OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 15.09.2009 - 11 LB 487/07 - asyl.net: M16083
https://www.asyl.net/rsdb/M16083
Leitsatz:

Es ist eine Frage des Einzelfalls, ob ein Mitglied bzw. früheres Vorstandsmitglied einer Ortsgruppe der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet und damit den Ausweisungsgrund des § 54 Nr. 5a AufenthG der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis entgegen steht.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, freiheitliche demokratische Grundordnung, Milli Görüs, IGMG, Ausweisungsgrund,
Normen: AufenthG § 54 Nr. 5a,
Auszüge:

[...]

Nach § 54 Nr. 5a AufenthG wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn er die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet oder sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufruft oder mit Gewaltanwendung droht.

Da die Klägerin sich unstreitig nicht an Gewalttätigkeiten beteiligt oder zur Gewaltanwendung aufgerufen oder damit gedroht hat, könnte hier ein Ausweisungsgrund nur in der Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland liegen.

Der Beklagte begründet eine entsprechende Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland mit den Tätigkeiten der Klägerin im Ortsverband der IGMG.

Für die Feststellung einer Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland reicht allein die bloße Zugehörigkeit zu einer Vereinigung, die ihrerseits wegen Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder der inneren Sicherheit verboten werden kann oder verboten ist, für sich genommen nicht aus (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.1.2009 - BVerwG 1 C 2.08 -, NVwZ 2009, 727; Bay. VGH, Beschl. v. 17.7.2009 - 19 CS 08.2512 - u. v. 19.2.2009 - 19 CS 08.1175 -, jeweils juris; Hess. VGH, Beschl. v. 10.1.2006 - 12 TG 1911/05 -, NVwZ-RR 2007, 131). Dies folgt unmittelbar aus der Systematik des § 54 AufenthG selbst. Nach § 54 Nr. 7 AufenthG erfüllt nämlich den Regel-Ausweisungstatbestand ohne weitergehende Feststellungen nur, wer zu den Leitern eines unanfechtbar verbotenen Vereins gehört. Bei einer sonstigen Betätigung für eine Vereinigung, die verboten oder zu verbieten ist, muss sich demnach der vereinsrechtliche Verbotsgrund der Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland in der Person des Ausländers selbst konkretisiert haben. Der Ausländer muss daher selbst eine Gefahr darstellen (vgl. Bay. VGH, Beschl. v. 17.7.2009, a.a.O.; Hess. VGH, Beschl. v. 10.1.2006, a.a.O.; siehe auch Discher: in GK-AufenthG, Stand: Juni 2009, § 54 Rn. 603; Langeheine, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, § 5 Rn. 111).

Darüber hinaus muss eine auf Tatsachen gestützte, nicht lediglich entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts bestehen. Reine Vermutungen oder der Verdacht der Verwirklichung eines Gefährdungstatbestandes reichen für die Regelausweisung nach § 54 Nr. 5a AufenthG nicht aus. Bei der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts ist eine Differenzierung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips erforderlich (vgl. Discher, in: GK-AufenthG, a.a.O., § 54 Rn. 587, 590 m.w.N.).

Die Gefahr muss zudem gegenwärtig sein. Das ist der Fall, wenn zu erwarten ist, dass sich die Gefahr entweder aktuell oder in Zukunft verwirklicht. Vergangene Aktivitäten für eine Vereinigung können eine Gefährdung daher nur begründen, wenn aus ihnen und ggf. anderen Umständen abgeleitet werden kann, der Ausländer werde auch zukünftig eine Gefahr bilden (Discher, a.a.O., § 54 Rn. 593, 606).

Gemessen an diesen Maßstäben kann in dem für die Entscheidung des Senats maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das Vorliegen einer Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung durch die Klägerin nicht festgestellt werden.

Allerdings geht der Senat im vorliegenden Verfahren ebenso wie die weit überwiegende Rechtsprechung (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 11.6.2008 - 13 S 2613/03 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 24.5.2005 - 7 A 10953/04.OVG - m.w.N.; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 29.11.2007 - 17 K 5862/02 -) davon aus, dass die IGMG als eine Organisation zu betrachten ist, die (jedenfalls: auch bzw. noch) gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Ziele verfolgt. Neuere Entwicklungen innerhalb der IGMG, die diesen Verdacht ausräumen könnten, sind zwar durchaus festzustellen; diese lassen die IGMG in heutiger Sicht aber eher als eine "diffuse", inhomogene oder im Umbruch befindliche Organisation erscheinen, von der Teile sich sowohl nach innen als auch nach außen um einen dauerhaften Einklang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bemühen, andere Teile dagegen weiterhin verfassungsfeindliche Auffassungen vertreten. [...]

Im vorliegenden Fall hat insbesondere die persönliche Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat gezeigt, dass ihre Mitgliedschaft und ihre Aktivitäten in der IGMG nicht für die Annahme ausreichen, dass von ihr eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ausgeht.

