SG Hildesheim

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Zitieren als:
SG Hildesheim, Beschluss vom 26.08.2009 - S 40 AY 156/09 ER - asyl.net: M16021
https://www.asyl.net/rsdb/M16021
Leitsatz:
Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Rechtsmissbrauch, Aufenthaltsdauer, freiwillige Ausreise, Falschangaben, Krankheit, Beweislast, Sachaufklärungspflicht, Vorsatz, Verschulden, Kausalität, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit
Normen: SGG § 86b Abs. 2; AsylbLG § 2 Abs. 1; RL 2003/9/EG Art. 16
Auszüge:

[...]

Der zulässige Antrag ist begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. [...]

1 Der geltend gemachte Anspruch betrifft die Leistungsgewährung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG. [...]

Die rechtsmissbräuchliche Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 17. Juni 2008, Az.: B 8/9b AY 1/07 R) in objektiver Hinsicht ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus, das in subjektiver Hinsicht vorsätzlich im Bewusstsein der objektiv möglichen Aufenthaltsbeeinflussung getragen ist. Wegen der schwerwiegenden Folgen eines Leistungsausschlusses nach § 2 Abs. 1 AsylbLG führt nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss von Analog-Leistungen; nur dann ist es gerechtfertigt, auch die minderjährigen Kinder mit den Folgen dieses Verhaltens zu belasten.

Die mit Wirkung ab dem 1. Januar 2005 in Kraft getretene Formulierung des § 2 Abs. 1 AsylbLG (Art. 8 Nr. 3 des Gesetzes vom 30. Juli 2004, BGBl. I, 1950) knüpft hinsichtlich der Bestimmung über die Folgen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens an die Richtlinie 2003/9/EG des Rates des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedsstaaten an (Amtsblatt der Europäischen Union vom 6. Februar 2003 (L 31/18)). In Art. 16 der Richtlinie, der die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile regelt, werden Formen von "negativem Verhalten" zusammengefasst, die auf nationaler Ebene eine Einschränkung der Leistungen erlauben (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung vom 10. Januar 2003 zu der Neuregelung des § 2 Abs. 1 AsylbLG - BR/Drucksache 22/03 S. 296). Danach sind die Mitgliedsstaaten zur Einschränkung und zum Entzug der im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile berechtigt, wenn der Asylbewerber den ihm zugewiesenen Aufenthaltsort ohne vorherige Unterrichtung der Behörde bzw. ohne die erforderliche Genehmigung verlässt, wenn er seinen Melde- und Auskunftsverpflichtungen nicht in angemessener Frist nachkommt oder im gleichen Mitgliedsstaat schon einen Antrag gestellt hat (vgl. hierzu auch Hessisches LSG, Beschluss vom 30. Oktober 2006, L 9 AY 7/06 ER). Sinn und Zweck dieser Änderung des § 2 Abs. 1 AsylbLG ist. den Anreiz zur missbräuchlichen Asylantragstellung weiter einzuschränken, was schließlich zu einer Reduzierung der Anträge und damit insgesamt zu einer Verfahrensbeschleunigung führen soll. Nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (a.a.O.) ist bei der Frage, ob die Dauer des Aufenthalts rechtsmissbräuchlich beeinflusst wurde, auf die gesamte Dauer des Aufenthalts des Ausländers im Bundesgebiet und nicht etwa nur auf die Dauer des Aufenthalts nach rechtskräftiger Ablehnung des Asylantrags abzustellen.

Nach diesen Vorgaben hat die Antragsgegnerin im vorliegenden Verfahren nicht glaubhaft dargelegt, dass der gegen die Antragsteller zu 1 und 2 erhobene Vorwurf eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG berechtigt ist. Aufgrund des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (vgl. etwa LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 30. Mai 2008, Az.: L 11 AY 13/06 ER; Beschluss vom 10. Juli 2006, Az.: L 7 AY 61/05 ER) kann hier nicht abschließend geklärt werden, ob ihr Vorwurf zum Ausschluss eines Leistungsanspruchs nach § 2 Abs. 1 AsylbLG führt. Nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast geht dies zu Lasten der Antragsgegnerin (vgl. zur Beweislast: VG Göttingen, Beschluss vom 21. Dezember 1998, Az.: 2 B 2440/98).

