SG Berlin

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Zitieren als:
SG Berlin, Beschluss vom 23.09.2009 - S 174 AS 30694/09 ER [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 94 ff.] - asyl.net: M16298
https://www.asyl.net/rsdb/M16298
Leitsatz:

Es kann dahinstehen, ob § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II für Unionsbürger europarechtskonform auszulegen ist, da die Antragstellerin einen Minijob mit einem Verdienst von 100 € monatlich hat und somit gemeinschaftsrechtlich als Arbeitnehmerin anzusehen ist.

Die Antragstellerin hat als spanische Staatsangehörige zudem einen Anspruch auf die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA).

Schlagwörter: SGB II, Unionsbürger, einstweilige Anordnung, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Arbeitnehmerbegriff, geringfügige Beschäftigung, Europäisches Fürsorgeabkommen
Normen: FreizügG/EU § 5, SGB II § 7 Abs. 1, EGV Art. 12, EFA Art. 1
Auszüge:

[...]

a) Die Antragstellerin hat das Vorliegen eines Anordnungsanspruches glaubhaft gemacht. Denn die in § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II bestimmtem Voraussetzungen für die Gewährung von Grundsicherungsleistungen i.S. von § 19 Abs. 1 SGB II (Lebensalter zwischen 15 und 64 Jahren, Erwerbsfähigkeit, Hilfebedürftigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet) liegen vor. Dem Anspruch steht auch nicht § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II entgegen, wonach vor Leistungsbezug Ausländer ausgeschlossen sind, deren Auffenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, so dass hier dahinstehen kann, ob § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II europarechtskonform auszulegen ist (vgl. zum Streitstand: Hailbronner, Ansprüche nicht erwerbstätiger Unionsbürger auf gleichen Zugang zu sozialen Leistungen, ZFSH/SGB 2009, 195, 200). Ein anderes Aufenthaltsrecht ergibt sich zwar nicht aus § 2 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU wonach das Recht nach Abs. 1 für Arbeitnehmer unberührt bleibt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit. Denn nach § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU bleibt das Recht aus Abs. 1 bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung nur während der Dauer von sechs Monaten unberührt. Nachdem das ursprüngliche Beschäftigungsverhältnis bei der Firma btcb, bei der die Antragstellerin in der Zeit von August 2008 bis Dezember 2008 zu einem Lohn von 401 Euro monatlich beschäftigt war, zum 31.12.2008 gekündigt wurde, hatte die Antragstellerin aufgrund ihrer Vorbeschäftigung nur bis zum 30.06.2009 Arbeitnehmerstatus nach § 2 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU inne. Die Antragstellerin ist aber aufgrund ihrer derzeitigen Beschäftigung als Reinigungskraft bei der Firma btcb Arbeitnehmerin, so dass ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1, Abs. 2 N r. 1 FreizügG/EU besteht. Da dieses Status begründet ist, sind die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht erfüllt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14.11.2006, L 14 B 963/06 AS; LSG NRW, Beschluss vom 30.01.2008, L 20 B 76/07 SO; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II § 7 Rnr. 16, 24). Der Arbeitnehmerbegriff des § 2 Abs. 1, 2 FreizügG/EU ist europarechtlich bestimmt, da die Norm zum Inhalt hat, die den gemeinschaftsrechtlich begründeten Freizügigkeitsrechten entsprechende nationale Regelung zu schaffen (vgl. Hailbronner, ZFSH/SGB, 2009, 195, 200; Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Auflage 2008, Rnr. 1407). Arbeitnehmer i.S.v. Artikel 39 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV), der VO 1612/68 bzw. der Richtlinie 2004/38/EG (des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht, den Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mittelstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ABl 2004, L 229, S 35, L 197, S 34, sowie ABl 2007, L 204, S 28) ist eine Person, die eine Tätigkeit in einem Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt. Der Begriff ist nach objektiven Kriterien zu bestimmen, die das Arbeitsverhältnis in Ansehung der Rechte und Pflichten der betreffenden Personen charakterisieren und die in ihrer Gesamtheit zu betrachten sind (EuGH, Urteil vom 06.11.2003, C-413/01). Wesentliches Merkmal des Arbeitnehmers ist, dass er Dienste für einen anderen nach dessen Weisung erbringt und dafür eine Gegenleistung/Vergütung erhält. Hinsichtlich des Umfanges der Tätigkeit wurde in der Rechtsprechung und im Schrifttum eine Bagatellgrenze bisher nicht positiv bestimmt (vgl. Erfurter Kommentar - Wißmann, Artikel 39 EGV Rnr. 7 a.E.). Zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft reicht jedenfalls eine Teilzeitbeschäftigung aus. Sie muss nicht den Umfang haben, das aus ihr Einkommen erzielt wird, das im Beschäftigungsgebiet als Minimaleinkommen definiert ist oder angesehen wird (bereits EuGH, Urteil vom 23.03.1982, Rs 53/81) bzw. das den Bezug ergänzender Sozialleistungen nötig macht bzw. ausschließt (EuGH, Urteil vom 03.06.1986, Rs 139/85). Nationale Geringfügigkeitsgrenzen können zur Abgrenzung nicht herangezogen werden. Die Arbeitnehmereigenschaft kann allerdings nicht durch Tätigkeiten begründet werden, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (grundlegend EuGH, Urteil vom 23.03.1982 a.a.O.), in der Rechtsprechung des EuGH ist die Bagatellklausel nicht als erfüllt angesehen worden bei einer von Beginn an zeitlich auf zweieinhalb Monate befristeten (Vollzeit-) Tätigkeit (EuGH, Urteil vom 06.11.2003 a.a.O.), bei einer 30 Wochenstunden umfassendem Tätigkeit eines Rehabilitanden gegen Unterkunft und Taschengeld (EuGH, Urteil vom 07.09.2004, Rs. C-456/02), bei einem Zeitumfang von 12 Wochenstunden (Urteil vom 03.06.1986, Rs. 139/85) und auch von 10 Wochenstunden (Urteil vom 14.12.1995, Rs. C-444/93). Zuletzt ist die Arbeitnehmereigenschaft - in diesem Falle auch vom vorlegenden Bundessozialgericht - nicht in Frage gestellt worden bei einer Beschäftigungszeit zwischen 3 und 14 Stunden wöchentlich bei einem Einkommen zwischen 40 und 168,67 Euro (Urteil vom 18.07.2007, Rs. C-213/05) sowie bei einer "kurzen und nicht existenzsichernden" geringfügigen bzw. einer "wenig als mehr als einen Monat dauernden" Beschäftigung (Urteil vom 04.06.2009, Rs. C-22/08 verbunden mit C-23/08). Des Weiteren hat der EuGH - unter Bezugnahme auf seine bisherige Rechtsprechung - in seinem Urteil vom 04.06.2009 (C-22/08 und C-23/08) nochmals daran erinnert, dass der Begriff des Arbeitnehmers nicht eng auszulegen ist.

