VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 10.12.2009 - 18 K 718/09.A - asyl.net: M16565
https://www.asyl.net/rsdb/M16565
Leitsatz:

Anspruch auf Selbsteintritt im Dublin-Verfahren und Rückkehr aus Frankreich nach Geburt eines Kindes, da der Ehemann und Kindsvater in Deutschland lebt.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Visum, Abschiebungsanordnung, Frankreich, Schutz von Ehe und Familie, Schwangerschaft, Rechtsschutzinteresse, Erledigung, Klagebefugnis, subjektives Recht, Ermessen, Selbsteintritt, Wiederaufnahme des Verfahrens, am 3/2010
Normen: AsylVfG § 27a, VwGO § 113 Abs. 1 Satz 2, AsylVfG § 34a Abs. 2, GG Art. 19 Abs. 4, VwGO § 42 Abs. 2, EG VO Nr. 343/2003 Art. 3 Abs. 2, EG VO Nr. 343/2003 Art. 20 Abs. 1 Bst. e, EG VO Nr. 343/2003 Art. 5 Abs. 2, EG VO Nr. 343/2003 Art. 9 Abs. 2 S. 1, VwVfG § 51 Abs. 5, VwVfG § 48 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 71 Abs. 1 S. 1, EG VO Nr. 343/2003 Art. 15 Abs. 2, VwGO § 113 Abs. 1 S. 2
Auszüge:

[...]

Durch die Abschiebung der Klägerin und Durchführung des Asylverfahrens in Frankreich ist nicht das Rechtsschutzinteresse entfallen. Der Vollzug eines Verwaltungsaktes führt nur dann zu seiner Erledigung (und damit zum Wegfall des Rechtsschutzinteresses), wenn er nicht mehr rückgängig gemacht werden kann (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Hier hat die Beklagte jedoch die Möglichkeit, die Klägerin nach Deutschland zurückzuführen. Das Rechtsschutzinteresse wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass das Asylverfahren in Frankreich durchgeführt worden ist. Zum einen haben die humanitären Belange, um deren Verwirklichung es im vorliegenden Verfahren geht, dadurch ihr Gewicht nicht verloren. Die Klägerin hat nach wie vor ein Interesse daran, als - erfolglose - Asylbewerberin bei ihrem Ehemann in Deutschland zu leben, solange ihr asylrechtlich begründeter Aufenthalt nicht durch freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach Sri Lanka beendet wird. Zum anderen steht jede vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens durchgeführte Abschiebung unter dem Vorbehalt ihrer Rückgängigmachung für den Fall, dass die Klage Erfolg hat. Insoweit erfolgt die Abschiebung immer auf Risiko der Behörde In Dublin II-Verfahren gilt nichts anderes. Im Gegenteil ist gerade hier wegen des grundsätzlichen Ausschlusses vorläufigen Rechtsschutzes (§ 34a Abs. 2 AsylVfG) die Gewährung effektiven Rechtsschutzes im Hauptsacheverfahren durch Art. 19 Abs. 4 GG zwingend - das heißt unabhängig vom Fortgang des Asylverfahrens im Wiederaufnahmestaat - geboten. Würde der regelmäßige Lauf der Dinge, dass nämlich nach erfolgter Abschiebung der Wiederaufnahmestaat das Asylverfahren fortführt, zur Unzulässigkeit der Klage führen, hätte dies zur Folge, dass dem Asylbewerber im Dublin II-Verfahren gar kein Rechtsschutz mehr zur Verfügung stünde. Vor diesem Hintergrund reicht für die Bejahung des Rechtsschutzinteresses die Möglichkeit aus, dass die deutschen Behörden zu einer für die Klägerin günstigeren Entscheidung über den Asylantrag kommen.

Die Klägerin ist auch gemäß § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt. Sie kann geltend machen, durch die Versagung der materiellen Prüfung ihres Asylantrags in Deutschland und die Anordnung der Abschiebung nach Frankreich in eigenen Rechten verletzt zu sein. Die Regelungen der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin II-VO), sind nicht allein im öffentlichen Interesse geschaffen worden, sondern verbürgen dem Asylbewerber ein subjektives Recht auf Beachtung der Zuständigkeitskriterien bzw, auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Ausübung des Selbsteintrittsrechts (Art. 3 Abs.2 Dublin II-VO). Dies folgt unmittelbar aus Art. 20 Abs. 1 Buchst. e) Dublin II-VO, der bestimmt, dass gegen die Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann.

Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid vom 5. November 2008 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Diese hat einen Anspruch darauf, dass das Bundesamt ihren Asylantrag materiell prüft.

Als die Klägerin erstmals einen Asylantrag stellte (am 25. Mai 2007 in Frankreich), war Deutschland für dessen Prüfung originär zuständig. Gemäß Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO wird bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Zu diesem Zeitpunkt war im Fall der Klägerin das Zuständigkeitskriterium des Art. 9 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO einschlägig. Diese Vorschrift lautet: Besitzt der Asylbewerber ein gültiges Visum (wie hier im Zeitpunkt der Asylbeantragung die Klägerin), so ist der Mitgliedstaat, der das Visum erteilt hat (hier Deutschland), für die Prüfung des Asylantrags zuständig, es sei denn, dass das Visum in Vertretung oder mit schriftlicher Zustimmung eines anderen Mitgliedstaats erteilt wurde (was hier nicht der Fall ist).

Allerdings steht einer Verpflichtung der Beklagten, auf den Folgeantrag der Klägerin das Asylverfahren durchzuführen, die Bestandskraft des Bescheides vom 16. Juni 2008 entgegen, mit dem der Erstantrag wegen der vermeintlichen Zuständigkeit Frankreichs gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt worden ist. Insoweit hat die Klägerin lediglich einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über das Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß §§ 51 Abs. 5, 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG. Ein solches Wiederaufgreifen im Ermessenswege ist nicht durch § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, wonach ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen ist, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen, gesperrt. Denn es geht hier nicht, wie von der genannten Vorschrift vorausgesetzt, um die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags. sondern um die erstmalige materielle Prüfung des Asylbegehrens der Klägerin im Bundesgebiet. Auch § 72a AsylVfG steht einem Wiederaufgreifen nicht entgegen. Denn diese Vorschrift bindet ein Wiederaufgreifen nur in dem Fall an das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG, dass der Asylbewerber nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten, im Bundesgebiet einen Asylantrag (sog. Zweitantrag) stellt. Die Klägerin hat indessen nicht nach, sondern vor Beendigung ihres Asylverfahrens in Frankreich in Deutschland Asyl beantragt, Daher hätte die Beklagte auf den erneuten Asylantrag über ein Wiederaufgreifen entscheiden und dabei als wesentlichen Ermessensgesichtspunkt die Rechtswidrigkeit des Erstbescheides berücksichtigen müssen. Dies ist ersichtlich nicht geschehen. Die Beklagte bestreitet vielmehr, für die Durchführung des Asylverfahrens originär zuständig gewesen zu sein. Schon aus diesem Grund ist der streitgegenständliche Bescheid rechtswidrig. Da indessen nicht von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen ist, die Beklagte also nicht wegen ihrer sich aus dem Visum ergebenden ursprünglichen Zuständigkeit das Verfahren wiederaufgreifen muss, lässt sich das Klagebegehren, soweit es über eine Verpflichtung zur ermessensfehlerfreien Entscheidung hinaus auf ein Wiederaufgreifen und die Durchführung des Asylverfahrens im Bundesgebiet gerichtet ist, hierauf nicht stützen.

Allerdings ergibt sich ein derartiger Anspruch der Klägerin aus § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG und Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO. Die dem Erstbescheid zu Grunde liegende Sachlage hat sich nachträglich dadurch zugunsten der Klägerin geändert, dass sie schwanger geworden ist und am 1. Mai 2009 ihren Sohn geboren hat. Durch die Schwangerschaft und die Geburt des Kindes sind die Voraussetzungen für einen Selbsteintritt der Beklagten auf der Grundlage der humanitären Klausel des Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO erfüllt. Diese Änderung der Sach- und Rechtslage ist vom Gericht im vorliegenden Verfahren zu berücksichtigen. Die Schwangerschaft bestand ausweislich der zur Gerichtsakte gereichten Kopien aus dem Mutterpass bereits im Zeitpunkt der Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheides vom 5. November 2008. Die Geburt erfolgte zwar erst nach Klageerhebung; sie ist aber gleichwohl in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. weil gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen ist.

