VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 22.09.2009 - 4 A 16/09 - asyl.net: M16073
https://www.asyl.net/rsdb/M16073
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot für Angehörige der Minderheit der Roma wegen Hirntumors. Diese Tumorerkrankung wird zur Überzeugung des Gerichts weder in Serbien noch im Kosovo in der erforderlichen Art und Weise behandelt werden können.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Kosovo, Serbien, Hirntumor, medizinische Versorgung, Roma,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 04.07.2007 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit eine Abänderung des Bescheides vom 25.10.1999 bzgl. der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG verneint worden ist. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihr die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG bzgl. des Kosovo und Serbiens vorliegen. Hierzu ist die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des angegriffenen Bescheides zu verpflichten (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). [...]

 

Nach diesen Kriterien ist der Klägerin Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zu gewähren. Sie leidet an einer hirnorganischen Erkrankung und wurde bereits am 29.11.2006 und 03.03.2008 an einem rechts- bzw. linksfrontal gelegenen Meningeom, einem gutartigen Hirntumor der Hirnhäute operiert. Ein weiterer kontrastmittelanreichernder Prozess linksfrontal wird gegenwärtig klinisch durch Bildgebung beobachtet, wobei zur Zeit sich noch keine Operationsindikation ergeben hat. Bei einer solchen Manifestation eines Meningeoms sind bisweilen mehrfache Operationen notwendig und ist diese Erkrankung bei regelmäßiger Kontrolle zusammen mit einer Kontrollbildgebung gut behandelbar. Die Prognose wird deutlich schlechter, wenn die klinischen und bildgebenden Kontrollen nicht wie erforderlich regelmäßig durchgeführt werden (vgl. Stellungnahme der Universitätsmedizin Göttingen vom 02.09.2009). Diese Tumorerkrankung der Klägerin wird zur Überzeugung des Gerichts weder in Serbien noch im Kosovo in der erforderlichen Art und Weise behandelt werden können, um konkrete erhebliche Gesundheitsgefahren für die Klägerin auszuschließen. Die bereits durchgeführten zwei Operationen haben gezeigt, dass sich die Tumorerkrankung der Klägerin manifestiert hat und ein entsprechender regelmäßiger Kontroll- und Behandlungsbedarf besteht. Auch aktuell ist ein weiterer Bildungsprozess linksfrontal festgestellt worden und besteht 14-tägig eine aktuelle Kontrollbedürftigkeit bzgl. eines sich wiederum entwickelnden Tumors. Die hierfür erforderliche medizinische Behandlung wird die Klägerin weder in Serbien noch im Kosovo erhalten können. Dies folgt bzgl. Serbiens bereits aus dem Umstand, dass die Klägerin aus dem Kosovo stammt, in Serbien keine Registrierung erhalten wird und damit ihr auch ein Zugang zu medizinischen Leistungen in Serbien nicht offensteht. Soweit es eine Behandlung im Kosovo angeht, so wird diese für die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts ebenfalls nicht erreichbar sein. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass im Bereich der hier maßgeblichen Neurochirurgie noch eine eingeschränkte Versorgung bei Operationen im Kosovo besteht (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 04.02.2009). Von daher ist bereits zweifelhaft, ob im Falle einer Operationsnotwendigkeit die Klägerin im Kosovo überhaupt medizinisch versorgt werden könnte. Unabhängig davon werden die konkret erforderlichen regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen der Tumorerkrankung der Klägerin im Kosovo für sie nicht erreichbar sein. Denn die erforderlichen regelmäßigen Tomographien ihres Schädels können nur in privaten Kliniken in Pristina durchgeführt werden und entstehen hierfür beachtliche Kosten von ab ca. 200,00 Euro, die der jeweilige Patient selbst zu tragen hat (vgl. Deutsches Verbindungsbüro Kosovo, Stellungnahme vom 21.02.2007 an VG Köln). Diese von ihr zu tragenden Kosten wird die Klägerin im Falle einer Rückkehr in das Kosovo nicht tragen können. Sie selbst ist in erheblichem Umfang in ihrer Erwerbstätigkeit