BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 10.08 - asyl.net: M16391
https://www.asyl.net/rsdb/M16391
Leitsatz:

Keine hinreichende Prüfung der Verfolgungsdichte bei der Feststellung einer Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak durch das Berufungsgericht. Vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.09 - 10 C 11.08 -, M15716.

Schlagwörter: Irak, Sunniten, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte,
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1, GG Art. 3
Auszüge:

[...]

2. Das Berufungsgericht hat zwar ohne Verstoß gegen Bundesrecht den Wegfall der ursprünglichen Anerkennungsvoraussetzungen infolge der grundlegenden politischen Veränderungen im Irak bejaht. Es hat aber ein dem Widerruf entgegenstehendes Drohen erneuter Verfolgung allein damit begründet, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak wegen seines sunnitischen Glaubens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt wäre, gegen die weder der irakische Staat noch sonstige nichtstaatliche Herrschaftsorganisationen Schutz gewähren könnten. Dabei ist das Berufungsgericht von den Maßstäben abgewichen, die das Bundesverwaltungsgericht für die Prüfung und Feststellung einer solchen Verfolgung entwickelt hat. Denn es nimmt eine Gruppenverfolgung für Iraker islamisch-sunnitischen Glaubens an, ohne die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung gebotenen Feststellungen zur Verfolgungsdichte zu treffen. Außerdem ist seine Überzeugungsbildung sowie die Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht im vollen Umfang mit § 108 Abs. 1 VwGO vereinbar. Insbesondere enthält das angefochtene Urteil keine hinreichend nachvollziehbare Begründung für die Schlussfolgerung, dass sämtliche Übergriffe gegen Sunniten an deren Religionszugehörigkeit anknüpfen. Zur näheren Begründung, warum eine Abweichung von den für die Gruppenverfolgung entwickelten Maßstäben und Verstöße gegen § 108 Abs. 1 VwGO vorliegen, verweist der Senat auf sein Urteil vom gleichen Tage in dem Verfahren BVerwG 10 C 11.08, mit dem er ein Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben hat, dessen Gründe inhaltlich und weitgehend auch wörtlich mit den vorliegenden übereinstimmen, das allerdings nicht den Widerruf, sondern die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an einen Iraker sunnitisch-islamischen Glaubens betrifft.

Es kann offenbleiben, ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach einer neueren, irakische Staatsangehörige betreffenden Erlasslage in anderen, ähnlich gelagerten Verfahren vom Widerruf der Flüchtlingsanerkennung absieht. Auch wenn dies der Fall sein sollte, kann der Kläger hieraus nichts zu seinen Gunsten herleiten. Bei dem mit der Klage angegriffenen Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG handelt es sich nämlich um eine gebundene Entscheidung, auf die die aus Art. 3 GG abgeleiteten Grundsätze der Selbstbindung der Verwaltung bei Ermessensentscheidungen nicht übertragbar sind.

3. [...] Bei der erneut vorzunehmenden Prüfung einer Gruppenverfolgung der Sunniten im Irak wird der Verwaltungsgerichtshof zusätzlich die inzwischen vorliegenden neuen Erkenntnismittel berücksichtigen und die erforderlichen Feststellungen über das Verfolgungsgeschehen, insbesondere die Verfolgungsdichte sowie das Ausmaß und die Reichweite der Verfolgungshandlungen, treffen müssen. Sollte das Berufungsgericht eine Verfolgungsgefahr in Teilen des Irak bejahen, wird es erneut zu prüfen haben, ob der Kläger unter Berücksichtigung der aktuellen Verhältnisse im Nordirak oder in mehrheitlich von Sunniten bewohnten Gebieten des Zentralirak internen Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 finden kann. Dabei wird es sich auch mit der Einschätzung anderer Oberverwaltungsgerichte zur Eignung dieser Gebiete als innerstaatlicher Fluchtalternative auseinandersetzen müssen. Außerdem wird das Berufungsgericht Feststellungen zu dem Aufenthalt des Klägers in Suleimania im August 2006 treffen und diese gegebenenfalls im Hinblick auf § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG oder im Rahmen der Prüfung einer inländischen Fluchtalternative würdigen müssen. [...]