Ausgehend davon ist es sachgerecht, die Antragstellerin kraft ihrer aktuellen Beschäftigung bei der Firma btcb als Arbeitnehmerin anzusehen. Es handelt sich zweifelsfrei um "echte" abhängige Arbeit gegen Entgelt; zu diskutieren ist allein, ob der Umfang ausreicht. Dabei bietet insbesondere die aufgezeigte Kasuistik, die als sachgerechte Konkretisierung der Unwesentlichkeit erscheint, keinen Anlass, eine Tätigkeit für 100 Euro monatlich, die zudem seit April 2009 stabil ausgeübt wird, nicht ausreichen zu lassen.

Darüber hinaus steht hier ein weiterer Grund der Anwendung der Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vorliegend entgegen. Dieser folgt aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA) vom 11.12.1953 (BGBl II 1956, Seite 564, dazu Gesetz zum EFA vom 11.12.1953 und zu dem Zusatzprotokoll zu dem Europäischen Fürsorgeabkommen vom 15.05.1956, BGBl II Seite 563). Das EFA ist innerstaatlich anwendbares Rechte und Pflichten des einzelnen begründendes Recht (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.05.2000 - 5 C 29/98, BVerwGE 111, Seite 200 = FEVS 51, Seite 433). Die Anwendbarkeit des BFA ergibt sich weiterhin aus § 30 Abs. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I), wonach Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts unberührt bleiben. Das EFA ist daher von den Sozialleistungsträgern und den Gerichten zu beachten (vgl. Timme in Lehr- und Praxiskommentar - SGB I, 2. Aufl. 2007, § 30 Rnr. 11). Zu den Mitgliedstaaten des EFA gehören u.a. Spanien und die Bundesrepublik Deutschland.

Artikel 1 EFA bestimmt, dass jeder der Vertragsschließenden sich verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge (im folgenden als "Fürsorge" bezeichnet) zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltendem Gesetzgebung vorgesehen sind. In Artikel 2a (i) EFA wird der Begriff der Fürsorge näher erläutert; als "Fürsorge" wird jede Fürsorge bezeichnet, die jeder der Vertragschließenden nach den in dem jeweiligen Teile seines Gebietes geltenden Rechtsvorschriften gewährt und wonach Personen ohne ausreichende Mittel die Mittel für ihren Lebensbedarf sowie die Betreuung erhalten, die ihre Lage erfordert.

Danach erfasste das EFA ohne Zweifel die Sozialhilfe - Hilfe zum Lehensunterhalt - wie sie jetzt im SGB XII geregelt ist (bis zum 31.12.2004 im BSHG).