gemindert (vgl. insoweit amtsärztliches Gutachten vom 02.03.2009), so dass sie selbst aus einer eigenen Erwerbstätigkeit diese Kosten zur Überzeugung des Gerichts niemals aufbringen werden kann. Die Klägerin kann auch nicht auf eine Erwerbstätigkeit ihres Ehemannes verwiesen werden. Denn zur Überzeugung des Gerichts steht auch insoweit fest, dass dieser diese beachtlichen Behandlungskosten ebenfalls nicht tragen könnte. Zunächst ist aufgrund der beachtlich hohen Arbeitslosigkeit im Kosovo das Erreichen einer Arbeitsstelle bereits als schwierig einzuschätzen. Aber selbst wenn der Ehemann der Klägerin hier eine Erwerbstätigkeit finden könnte, ist zur Überzeugung des Gerichts mit Blick auf das durchschnittliche monatliche Bruttoarbeitseinkommen im Kosovo von derzeit ca. 230,00 Euro (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 02.02.2009) nicht damit zu rechnen, dass damit die hohen Behandlungskosten für die Klägerin durch die Familie aufgebracht werden können. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Ehemann der Klägerin wegen ihres multimorbiden Krankheitsbildes einen beachtlichen familiären Unterstützungsbedarf sowohl bzgl. der Klägerin als auch bzgl. der gemeinsamen 4 Kinder zu leisten hat und deshalb die Möglichkeit einer Erwerbstätigkeit im Kosovo eingeschränkt sein wird. Es liegen auch keinerlei Kostenübernahmeerklärungen von deutschen Behörden vor, die in der erforderlichen und ausreichenden Art und Weise diese zwingend erforderliche medizinische Behandlung der Klägerin sowohl im Kosovo als auch in Serbien sicherstellen würden. Nach alledem steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin wegen einer nicht erreichbaren erforderlichen Behandlung ihrer Tumorerkrankung einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib und ggf. auch Leben im Falle einer Rückkehr nach Serbien oder in das Kosovo ausgesetzt sein wird. Es hat sich eine Manifestation der Tumorerkrankung der Klägerin eingestellt und entwickelt sich bereits ein dritter Tumor, der der regelmäßigen fachärztlichen und bildgebenden Kontrolle unterliegt. Von daher ist zur Überzeugung des Gerichts bei fehlender oder unzureichender Behandlung mit einer deutlichen Verschlechterung der Tumorerkrankung der Klägerin zu rechnen, wenn nicht sogar mit einer alsbaldigen Operationsnotwendigkeit oder einer lebensbedrohenden bösartigen Tumorentwicklung. Dabei kann die gesundheitliche Situation der Klägerin nicht nur isoliert auf diese Tumorerkrankung reduziert werden, sondern muss vor allem auch mit Blick auf ihre schwere psychische Erkrankung gesehen werden. Unabhängig davon, ob nach den divergierenden ärztlichen Einschätzungen die Klägerin an einer schizoaffektiven Psychose oder einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet (vgl. amtsärztliches Gutachten vom 02.03.2009 und psychologisches Gutachten von Dr. ... vom 25.07.2003, eingeholt im gerichtlichen Verfahren des erkennenden Gerichts zum Aktenzeichen 3 A 3241/01), ist sie multimorbid und befindet sich in einem äußerst angegriffenen und schlechten Gesundheitszustand. Dies hat sich aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Gesamteindruckes der Klägerin für das Gericht nachdrücklich bestätigt. Für das Gericht steht deshalb fest, dass im Falle einer Rückkehr nach Serbien oder in das Kosovo mit einer gravierenden Verschlechterung des angeschlagenen Gesundheitszustandes der Klägerin zu rechnen ist. Insbesondere ist mit einer Dekompensation ihrer schwerwiegenden psychischen Symptome zu rechnen und besteht die konkrete erhebliche und extreme Gefahr eines psychischen Zusammenbruchs, wobei auch ein Suizid nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. Gutachten Dr. ... vom 25.07.2003). Der durch die Klägerin weiterhin aufgeworfenen Frage, ob ihr auch eine lebensbedrohliche Retraumatisierung mit Blick auf ihre posttraumatische Belastungsstörung im Falle einer Rückkehr nach Serbien oder in das Kosovo droht, ist das Gericht auch wegen der damit verbundenen zusätzlichen Belastungen für die Klägerin nicht nachgegangen, da die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes bereits aus den vorgenannten Gründen gegeben sind. [...]