OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 03.12.2009 - 18 A 1787/06 - asyl.net: M16428
https://www.asyl.net/rsdb/M16428
Leitsatz:

1. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Rücknahme eines Aufenthaltstitels ist jedenfalls dann der Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung maßgeblich, wenn die Rücknahme unmittelbar weder zur Rechtswidrigkeit des aktuellen Aufenthalts noch zur Ausreisepflicht führt.

2. Die Erteilung bzw. Verlängerung einer zum Ehegattennachzug erteilten Aufenthaltserlaubnis ist rechtswidrig, wenn der Ausländer eine Doppelehe führt.

3. Ob Angaben unvollständig sind, beurteilt sich nicht nur nach der Gestaltung etwa verwendeter Antragsformulare, wenn die Erforderlichkeit weiterer Angaben offensichtlich ist.

4. Wird ein Verwaltungsakt, der die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen später erlassenen Verwaltungsakt begründet, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen, so führt dies zur anfänglichen Rechtswidrigkeit des anknüpfenden Verwaltungsaktes.

5. Eine starre zeitliche Grenze neben § 48 Abs. 4 VwVfG (NRW) für die Rücknahme erschlichener Aufenthaltserlaubnisse besteht nicht.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Rücknahme, Aufenthaltstitel, Aufenthaltserlaubnis, Ehegattennachzug, Familiennachzug, Doppelehe, Polygamie, Verstoß gegen die guten Sitten, sittenwidrig, Ehe, Straftat, Strafbarkeit, Beurteilungszeitpunkt, Rücknahmebescheid, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen,
Normen: VwVfG (NRW) § 48 Abs. 4, VwVfG (NRW) § 48 Abs. 1, AuslG (1990) § 25 Abs. 3 S. 1, AuslG § (1965) 47 Abs. 1 Nr. 6, AuslG (1990) § 92 Abs. 1 Nr. 7, AuslG (1965) § 10 Abs. 1 Nr. 6, AuslG (1965) § 10 Abs. 1 Nr. 7, AuslG (1990) § 46 Nr. 2, GG Art. 6 Abs. 1, StGB § 171, StGB § 172, Ausl
Auszüge:

[...]

Die Bewertung der Aufenthaltstitel als rechtswidrig beruht erstens darauf, dass der Kläger eine Doppelehe geführt hat (dazu nachfolgend a). Daneben hat er sich gemäß § (damals) 171 bzw. (heute) 172 StGB sowie § 47 Abs. 1 Nr. 6 AuslG 1965 bzw. § 92 Abs. 1 Nr. 7 AuslG 1990 strafbar gemacht, so dass Ausweisungsgründe gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 6, 7 AuslG 1965 bzw. § 46 Nr. 2 AuslG 1990 erfüllt sind, was ebenfalls zur Rechtswidrigkeit der jeweiligen Aufenthaltserlaubnis führt (b).

Insoweit kann auf sich beruhen, ob die Aufenthaltstitel aus den nachfolgend genannten Gründen nicht nur rechtswidrig, sondern sogar gemäß § 44 Abs. 2 Nr.6 VwVfG NRW wegen Verstoßes gegen die guten Sitten nichtig waren. [...]

a) Die Erteilung bzw. Verlängerung der zum Ehegattennachzug erteilten Aufenthaltstitel war rechtswidrig, weil der Kläger eine Doppelehe geführt hat. Denn er war sowohl zum Zeitpunkt der erstmaligen Erteilung der Aufenthaltserlaubnis am 20. Juli 1990 als auch zum Zeitpunkt der unbefristeten Verlängerung derselben am 26. August 1993 in Doppelehe mit der indischen Staatsangehörigen Frau H. (seit ca. 1983/1984) und mit der deutschen Staatsangehörigen Frau V. (seit dem 10. Mai 1990) verheiratet. [...]

Eine Doppelehe entfaltet - ungeachtet ihrer rechtlichen Wirksamkeit - die Ehe wäre heute nach deutschem Recht gemäß § 1314 Abs. 1 i.V.m. § 1306 BGB (nur) aufhebbar - zugunsten des Ausländers grundsätzlich keine ausländerrechtlichen Wirkungen, weil sie nicht unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG steht (vgl. etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 6. Januar 2009 - 18 B 1914/08 - und vom 11. Dezember 2006 - 19 B 883/06 -; VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 21. August 2007 - 11 S 995/07 -, NJW 2007, 3453, und vom 15. August 2005 - 13 S 951/04 -, juris, sowie Urteil vom 11. Januar 2006 - 13 S 2345/05 -, AuAS 2006, 149, jeweils mit weiteren Nachweisen; OVG Hamburg, Beschluss vom 17. Februar 1998 Bs VI (VII) 213/95 -, juris).

Gesetzliche Regelungen, die an diejenige Lebensgemeinschaft zwischen Frau und Mann anknüpfen, die als Ehe den Schutz der Verfassung genießt, müssen die wesentlichen, das Institut der Ehe bestimmenden Strukturprinzipien beachten, die sich aus der Anknüpfung des Art. 6 Abs. 1 GG an vorgefundene, überkommene Lebensformen in Verbindung mit dem Freiheitscharakter des verbürgten Grundrechts und anderen Verfassungsnormen ergeben. Hierzu gehört unter anderem das Prinzip der Einehe (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 4. Mai 1971 - 1 BvR 636/68 -, BVerfGE 31, 58, und vom 30. November 1982 - 1 BvR 818/81 -, BVerfGE 62, 323; BVerwG, Urteil vom 30. April 1985 - 1 C 33.81 -, BVerwGE 71, 228; OVG NRW, Beschlüsse vom 25. April 2007 - 19 A 3047/06 - und vom 11. Dezember 2006 - 19 B 883/06 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12. März 2004 10 A 11717/03.OVG -; Nds. OVG, Urteil vom 6. Juli 1992 - 7 L 3634/91 -, juris).

Die Anwendung zu strenger oder zu geringer Voraussetzungen bei der Auslegung und Anwendung von an das Institut der Ehe anknüpfenden gesetzlichen Regelungen ist mit den sich aus der Verfassung selbst ergebenden Strukturprinzipien unvereinbar (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 1971 - 1 BvR 636/68 -, a.a.O.; BVerfG, Beschluss vom 30. November 1982 - 1 BvR 818/81 -, a.a.O.). [...]

Die gesetzlich gewollte Durchsetzungskraft des Verbotes der Doppelehe zeigt sich weiter an seiner Strafbewehrtheit gemäß § 172 StGB (vorher § 171 StGB) sowie der eng begrenzten Möglichkeit des Ausschlusses der Aufhebung einer Doppelehe nach §§ 1314 Abs. 1, 1315 Abs. 2 Nr. 1 BGB. Das Ausländerrecht ist im Einklang mit diesem Verbot auszulegen. [...]

Auch der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung gebietet nicht, die zivilrechtlich wirksame Eheschließung auch im Ausländerrecht als wirksam zu behandeln. Vielmehr ist es gerade nicht ausgeschlossen, die Wirkungen einer solchen Ehe für verschiedene Rechtsbereiche unterschiedlich auszugestalten (vgl. auch OVG Hamburg, Beschluss vom 17. Februar 1998 - Bs VI (VII) 213/95 -, a.a.O.). [...]