VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 11.09.2009 - 7 A 6/09 - asyl.net: M16516
https://www.asyl.net/rsdb/M16516
Leitsatz:

Syrien - Flüchtlingsanerkennung wegen Sippenhaft und Gefahr erneuter politischer Verfolgung durch Einreisekontrolle durch syrische Sicherheitskräfte wegen Untertauchens und unerlaubter Ausreise.

Keine Gruppenverfolgung yezidischer Religionszugehöriger.

Schlagwörter: Syrien, Flüchtlingsanerkennung, Yeziden, Selbsteintritt, Dublin II-VO, Sippenhaft, Kurden, Gruppenverfolgung, religiöse Verfolgung, Qualifikationsrichtlinie, religiöses Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, VO Nr. 343/2003 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Bezüglich der Klägerin zu 1) lagen nach Erkenntnissen des Bundesamtes zwei Eurodac-Treffer vor, und zwar bezüglich der Tschechischen Republik und der Slowakischen Republik. Zur Aufrechterhaltung der Familieneinheit aus humanitären Gründen übte das Bundesamt das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II aus. [...]

Nach diesen Grundsätzen liegen bei der Klägerin zu 1) die Voraussetzungen für die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG in Bezug auf die Arabische Republik Syrien vor. Die Klägerin zu 1) hat ihr Heimatland angesichts unmittelbar drohender Verfolgung verlassen und ist daher als Vorverfolgte zu behandeln. Sie ist bei einer Rückkehr vor einer erneuten Verfolgung nicht hinreichend sicher.

Das Vorbringen der Klägerin zu 1) zu ihrem Verfolgungsschicksal ist glaubhaft und sie ist glaubwürdig. Sie hat sowohl im Verwaltungsverfahren als auch im Rahmen der Anhörung in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen gleich lautend vorgetragen. Sie schilderte die fluchtauslösenden Vorgänge plausibel und detailliert. Dabei berichtete sie ohne Zögern und anschaulich im jeweiligen Zusammenhang. Es entstand nicht der Eindruck, dass sie ihr Erleben ausschmückte oder übertrieb. Sie war auch in der Lage, weitere Einzelheiten nachvollziehbar zu schildern. Das Vorbringen stimmt im Wesentlichen mit dem Vorbringen ihres Ehemannes im Verfahren 7 A 147/07 überein.

Vor diesem Hintergrund geht das Gericht davon aus, dass die Klägerin zu 1) ihr Heimatland vorverfolgt verlassen hat. Sie ist in die ihrem Ehemann unmittelbar drohende Verfolgung einbezogen worden, wie sich aus ihren Festnahmen und Verhören zum Verbleib ihres Mannes ergibt. Der Ehemann war auf Grund seiner Tätigkeit als Dorfvorsteher von staatlichen Sicherheitskräften dazu benutzt worden, falsche Identitätsdokumente auszufertigen. Vor dem Hintergrund der prekären Lebensverhältnisse yezidischer Kurden in Syrien ist nachvollziehbar, dass er sich nunmehr als in das Blickfeld der staatlichen Organe geraten sah und versuchte, sich weiteren Zumutungen, die ihn weiter in die Machenschaften der staatlichen Organe verwickelt hätten, zu entziehen. Gerade dies brachte ihn aber in die konkrete Gefahr, unmittelbar mit staatlichen Repressionen, wie Verhaftung und Folter, überzogen zu werden. Die syrischen Sicherheitsorgane agieren willkürlich und unberechenbar und sind Teil eines stalinistischen Unterdrückungsregimes islamischer Prägung.

Danach ist die Klägerin zu 1) bei einer Rückkehr vor erneuter politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher. Aus der Sicht der syrischen Sicherheitskräfte ist sie untergetaucht und unerlaubt ausgereist. Sie hat daher bei einer Rückkehr intensive Befragungen und Ermittlungen auch unter Anwendung von Folter zu gewärtigen. Auf Grund des Vorfluchtschicksals hat sie das besondere Ermittlungsinteresse der Sicherheitskräfte erweckt. Vor dem Hintergrund der in Syrien herrschenden Willkür des Regimes hat sie dann, ohne dass überhaupt weitere Verdachtsmomente hinzutreten müssten, mit asylerheblichen Repressalien zu rechnen. [...]

Die Kläger zu 2) und 3) haben keinen Anspruch auf Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG oder auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG.

