheidung über die Beendigung der Inobhutnahme gemäß § 45 SGB X um eine Ermessensentscheidung handelt.

Bei der danach vorzunehmenden Abwägung der gegensätzlichen Interessen überwiegen die Interessen des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung diejenigen des Antragsgegners einer sofortigen Vollziehung. Dass das pädagogische Konzept der EAC (Orientierungshilfe und Erziehung, Angebote zu tagesstrukturierenden, sozialpädagogisch begleiteten Gruppenfreizeitangeboten wie Sprachkurse, Sport, Spiel, Ausflüge, Entwicklung eines intensiven Kontakts zwischen Betreuern und Betreuten - vgl. Schriftsatz des Antragsgegners vom 16. Juli 2009 Seite 3) nicht mehr durchführbar oder gefährdet wäre, wenn der Antragsteller dort verbleibt, überzeugt nicht. Der Altersunterschied zwischen dort in Obhut genommenen 17-jährigen und einem - wie hier nach Berichtigung des Gutachtens - 18-jährigen ist nach Auffassung der Kammer nicht von einer so großen Qualität und Bedeutung, dass hierdurch das pädagogischen Konzept der EAC nicht mehr durchführbar oder gefährdet wäre. Auch in anderen pädagogischen Einrichtungen mit entsprechenden oder ähnlichen Konzepten lebenden jungen Volljährigen wird unter den Voraussetzungen des § 41 SGB VIII, gelegentlich sogar über das 21. Lebensjahr hinaus, Jugendhilfe gewährt. Demgegenüber und auch gegenüber möglichen fiskalischen Interessen des Antragsgegners überwiegt das Interesse des - jedenfalls nach seinen Angaben 14-jährigen - afrikanischen Antragstellers an Aufnahme und pädagogischer Betreuung durch Orientierungshilfe und Erziehung in der EAC. Dort erhält er in der dreimonatigen Clearingphase eine weitestgehend auf die Bedürfnisse unbegleiteter ausländischer Jugendlicher abgestimmte Betreuung und u.a. auch Sprachunterricht. Der Hinweis auf die Möglichkeit eines Antrags auf Leistungen für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII reicht demgegenüber nicht aus, zumal bei der Abwägung der gegensätzlichen Interessen zu unterstellen ist, dass der Antragsteller noch minderjährig ist. [...]