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VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 23.06.2009 - 26 K 4370/08.A - asyl.net: M16044
https://www.asyl.net/rsdb/M16044
Leitsatz:

Widerrufsverfahren: Die türkische Reformpolitik hat bislang nicht dazu geführt, dass asylrelevante staatliche Übergriffe in der Türkei nicht mehr vorkommen. Vorverfolgt ausgereiste Flüchtlinge sind auch gegenwärtig vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher. Nicht vorverfolgte Personen, die den türkischen Strafverfolgungsorganen durch Exilpolitik für die PKK bekannt sind, haben mit intensiven Verhören im Polizeigewahrsam und Folter zu rechnen.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Türkei, Kurden, PKK, Exilpolitik, Folter,
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Nach der gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 2. Hs AsylVfG maßgeblichen Sach- und Rechtssage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sind die durch § 73 Abs. 1 S 1 AsylVfG vorgegebenen Voraussetzungen für einen Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht gegeben.

Dies gilt ungeachtet der Frage, ob der Kläger die Türkei vorverfolgt verlassen hat - er hält an seinem Vortrag insoweit weiterhin fest - oder ob die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. allein auf der als Nachfluchtgrutrd einzustufenden Tatsache beruht, dass gegen den Kläger im November 2004 in der Türkei ein im Jahre 2001 eingeleitetes Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Verstoßes gegen Art. 169 tStGE anhängig war.

Nach der im Zeitpunkt der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG maßgeblichen Rechts- und Tatsachengrundlage im November 2004 hatte der Kläger im Falle einer Rückkehr in die Türkei als politische Verfolgung anzusehende Maßnahmen staatlicher Stellen zu befürchten mit der Folge, dass ihm eine Rückkehr in die Türkei nicht zuzumuten war. Diese Voraussetzungen liegen weiterhin vor. Denn der Kläger kann im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland vor Verfolgung nicht hinreichend sicher sein.

Die erforderliche hinreichende Verfolgungssicherheit folgt insbesondere nicht aus den in dem angegriffenen Bescheid angeführten zahlreichen in der Türkei in den letzten Jahren durchgeführten Reformen und die dadurch sicherlich gegebene deutliche Verbesserung der allgemeinen Menschenrechtslage. Denn die türkische Reformpolitik hat bislang nicht dazu geführt, dass asylrelevante staatliche Übergriffe in der Türkei nicht mehr vorkommen. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25.

Oktober 2007 hat der Mentalitätswandel in der Türkei noch nicht alle Teile der Polizei, Verwaltung und Justiz vollständig erfasst und ist es noch nicht gelungen, Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden, wobei eine der Hauptursachen für deren Fortbestehen in der nicht ausreichend effizienten Strafverfolgung liegt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 2007, S. 28-31).

In dem neuesten Lagebericht vom 11. September 2009 - dort S. 25 - heißt es sodann, dass nach übereinstimmenden Aussagen von Menschenrechtsorganisationen 2007 sogar wieder eine Zunahme der Foltervorwürfe zu verzeichnen ist.

Auch hat zum Beispiel das Schweizerische Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement/Bundesamt für Migration unter dem 24. April 2006 in seinem "Kurzbericht Dienstreise Türkei" festgestellt, dass die Umsetzung der neuen Gesetze in der Türkei sich oft problematisch gestalte und Justiz und Militär sowie gewisse als "Staat im Staat" bezeichnete Kreise sich noch immer weitgehend dem Einfluss von Parlament und Regierung entziehen. Auch sind danach seit Ende des Jahres 2005 Fälle von Menschenrechtsverletzungen - wenn auch mit subtileren Methoden begangen - wieder angestiegen.

Deshalb sind auch gegenwärtig vorverfolgt ausgereiste Flüchtlinge vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher (vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 19 April 2005 - 8 A 273/04 A -, S. 21 ff.).

Der Kläger kann im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland vor Verfolgung auch nicht deshalb hinreichend sicher sein, weil das Ermittlungsverfahren "2001/67 Hazirlik" am 21. Mai 2007 durch Einstellungsbeschluss "2007/264 Karar" beendet worden ist.

Die Kammer geht nämlich auch bei Personen, die zwar nicht vorverfolgt ausgereist sind, jedoch den türkischen Strafverfolgungsorganen auf Grund exilpolitischer - wenn auch friedlicher - Aktivitäten von einigem Gewicht im Umfeld der PKK bekannt sind, davon aus, dass diese bei einer Rückkehr nicht nur mit Strafverfolgung überzogen werden, sondern auch mit intensiven Verhören im Polizeigewahrsam zu rechnen haben, in deren Verlauf Folter, wenn auch mit subtileren Methoden als in der Zeit vor den vom Bundesamt in seinem Widerrufsbescheid geschilderten Reformen nicht unwahrscheinlich ist und deshalb auch bei diesen Personen ein Widerruf nicht in Betracht kommt (vgl. Urteil vom 18. Dezember 2008 (Az. nicht leserlich)).

Weil die Bejahung einer Verfolgungssituation nicht voraussetzt, dass eine Person zu Recht der Unterstützung der PKK verdächtigt wird, sondern es allein auf das Vorstellungsbild des Verfolgers ankommt, wäre es unerheblich, wenn der Kläger, wie das Bundesamt in Aktenvermerken mutmaßt, die Anzeigen des Herrn ... aus dem Jahre 2001 seinerzeit selbst veranlasst hätte. Ungeachtet dessen erachtet die Kammer diese Vermutung als wenig stichhaltig, weil der damalige Anzeigeerstatter außer den Kläger auch drei weitere Personen beschuldigt hatte. Da es der Kammer als fernliegend erscheint, dass der Anzeigenerstatter auf Wunsch aller Verdächtigen gehandelt hat, setzt dieser sich in der Anzeige durchaus der erheblichen Gefahr aus, dass jedenfalls drei der von ihm weiter verdächtigten Personen, wenn nicht sogar die Staatsanwaltschaft selbst, ihn insoweit später zur Rechenschaft ziehen. Erfundene Namen durfte der Anzeigeerstatter nicht benutzen, um nicht die Anzeige auf den ersten Blick haltlos erscheinen zu lassen. Dies legt die Annahme nahe, dass der Anzeigeerstatter nach seinem Kenntnisstand und Vorstellungsbild tatsächlich Anwaltspunkte für das Vorliegen eines Tatverdachts hatte.

Zudem sind die Gründe der Verfahrenseinstellung durch die türkische Staatsanwaltschaft unbekannt. Im Widerrufsverfahren ist die Beklagte darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass das Verfahren mangels Tatverdacht eingestellt worden ist. Der Vortrag des Bundesamtes, das türkische Recht kenne keinen Einstellungsgrund der Unerreichbarkeit, ist nicht näher belegt. Ungeachtet dessen kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass der Einstellungsbeschluss in falscher Rechtsanwendung ergangen ist. [...]