Aus der geänderten Sach- und Rechtslage folgt eine Verpflichtung der Beklagten zum Selbsteinritt. Das in Art. 3 Abs. 2 geregelte Selbsteintrittsrecht soll den Staaten beim Umgang mit den Zuständigkeitskriterien der Verordnung eine gewisse Flexibilität ermöglichen. Nach den Vorstellungen des Verordnungsgebers soll jeder Staat das Recht behalten, aus politischen, humanitären oder praktischen Gründen bei ihm gestellte Asylanträge selbst zu prüfen. Damit handelt es sich bei Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO nicht um eine rein verfahrensrechtliche Vorschrift, sondern um ein Instrumentarium, das im Zusammenhang mit der humanitären Klausel des Art. 15 Dublin II-VO zu sehen ist und somit materiellen Gehalt hat (Vgl. Hruschka, Humanitäre Lösungen in Dublin-Verfahren, Asylmagazin 7-8/2009).

Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Asylbewerber eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Verordnung und übernimmt die mit der Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen (Satz 2 der Vorschrift). Dieses Selbsteintrittsrecht ist das korrespondierende Instrument zu der humanitären Klausel des Art. 15 Dublin II-VO. Gemäß Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO kann jeder Mitgliedstaat aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, Familienmitglieder und andere abhängige Familienangehörige zusammenführen, auch wenn er dafür nach den Kriterien dieser Verordnung nicht zuständig ist. Weitergehend bestimmt Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO, dass die Mitgliedstaaten in Fällen, in denen die betroffene Person wegen Schwangerschaft, eines neugeborenen Kindes, einer schweren Krankheit, einer ernsthaften Behinderung oder hohen Alters auf die Unterstützung der anderen Person angewiesen ist, im Regelfall entscheiden, den Asylbewerber und den anderen Familienangehörigen, der sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, nicht zu trennen bzw. sie zusammenzuführen, sofern die familiäre Bindung bereits im Herkunftsland bestanden hat.

Hiervon ausgehend hätte das Bundesamt durch Selbsteintritt verhindern müssen, dass die Klägerin nach Frankreich abgeschoben wird. Die Klägerin war (wegen der Schwangerschaft) bzw. ist (wegen des neugeborenen Kindes) auf Unterstützung durch ihren Ehemann angewiesen. Die Ehe hat auch bereits in Sri Lanka bestanden. Damit ist der Regelfall gegeben, in welchem der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, nach den Vorstellungen des Verordnungsgebers von der Möglichkeit des Selbsteintritts Gebrauch machen soll. Besondere Umstände, aus denen sich hier eine Ausnahme von dieser Regel ergeben könnte, sind nicht erkennbar. Sie lassen sich insbesondere nicht dem Schriftsatz der Ausländerbehörde des Kreises Heinsberg an das OVG NRW vom 19. August 2008, auf den die Beklagte sich beruft, entnehmen. Soweit dort Zweifel am Bestand einer schutzwürdigen Ehe geäußert werden, hält das Gericht dies nicht für tragfähig bzw. durch die weitere Entwicklung des Falles für widerlegt. Zutreffend ist freilich, dass die Klägerin im Asylverfahren eine Familienzusammenführung erstrebt, die sie nach ausländerrechtlichen Vorschriften wohl nicht erreichen könnte. Dies ist indessen keine atypische Situation, sondern genau die Interessenlage, die von Art. 15 Dublin II-VO aufgegriffen und einer Regelung zu Gunsten des Asylbewerbers zugeführt wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Art. 15 Dublin II-VO keinen dauerhaften Familiennachzug ermöglicht, sondern nur eine auf die Dauer des Asylverfahrens beschränkte Zusammenführung ermöglicht. Ferner fällt hier zu Gunsten der Klägerin ins Gewicht, dass Deutschland. wie oben dargelegt, nach Art. 9 Abs. 2 Dublin II-VO ohnehin originär zuständig war, durch den Selbsteintritt mithin nur der Zustand hergestellt wird, der der materiellen Rechtslage entspricht.

Die Verpflichtung der Beklagten, die Folgen des Vollzugs der Abschiebungsanordnung nach Frankreich rückgängig zu machen, ergibt sich aus § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO. [...]