VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 13.10.2009 - 4 V 1516/09 - asyl.net: M16125
https://www.asyl.net/rsdb/M16125
Leitsatz:

Ein Ausländer, der mit Schengen-Visum in das Bundesgebiet eingereist ist und vor dessen Ablauf die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels beantragt, hat Anspruch auf Erteilung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG.

Es besteht ein Anordnungsgrund, die Ausländerbehörde im Eilverfahren zur Erteilung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG zu verpflichten, da die schwangere Antragstellerin andernfalls keinen Krankenversicherungsschutz erhalten kann.

Schlagwörter: Fiktionsbescheinigung, Schengen-Visum, Eheschließung, Dänemark, Krankenversicherung
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AufenthG § 81 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Die vor Ablauf der Gültigkeit des Schengen-Visums am 18.05.2009 erfolgte Beantragung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Familienzusammenführung löste die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG aus. Erforderlich ist nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift lediglich der Besitz eines ablaufenden Aufenthaltstitels. Das Schengen-Visum stellt nach §§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 6 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG einen Aufenthaltstitel im Sinne des Aufenthaltsgesetzes dar. Das Schengen-Visum ist folglich nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut geeignet, die Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG auszulösen (OVG Münster, Beschl. v. 01.09.2008 - 18 B 943/08; Hess. VGH, Beschl. v. 16.03.2005 - 12 TG 298/05 -, InfAuslR 2005, 304; VG Bremen, Beschl. v. 09.06.2009, 4 V 205/09; Funke-Kaiser in GK-AuslR, Stand April 2009, § 81 AufenthG Rn. 39; Albrecht in: Starr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms/Kreuzer, ZuwG, 2. Auflage, § 81 AufenthG Rn. 16; Zeitler, HK-AuslR § 81 AufenthG Rn. 34; Renner, Ausländerrecht, 6. Auflage. § 81 AufenthG Rn. 16).

Dem steht die nach § 6 Abs. 3 AufenthG nur eingeschränkte Verlängerungsmöglichkeit des Schengen-Visums nicht entgegen. Denn ein solches Visum wird mit dem Fiktionsrecht nach Absatz 4 gerade nicht verlängert. Die Fortbestandsfiktion ist vielmehr ein Aufenthaltsrecht eigener Art, das abweichend von den Einreise- und Aufenthaltsrechten einen vorübergehenden Aufenthalt bis zu Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gewährt (OVG Münster, Beschl. v. 01.09.2008 - 18 B 943/08).

Der Eintritt der Fiktion Ist nicht davon abhängig, dass der Ausländer mit dem seinem Aufenthaltszweck entsprechenden "richtigen Visum" eingereist ist. Die Auffassung der Antragsgegnerin, dies laufe auf eine Umgehung der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes hinaus, wonach Aufenthaltstitel gem. §§ 4 Abs. 1, 5 Abs. 2 AufenthG für den beabsichtigten Aufenthaltszweck vor der Einreise beantragt werden müssen (so auch Hailbronner, Ausländerrecht, Stand August 2006, § 81 AufenthG Rn. 24), überzeugt nicht. Gegen diese Meinung sprechen neben dem Wortlaut des § 81 Abs. 4 AufenthG auch gesetzessystematische Gründe.

So ist die Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift nicht auf solche Fälle begrenzt, in denen die Verlängerung des bisherigen Aufenthaltstitels beantragt wird. Vielmehr soll sie auch für die Fälle gelten, in denen die Erteilung eines "anderen" Aufenthaltstitels beantragt wird. Weder die Art des Aufenthaltstitels noch der beabsichtigte Zweck des Aufenthalts müssen demnach unmittelbar an den ablaufenden Aufenthaltstitel anknüpfen.

Gesetzessystematisch verlangt § 81 Abs. 3 AufenthG, dass der Aufenthalt ohne Besitz eines Aufenthaltstitels "rechtmäßig" sein muss, während im Rahmen des § 81 Abs. 4 AufenthG (nur) der Besitz eines Aufenthaltstitels erforderlich ist. Deswegen kommt es bei letzterem auch nicht darauf an, ob die Einreise erlaubt war bzw. mit welcher Art von Visum der Ausländer eingereist ist (Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, § 81 AufenthG Rn. 16). Darüber hinaus enthält § 81 AufenthG im Unterschied zu der vorangegangenen Regelung in § 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AuslG 1990 keine Bestimmung, nach der im Fall einer unerlaubten Einreise die Fortbestandsfiktion ausgeschlossen ist. Nach der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes soll ein Verstoß gegen die Einreisevorschriften vielmehr erst auf der materiell-rechtlichen Ebene im Rahmen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 AufenthG Bedeutung erlangen, wobei der Ausländerbehörde sogar die Möglichkeit eröffnet ist, nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG im Rahmen einer Ermessensentscheidung von der Einhaltung der Einreisebestimmungen abzusehen. Dieser Gesetzeskonzeption würde es indes widersprechen, wenn es dem Ausländer, der infolge des Besitzes eines Schengen-Visums zwar formell rechtmäßig, aber wegen des vom Visumszweck abweichenden Aufenthaltszwecks materiell rechtswidrig in das Bundesgebiet eingereist ist, von vornherein verwehrt bliebe, sich in einem vom Inland aus betriebenen Aufenthaltstitelverfahren auf die Ausnahmeregelung des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu berufen. Würde man in diesem Fall nämlich im Wege der einschränkenden Auslegung den Anwendungsbereich des § 81 Abs. 4 AufenthG ausschließen, so müsste der betroffene Ausländer trotz Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis ausreisen, denn ihm könnte mangels rechtmäßigen Aufenthalts auch eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 3 AufenthG nicht erteilt werden (OVG Münster, Beschl. v. 01.09.2008 - 18 B 943/08). [...]