BlueSky

VG Kassel

Merkliste
Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 08.09.2009 - 3 K 1553/08.KS.A - asyl.net: M16075
https://www.asyl.net/rsdb/M16075
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz aufgrund nichtstaatlicher Verfolgung für Dolmetscher der amerikanischen Streitkräfte, der als Sunnit von den Mahdi-Milizen bedroht wurde; zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung besteht für einen aus Bagdad stammenden Sunniten keine interne Schutzalternative im Nordirak.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Qualifikationsrichtlinie, interner Schutz, Mahdi-Miliz, nichtstaatliche Verfolgung, Sunniten
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c, RL 2004/83/EG Art. 8
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Anerkennung als Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG. [...]

Unter Zugrundelegung der oben genannten Prüfungsmaßstäbe ist der Kläger zur Überzeugung des Gerichts vorverfolgt im Sinne des Art. 4 Abs. 4 QRL aus seinem Heimatland ausgereist.

Der Kläger hat glaubhaft geschildert, dass er von ... gewarnt worden sei, dass diese Miliz ihn wegen seiner Tätigkeit als Dolmetscher für die Amerikaner töten wolle, weil sie ihn deswegen für einen Verräter hielten. Bei der Mahdi-Miliz des radikal-populistischen Predigers Muqtada al-Sadr, die über ein beachtliches gewalttätiges Störpotential verfügt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12. August 2009), handelt es sich um einen nichtstaatlichen Akteur im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG. Der Staat ist nicht in der Lage, Schutz vor derartiger Verfolgung zu bieten; der Regierung in Bagdad ist es trotz einer Verbesserung der Sicherheitslage bisher nicht gelungen, das Gewaltmonopol im ganzen Land sicherzustellen, der Staat kann den Schutz seiner Bürger derzeit nicht gewährleisten (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12. August 2009). Auch Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. b) AufenthG, die zu einer derartigen Schutzgewährung in der Lage wären, sind nicht vorhanden; ebenso wenig ist dies internationalen Organisationen möglich. Eine derartige Verfolgung durch die Miliz knüpft an die "Kollaborateuren" unterstellte politische Überzeugung und damit an eines der in § 60 Abs. 1 Satz, 1 AufenthG genannten Merkmale an. Der Annahme einer Vorverfolgung steht es auch nicht entgegen, dass der Kläger sich nach der Warnung noch bis September 2007 im Irak aufgehalten hat, ohne dass ihm etwas geschehen ist. Denn der Kläger hat glaubhaft vorgetragen, dass er nach Beendigung seiner Tätigkeit für die Amerikaner .... Zudem hat der Kläger sich ab April für längere Zeit im Nordirak aufgehalten, wo er jedoch kein Bleiberecht erhalten hat, und ist danach nicht mehr in die Wohnung seiner Familie zurückgekehrt, sondern hat sich in Bagdad bei Freunden und Verwandten aufgehalten.

Bei dem danach vorverfolgt ausgereisten Kläger entfällt nach den oben gemachten Ausführungen im Zeitpunkt seiner Ausreise die - zusätzliche - Prüfung des Vorliegens einer internen Schutzmöglichkeit, da für Artikel 4 Abs. 4 QRL allein ausschlaggebend die unmittelbar drohende bzw. eingetretene Verfolgung - und sei es nur in einem Teil des Heimatlandes - ist, die im Fall des Klägers aus individuellen Gründen zu bejahen ist. [...]

Der Kläger gehört aufgrund seiner Tätigkeit für die Amerikaner einer besonders gefährdeten Berufsgruppe an.

Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. August 2009 zufolge laufen Angehörige u.a. bestimmter Berufsgruppen Gefahr, diskriminiert, vertrieben oder gar ermordet zu werden, wohingegen die Täter meist nicht mit Strafe zu rechnen haben, weil die Behörden vielerorts nicht in der Lage oder willens sind, für Recht und Ordnung zu sorgen. Zu diesen besonders gefährdeten Berufsgruppen gehören auch Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten. Die Attentäter sind in der Lage, ihre Opfer sehr präzise auszuwählen und zu treffen.

Diese den Angehörigen derartiger Berufsgruppen generell drohende Gefahr, Opfer eines gezielten Anschlages zu werden, hat sich hinsichtlich des Klägers konkretisiert, da er bereits vor seiner Ausreise aus dem Irak in das Blickfeld der Mahdi-Miliz geraten und von dieser mit dem Tod bedroht worden ist. Da der Kläger von der Miliz für einen Verräter gehalten wird, ist zu befürchten, dass die gegen ihn geäußerten Drohungen bei einer Rückkehr in den Irak umgesetzt werden. Dies gilt um so mehr, da der Kläger über einen längeren Zeitraum für die Amerikaner bzw. eine amerikanische Firma tätig und dies in seinem Stadtviertel bekannt gewesen ist. [...]