a) Im laufenden Widerspruchsverfahren wird die Antragsgegnerin das den Antragstellern zu 1 und 2 in objektiver Hinsicht vorgeworfene unredliche, von der Rechtsordnung missbilligte Verhalten eingehend zu prüfen haben. Allein die Weigerung der möglichen und zumutbaren Ausreise bei vollziehbarer Ausreisepflicht reicht für den Vorwurf eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht aus; ein Rechtsmissbrauch kann allenfalls in den Gründen, die zu der Erteilung von Duldungen geführt haben, liegen. Hat der Ausländer diese Gründe zu vertreten, hat er also insoweit selbst Einfluss auf das Geschehen genommen, kann nur deshalb, nicht aber wegen bestehender Ausreisepflicht, ein Rechtsmissbrauch bejaht werden (vgl. BSG, Urteil vom 17. Juni 2008, Az.: B 8/9b AY 1/07 R). Insoweit führen die Antragsteller aus, dass der Grund für die Erteilung der Duldungen ihre gesundheitlichen Einschränkungen gewesen seien. Falsche Angaben zur Staatsangehörigkeit können hingegen grundsätzlich rechtsmissbräuchlich im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG sein (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. Juni 2009, Az.: L 11 AY 27/09 B ER). Bei der weiteren Prüfung ist damit der konkrete Vorwurf, etwa das bewusste Verschweigen der womöglich bestehenden kroatischen Staatsangehörigkeit bzw. der Möglichkeit, diese Staatsangehörigkeit zu erwerben, darzulegen. Ein von der Ausländerbehörde geäußerter "Verdacht" der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer ist hierbei allein nicht ausreichend. Insoweit trifft die Leistungsbehörde die selbstständige Pflicht und Befugnis zur Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 Abs. 1 AsylbLG (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 5. November 2003. Az.: 4 LC 592/02). Die Antragsgegnerin ist hier dem Einwand, der Antragsteller zu 1 habe die kroatische Staatsangehörigkeit wegen der erforderlichen und nach dem Vortrag der Antragsteller nicht erfolgten Aushändigung eines Beschlusses nicht erworben, nicht entgegen getreten. Im Hinblick auf die Antragstellerin zu 2, der als Ehefrau grundsätzlich auch ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht, erscheint es als höchst fragwürdig, ob sie der Ausländerbehörde gegenüber verpflichtet war, weitergehende Angaben über die Staatsangehörigkeit ihres Ehemanns - hier obendrein unaufgefordert - zu machen.

b) Bei Annahme eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens in objektiver Hinsicht wäre in subjektiver Hinsicht zu prüfen, ob dieses konkrete Verhalten im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG vom Vorsatz der Betroffenen und im Bewusstsein der objektiv möglichen Aufenthaltsbeeinflussung getragen war.

c) Im Weiteren muss dann geprüft werden, ob die vorgeworfene Beeinflussung der Aufent-haltsdauer unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit); so dass ein dauerhafter Ausschluss von Analog-Leistungen auch im Hinblick auf minderjährige Kinder gerechtfertigt wäre (BSG, a.a.O.). Hierbei dürften insbesondere die gesundheitlichen Einschränkungen der Antragsteller zu 1 und 2 auf psychischem Gebiet und die Einschränkungen der behinderten Antragstellerin zu 3 zu berücksichtigen sein, ferner die genauen Umstände der womöglich erworbenen Staatsangehörigkeit Kroatiens in 1998.

d) Schließlich bedarf es zwischen dem Verhalten des Ausländers und der Beeinflussung der Aufenthaltsdauer nach dem Gesetzeswortlaut zwar keiner kausalen Verknüpfung, so dass jedes von der Rechtsordnung missbilligte Verhalten, das - typisierend - der vom Gesetzgeber missbilligten Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes dienen kann, ausreichend ist, um die kausale Verbindung zu bejahen. Eine Ausnahme von der typisierenden Betrachtungsweise muss allerdings dann gemacht werden, wenn eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können (BSG, a.a.O.). Auch auf diese Frage wird die Antragsgegnerin im weiteren Widerspruchsverfahren näher einzugehen haben, nämlich ob trotz der Erkrankungen der Antragsteller eine Abschiebung ab Ende 1998 möglich gewesen wäre.

e) Sind die Voraussetzungen für einen Anspruch der Antragsteller zu 1 und 2 nach § 2 Abs. 1 AsylbLG nach dem derzeitigen Erkenntnisstand glaubhaft gemacht, scheitert der entsprechende Leistungsanspruch der im Haushalt ihrer Eltern lebenden Antragstellerin zu 3 auch nicht an § 2 Abs. 3 AsylbLG.

2. Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, da ihnen ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten ist. Die derzeit bewilligten Leistungen nach §§ 1, 3 AsylbLG sind deutlich geringer als die Leistungen nach § 2 AsylbLG i.V.m. SGB XII. Insoweit schließt sich das Gericht der ganz herrschenden Meinung in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung an, nach der bei der Gewährung von Leistungen nach §§ 1, 3 AsylbLG anstelle von Leistungen nach § 2 AsylbLG das Vorliegen eines Anordnungsgrundes bejaht wird (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. März 2007. Az.: L 7 AY 1386/07 ER-B m.w.N.). Die vorzunehmende Regelungsanordnung dient der Beseitigung einer existenziellen Notlage (vgl. LSG Nds.-Bremen, Beschluss vom B. Oktober 2007, Az.: L 11 AY 9/05 ER m.w.N.). [...]