Doch auch die Leistungen, zur Sicherung des Lebensunterhalts aus den §§ 19 ff. SGB II sind dem Begriff der Fürsorge im Sinne des EFA zuzurechnen. Das zum 01.01.2005 eingeführte Arbeitslosengeld II steht gemäß § 19 SGB II erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zu. Die Leistung ist in Anlehnung an die Sozialhilfe nach SGB XII gestaltet. Sie sieht eine - pauschalierte - dem Regelsatz in der Sozialhilfe vergleichbare Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes vor, sowie die tatsächliche Übernahme der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung, § 20, 22 SGB II. Ähnlich wie in der Sozialhilfe werden für verschiedene Situationen Leistungen für Mehrbedarfe vorgehalten, § 21 SGB II. Das Arbeitslosengeld II weist daher eine sozialhilferechtliche Konzeption auf. Nichts anderes ergibt sich auch aus der Entstehungsgeschichte des SGB II, wonach für Erwerbsfähige zwar der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe durch einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II ersetzt, der Leistungsanspruch insofern allerdings mit dem steuerfinanzierten System der Sozialhilfe zusammengeführt wurde (so auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.06.2009, L 34 AS 790/09 B ER).

Im Anhang I zum EFA (Stand 01.01.2000, siehe Bekanntmachung der Neufassung der Anhänge I, II und III zum EFA vom 20.09.2001, BGBl II 2001, Seite 186 ff.) wird als Fürsorgegesetz im Sinne des Artikel 1 EFA u.a. das BSHG in der Fassung dar Bekanntmachung vom 23.03.1994 (BGBl I Seite 646, 2975) aufgeführt. Eine Neufassung dieses Anhangs im Hinblick auf die Ablösung des BSHG durch das SGB XII und das SGB II zum 01.01.2005 ist - soweit ersichtlich - bislang nicht erfolgt. Nach Artikel 16 a und b EFA haben die Vertragschließenden den Generalsekretär des Europarates über jede Änderung der Gesetzgebung zu unterrichten, die den Inhalt von Anhang I und III berührt und dem Generalsekretär alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen, die in Anhang I noch nicht aufgeführt sind.

Daraus folgt keine Einschränkung dar völkervertragsrechtlichen Fürsorgegewährleistung. Denn eine solche Mitteilung nach Artikel 16 EFA hat nur klarstellende Bedeutung, um die übrigen Vertragsstaaten über den Stand der Fürsorgegesetzgebung im mitteilenden Vertragsstaat zu informieren (so BVerwG a.a.O., Rnr. 19 im juris-Abdruck; LSG Niedersachsen-Bremen; Beschluss vom 14.01.2008; L 8 SO 88/07 ER, Mangold und Pattar in VSS 4/2008, S. 261). Da das BSHG zum 01.01.2005 abgelöst worden ist durch das SGB XII und für erwerbsfähige Hilfebedürftige durch das SGB II ersetzt wurden, treten diese Rechtsvorschriften an die Stelle des im Anhang I genannten BSHG als Fürsorgegesetz im Sinne des Artikel 1 EFA.

Das BVerwG (a.a.O., Rnr. 19, 20 im juris-Ausdruck) hat weiterhin dazu folgendes ausgeführt:

Will der mitteilende Vertragsstaat, dass sich eine spätere Änderung seiner Fürsorgegesetzgebung auf die Staatsangehörigen der übrigen Vertragsstaaten ... nicht in der gleichen Weise auswirken soll wie auf seine eigenen Staatsangehörigen, muss er seine Mitteilung an den Generalsekretär des Europarates mit einem entsprechenden Vorbehalt verbinden (vgl. Artikel 1 Abs. b Satz 2 EFA ...). Denn Artikel 16 Abs. b Satz 2 EFA soll den Vertragsstaaten nur die Vorbehalte offen halten, die sie bei Vertragsschluss noch nicht machen konnten, weil es ein entsprechendes Fürsorgegesetz noch nicht gab, nicht aber den Vertragsstaaten erlauben, sich aus bereits vorbehaltlos eingegangenen Verpflichtungen nachträglich einseitig zu lösen. Eine nachträgliche Absenkung des gesetzlichen Fürsorgestandards für den vom Europäischen Fürsorgeabkommen geschützten Ausländerkreis ist demnach unter der Geltung des Europäischen Fürsorgeabkommen nur durch Absenkung des Fürsorgestandards für Inländer möglich (...).

Danach ist allenfalls fraglich, ob die Bundesrepublik einen Vorbehalt im Hinblick auf das neu geschaffene SGB II anbringen könnte. Da dieses bislang - soweit ersichtlich - nicht geschehen ist, ist neben dem SGB XII auch das SGB II als Fürsorgegesetz im Sinne des Artikel 1 EFA zu behandeln. [...]