Die Kläger zu 2) und 3) sind bereits nach dem Vorbringen ihrer Eltern unverfolgt aus Syrien ausgereist. Ihnen drohen auch unter dem Gesichtspunkt einer sippengerichteten Verfolgung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsschutzerhebliche Maßnahmen. Hinsichtlich einer sippengerichteten Verfolgung von Kindern in Syrien gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Grundsätzlich kommt nach der Erkenntnislage ein derartiger Grund für Verfolgungshandlungen in Syrien nur bei besonderen Regimegegnern im Einzelfall in Betracht (vgl. z.B. Deutsches Orient Institut, Auskunft vom 31.01.2005 an VG Schleswig). Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts kann von einer generellen Praxis der Sippenhaft in Syrien nicht ausgegangen werden (vgl. Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom 27. Mai 2003 an Reinhold Wendl, Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 30. Januar 2001 an das Verwaltungsgericht Augsburg sowie Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. Juli 2003). Die obergerichtliche Rechtsprechung geht - im Wesentlichen basierend auf den Auskünften des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts - ebenfalls davon aus, dass es in Syrien keine generelle Praxis der Sippenhaft gibt. Allenfalls nach besonderen Umständen des Einzelfalles, etwa gegenüber nahen Angehörigen eines als gefährlich eingestuften Regimegegners, ist eine Sippenhaft vorstellbar (vgl. dazu VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Januar 2001 - A 13 S 32/01 - sowie Urteil vom 19. Mai 1998 - A 2 S 48/9; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 1. September 2000 - 9 A 4088/00.A -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06. September 2001 - A 2 S 2249/98). Das erkennende Gericht geht nach den in das Verfahren eingeführten Auskünften und der durchgängigen obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass es eine generelle Praxis der Sippenhaft in Syrien nicht gibt. Allenfalls in besonderen Fällen (z.B. aktive Mitglieder der Moslem-Bruderschaft oder Angehörige verbotener kommunistischer Gruppen) kommen Vernehmungen oder Verhaftungen von Verwandten und damit eine Sippenhaft in Betracht. Auf Grund der gewonnen Einschätzung liegen aber keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür vor, dass in Bezug auf den Vater der Kläger ein besonderes Ermittlungsinteresse seitens des syrischen Staates vorliegen könnte und von daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Möglichkeit des Zugriffs auf die Kläger zu 2) und 3) besteht.

Auch aus der yezidischen Religionszugehörigkeit der Klägers zu 2) und 3) ergibt sich kein Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. In Syrien unterliegen yezidische Religionszugehörige keiner Gruppenverfolgung oder mittelbaren Gruppenverfolgung (vgl. z.B.OVG Lüneburg, Urteil vom 24.03.2009 - 2 LB 643/07; OVG Lüneburg Urteil vom 22.06.2004 - 2 LB 86/03 -, juris; Hess VGH, Urteil vom 22.06.2006 - 3 UE 1678/03.A ). Diese Einschätzung wird durch die Angaben in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (z.B. vom 26.02.2007, zuletzt vom 09.07.2009) zu Syrien bestätigt. Danach ist lediglich eine gesellschaftliche Benachteiligung nicht auszuschließen und zu unterbinden. Für eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgungsgefahr in Bezug auf den Kläger zu 2) im Zeitpunkt der Ausreise und im Hinblick auf die anzustellende Rückkehrprognose ist danach nichts ersichtlich.

Auch im Hinblick auf die nunmehr zu beachtenden Regelungen der Qualifikationsrichtlinie gilt nichts anderes. Durch Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b) der Richtlinie wird zwar auch die Glaubenspraxis im öffentlichen Raum geschützt, so dass daran anknüpfende Sanktionen schutzbegründend sein können (vgl. Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, § 17 Rn. 6). Dabei führt nicht jede Einschränkung der Religionsfreiheit zu einer Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsrechts (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51/07 -, juris) Das religiöse Existenzminimum ist in Syrien aber grundsätzlich gewährleistet (vgl. OVG NW, Urteil vom 14.02.2006, 15 A 2119/02, juris). Eine Verletzung des religiösen Existenzminimums liegt vor, wenn die Religionsausübung in ihrem unverzichtbaren Kern durch staatliche oder dem Staat zurechenbare Eingriffe unmöglich gemacht würde. Davon kann in Syrien keine Rede sein. Die Arabische Republik Syrien ist ein laizistischer Staat, Glaubensfreiheit wird grundsätzlich gewährleistet. Yeziden unterliegen diesbezüglich keinen relevanten Restriktionen, sondern es gibt lediglich eine gesellschaftliche Benachteiligung, die der syrische Staat nicht vollständig verhindern kann (vgl. Bundesamt, Syrien, Aktuelle innen- und außenpolitische Situation, Oktober 2006, S. 9). Die Glaubensüberzeugung der Yeziden und ihre Betätigung werden danach nicht eingeschränkt, sie unterliegen einer gewissen gesellschaftlichen Diskriminierung und Benachteiligung (so auch VG Minden, Urteil vom 13.02.2007 - 1 K 2123/06). [...]