Zwar ist die Klägerin, wie sie in der mündlichen Verhandlung klargestellt hat, auch derzeit noch Mitglied in der IGMG. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es in der IGMG unterschiedliche Strömungen gibt und in der Organisation sowohl Anhänger des strikt islamischen Kurses Erbakans als auch moderater eingestellte Kräfte vertreten sind (vgl. auch Gutachten des Bundesamtes für Verfassungsschutz v. 25.6.2009), kann allein aus der Mitgliedschaft in der IGMG noch nicht der Schluss gezogen werden, dass sich das jeweilige Mitglied mit den verfassungsfeindlichen Zielen der Milli-Görüs-Bewegung identifiziert. Auch der Umstand, dass die Klägerin von 2002 etwa bis zur Geburt ihres Sohnes im Dezember 2005 Vorstandsmitglied der Ortsgruppe A. der IGMG im Bezirk Hannover gewesen ist, lässt nicht mit hinreichender Sicherheit darauf schließen, dass die Klägerin die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Zwar kommt nach den Erkenntnissen des Verfassungsschutzes der Vorsitzenden der Frauengruppe im Vorstand die Funktion zu, die Interessen der Familien zu vertreten (siehe Stellungnahme des MI v. 18.4.2006 zur Landtagseingabe), und sollen türkische Jugendliche, Studenten und Frauen im Mittelpunkt der zielgruppenorientierten Betreuungs- und Bildungsarbeit der IGMG stehen. Möglicherweise ist die Berufung der Klägerin in den Vorstand der Ortsgruppe auch von einem überörtlichen Gremium der IGMG bestätigt worden. Die Klägerin hat dazu in der mündlichen Verhandlung allerdings glaubhaft versichert, dass sie darüber keine Kenntnis habe, sondern nur wisse, dass sie von den anderen Frauen in den Vorstand gewählt worden sei.

Maßgebend ist jedoch, dass keine konkreten Erkenntnisse darüber vorliegen, dass die Klägerin als Mitglied oder Vorstandsmitglied der Ortsgruppe der IGMG zur Umsetzung verfassungsfeindlicher Ziele beigetragen hat. Weder ihre sozialen Aktivitäten während der Vorstandstätigkeit noch die von ihr auch jetzt noch abgehaltenen Koranlesungen für Frauen zeigen ein besonders herausragendes politisches Engagement der Klägerin in der IGMG, das für eine eindeutige Identifizierung mit den verfassungsfeindlichen Zielen der IGMG sprechen würde.

Ihrem glaubhaften Vorbringen nach sind ihre Aktivitäten während der Vorstandstätigkeit sozialer und karitativer Natur gewesen. So habe sie etwa Frauen der Ortsgruppe im Krankenhaus besucht und ihnen Geschenke mitgebracht oder sonstige Wohnungs-, Feiertags- und Krankenbesuche bei den Frauen gemacht. Außerdem habe sie Koranstunden gegeben und mit den Frauen gebetet.

Aufgrund des Eindrucks, den der Senat von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sie ihr soziales Betätigungsfeld genutzt hat, um Auffassungen zu verbreiten, die geeignet sind, die freiheitlich - demokratische Grundordnung zu gefährden. Die Klägerin hat die Fragen des Senats zu ihren Tätigkeiten für die IGMG offen und ohne zu zögern beantwortet und glaubhaft vermittelt, dass sie während ihrer Vorstandstätigkeit rein humanitär und religiös motivierte Hilfsdienste ausgeübt hat.

Dass die Klägerin auch heute noch zweimal wöchentlich in der Moschee der IGMG in A. Koranlesungen für Frauen abhält, lässt ebenfalls nicht den Schluss darauf zu, dass sie dabei verfassungsfeindliche Inhalte vermittelt und die Frauen etwa mit islamistischen Ideen indoktriniert. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass sie in der Türkei eine religiöse Unterweisung in einer staatlich genehmigten Moschee erhalten und dort gelernt habe, den Koran zu lesen, und dass es ihr ein Anliegen sei, auch weiterhin Koranlesungen für Frauen anzubieten. Sie hat weiter glaubhaft dargelegt, dass sie bei den von ihr abgehaltenen Koranlesungen lediglich von ihr ausgewählte Texte aus dem Koran und die dazu vorhandenen Erläuterungen aus der vom türkischen Staat autorisierten Ausgabe vorliest und gemeinsam mit den Frauen betet. Der Senat sieht keinen Anlass, an diesen Angaben der Klägerin zu zweifeln. Dass sie nicht ideologisch motiviert ist, sondern auch gegenüber anderen Religionen Toleranz übt, zeigt sich auch daran, dass ihr Sohn einen evangelischen Kindergarten besucht.

Hinzu kommt, dass die Klägerin ihre Vorstandstätigkeit aufgegeben und seit der Geburt ihres Sohnes im Dezember 2005 bis heute nicht mehr aufgenommen hat. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin in naher Zukunft ihr früheres Engagement fortsetzen wird. Dass sie ihre Betätigung nur vorübergehend aus taktischen Erwägungen im Hinblick auf das vorliegende Verfahren eingestellt hat, kann nicht festgestellt werden. Vielmehr stand die Beendigung der Tätigkeiten ganz offensichtlich im Zusammenhang mit ihrer Schwangerschaft und der Geburt ihres Kindes. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung überzeugend dargelegt, dass sie aus ihrer Sicht mit dem Haushalt und der Erziehung ihres Kindes voll ausgelastet sei und daher nicht beabsichtige, erneut eine Vorstandstätigkeit zu übernehmen. [...]