VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 18.11.2009 - 6 A 2105/08.A [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 13 f]. - asyl.net: M16300
https://www.asyl.net/rsdb/M16300
Leitsatz:

1. Der Senat hält an der Einschätzung fest, dass muslimische Konvertiten, die einer evangelikalen oder freikirchlichen Gruppierung angehören, spätestens dann einer konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt sind, wenn sie sich im Iran zu ihrem christlichen Glauben bekennen und Kontakt zu einer solchen Gruppierung aufnehmen (Fortführung der Rechtsprechung des Senats im Urteil vom 28.1.2009 - 6 A 1867/07.A -).

2. Für muslimische Konvertiten, die einer evangelikalen oder freikirchlichen Gruppierung angehören, ist im Iran eine religiöse Betätigung selbst im häuslich-privaten oder nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich nicht mehr gefahrlos möglich

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Iran, religiöse Verfolgung, Konvertiten, Qualifikationsrichtlinie, subjektive Nachfluchtgründe
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AsylVfG Abs. 4, AsylVfG § 28 Abs. 1a, AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 5 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Senat hat zur Gefährdung muslimischer Konvertiten bei Rückkehr in den Iran im Urteil vom 28. Januar 2009 - 6 A 1867/07.A - (ZAR 2009, 198 <Leitsätze>; Jurisdokument) folgende Feststellungen getroffen: [...]

Der Senat hält an der Einschätzung fest, dass muslimische Konvertiten, die einer evangelikalen oder freikirchlichen Gruppierung angehören, spätestens dann einer konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt sind, wenn sie sich im Iran zu ihrem christlichen Glauben bekennen und Kontakt zu einer solchen Gruppierung aufnehmen. Die seither bekannt gewordenen neueren Erkenntnisquellen bestätigen die in dem vorbezeichneten Urteil getroffenen Feststellungen (vgl. dazu: ai an VG Mainz vom 07.07.2008, S. 1 ff.; im Ergebnis ebenso: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.07.2009 - 5 A 982/07.A -, Jurisdokument). Selbst das Auswärtige Amt hält seine Aussage, wonach sich staatliche Maßnahmen bisher ganz überwiegend gezielt gegen die Kirchenführer und in der Öffentlichkeit besonders aktive Personen richteten (Auskunft vom 08.08.2008, S. 3), nicht mehr uneingeschränkt aufrecht. Im Lagebericht vom 23. Februar 2009 ist vielmehr erstmals davon die Rede, dass in der Stadt Malakshahr im Juli 2008 sechzehn Personen und in Shiraz zehn Personen verhaftet worden seien, weil sie vom Islam zum Christentum konvertiert seien (Auswärtiges Amt vom 23.02.2009, S. 23). Gleichzeitig weist das Auswärtige Amt darauf hin, trotz des Andauerns des Gesetzgebungsverfahrens zur Reform des iranischen Strafgesetzbuchs sei nicht zu erwarten, dass der Entwurf im Sinne der Menschenrechte "verbessert" werden könnte (Auswärtiges Amt vom 23.02.2009, S. 26). Schließlich geht auch das Bundesamt in seiner Einschätzung zur aktuellen innenpolitischen Lage im Iran - Stand: September 2009 - davon aus, dass bei ernsthaft vom Islam konvertierten Christen regelmäßig mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung anzunehmen sei (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Blickpunkt, Informationszentrum Asyl und Migration, Iran, Aktuelle innenpolitische Lage, September 2009, S. 5).

Geht es im Zusammenhang mit einer religiösen Betätigung um einen Eingriff in das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die physische Freiheit, so ist bereits nach bisheriger Rechtsprechung uneingeschränkt von einer beachtlichen Verfolgung auszugehen, wenn der Eingriff erheblich ist und an asylerhebliche Merkmale anknüpft (vgl. etwa: BVerwG, Urteil vom 25.10.1988 - 9 C 37.88 -, BVerwGE 80, 321 [324]). Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil vom 5. März 2009 - 10 C 51.07 - (NVwZ 2009, 1167) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich hieran durch Art. 9 der Richtlinie 2004/83/EG nichts geändert habe. Demgegenüber kommt es auf die in Rechtsprechung und Literatur umstrittene Frage, ob eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit i.S.d. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG nur dann zu bejahen und dementsprechend Flüchtlingsschutz zu gewähren ist, wenn das sog. religiöse Existenzminimum - also die Glaubensbetätigung im privaten und nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich - betroffen ist, oder ob und unter welchen Voraussetzungen beim Flüchtlingsschutz unter der Geltung der Qualifikationsrichtlinie auch religiöse Betätigungen in der Öffentlichkeit erfasst werden, nicht an. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Frage in dem vorbezeichneten Urteil ausdrücklich als eine gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfrage bezeichnet, die letztlich vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft - EuGH - zu klären sein wird. Da eine religiöse Betätigung für muslimische Konvertiten, die einer evangelikalen oder freikirchlichen Gruppierung angehören, nach den Feststellungen des Senats im Urteil vom 28. Januar 2009 im Iran selbst im häuslichen-privaten oder nachbarschaftlichkommunikativen Bereich nicht mehr gefahrlos möglich ist, bedarf es einer Klärung der aufgezeigten Zweifelsfrage im vorliegenden Verfahren nicht.

Gehört die Klägerin zu dem Personenkreis, dem nach den Ausführungen des Senats im Urteil vom 28. Januar 2009 ein Eingriff in Leib, Leben oder Freiheit droht, so ist ein beachtlicher subjektiver Nachfluchttatbestand gegeben. Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe nicht begrenzt (§ 28 Abs. 1a AsylVfG und Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG; so ausdrücklich BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 -, BVerwGE 133, 31, und vom 5. März 2009 - 10 C 51.07 -, a.a.O.). Auf die Frage, ob und in welchem Umfang die Klägerin ihren Glauben schon im Herkunftsland ausgeübt hat, kommt es demzufolge nicht an. [...]