VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Urteil vom 09.09.2009 - 2 K 20159/08 We - asyl.net: M16049
https://www.asyl.net/rsdb/M16049
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich der Türkei wegen PTBS und Retraumatisierungsgefahr.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Wiederaufnahme des Verfahrens, Türkei, medizinische Versorgung, Posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7, AsylVfG § 71 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat das Recht auf Abänderung der Entscheidung hinsichtlich § 53 AuslG und hierin auf Verpflichtung zur Feststellung der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 7 AufenthG. [...]

Vorliegend ist durch die von dem Kläger vorgetragenen neuen Gründe und hierbei insbesondere jene, die sich aus den ärztlichen Stellungnahmen die im Rahmen des Verfahrens, insbesondere das Gutachten des Ethno-Medizinischem Zentrum e.V. vom 10. Dezember 2007, vorgelegt wurden, durchaus erheblich. Diesbezüglich hat gerade dies Gutachten zweifelsfrei ergeben, dass eine Behandlung des Klägers punktuell in der Türkei grundsätzlich wohl möglich ist, hiervon ungeachtet der Kläger aber bereits allein durch das ihm gegenüber angetragene Begehren der Rückführung und erst recht eine Rückführung selbst ihn erheblich psychisch weiter schädigen würde, wenn nicht gar gänzlich zerstören. Damit droht dem Kläger in seinem Heimatland, für den Fall der Rückkehr konkret die Gefahr, an seiner Erkrankung erhebliche Beeinträchtigungen an Leib, Leben und körperlicher Unversehrtheit erdulden zu müssen. [...]

Das vorgelegte Gutachten des Ethno-Medizinischem Zentrum e.V. vom 10. Dezember 2007 ist zunächst hinsichtlich der Diagnose PTBS völlig zweifelsfrei, der Gutachter selbst formuliert "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit". Das Krankheitsbild wird mit schwerer seelischer Störung beschrieben, die bereits eine chronifizierte Symptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung ist. Der Gang zur Diagnose und deren Grundlagen werden in ausreichend breiter Form dargestellt und erscheinen zweifelsfrei nachvollziehbar. Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Vortrags bzw. Glaubwürdigkeit des Klägers kommen im Gutachten nicht auf. Das Gutachten hält sich aus der Bewertung des Sachverhaltes, ab von der medizinischen Diagnose, völlig raus und es wird nicht erkennbar, dass eine eigene sachfremde Erwägung den Entscheidungsgang beeinflusst hätte. Der Gutachter sagt soweit klar, dass Anhaltspunkte für eine Simulation sich während der Untersuchungssituation nicht haben finden lassen. Klar ist das Gutachten auch hinsichtlich der Gefahr einer Retraumatisierung bei einer Verbringung in die Türkei.

Das Gutachten stellt insoweit klar dar, dass ein Verbringung des Klägers zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes von ihm führen würde. Klar ist das Gutachten auch hinsichtlich des für den Kläger anvisierten Verbringungsortes Türkei. Nicht wie im Bescheid des Bundesamtes ausgeführt, wäre eine Verbringung in die Türkei unbedenklich, lediglich sein Heimatort könnte Probleme bringen, sondern etwas Vergleichbares findet sich nicht im Gutachten. Hier bezieht sich die Retraumatisierungsgefahr immer auf die gesamte Türkei. Es lässt sich auch nicht, wie vom Bundesamt argumentiert, allein darauf abstellen, dass bereits für den Fall einer Abschiebung in der Bundesrepublik Deutschland eine Suizidgefahr bestehe und damit kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot. Sicher geht das Gutachten von einer solchen Suizidgefahr aus, aber nicht allein bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland, sondern je nach dem Moment der Retraumatisierung auch genauso in der Türkei. So kann die Suizidgefahr in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG vielleicht ausgeklammert werden, aber nicht in ihrer Allgemeinheit, wie sie sich generell im Falle einer Retraumatisierung auch in der Türkei stellen kann.

Ihm droht auch darüber hinaus eine beachtliche Retraumatisierungsgefahr. Die Prognose aus dem Gutachten ist hierbei ganz klar. Bereits die Mitteilung der Notwendigkeit der Ausreise würde für den Kläger das Auslösen spontaner Retraumatisierungsprozesse bedeuten. Bereits dieser Umstand würde für den Kläger eine Dimension erreichen, der zu einer vitalen Gefährdung führen könnte. Auch noch gravierendere Folgen sind hierbei zu erwarten. Es geht weiter aus dem Gutachten auch klar hervor, dass selbst bei unterstellt guten Behandlungsmöglichkeiten in der Türkei eine Behandlung des Klägers voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, weil Voraussetzung einer Behandlung von ihm ein subjektives Sicherheitsgefühl bei ihn voraussetzt. Hier wird bereits nicht ersichtlich, dass solche Strukturen für den Kläger vorzufinden oder erreichbar sein könnten. [...]