VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 16.11.2009 - 33 L 232.09 A - asyl.net: M16572
https://www.asyl.net/rsdb/M16572
Leitsatz:

Keine Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist bei Untertauchen ohne einvernehmliche Entscheidung hierüber durch die beiden betroffenen Mitgliedstaaten.

Vorläufiger Rechtsschutz vor einer Überstellung nach Griechenland ist zudem nach dem Beschluss des BVerfG v. 8.9.2009 geboten.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Griechenland, vorläufiger Rechtsschutz,
Normen: VwGO § 80 Abs. 7, AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 27a, VO Nr. 343/2003 Art. 19 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Die Zuständigkeit für die materielle Prüfung des Asylbegehrens ist durch Fristablauf nach Art. 19 Abs. 4 der Dublin II-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen. Nach Satz 1 dieser Vorschrift geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Diese Frist ist verstrichen. In Lauf gesetzt wird sie mit der Erklärung der Übernahmebereitschaft durch den zunächst zuständigen Staat. Das Übernahmeersuchen der Beklagten ist Griechenland im elektronischen Verkehr am 20. Februar 2009 zugegangen. Es war im Sinne des Art. 17 Abs. 2 Dublin II-VO als dringlich gekennzeichnet, so dass die Antwortfrist gemäß Art. 18 Abs. 6 der Dublin II-VO einen Monat betrug. Die Aufnahmebereitschaft Griechenlands gilt gemäß Art. 18 Abs. 7 der Dublin II-VO seit dem Ablauf dieser Frist, also mit dem 20. März 2009, als erklärt; mit Beginn des Folgetages ist die Frist des Art. 20 Abs. 2 der Dublin II-VO in Lauf gesetzt worden. Die sechsmonatige Regelfrist endete mit Ablauf des 21. September 2009.

Die Frist ist auch nicht verlängert worden. Zwar kann sie nach Art. 19 Abs. 2 Satz 2 der Dublin II-VO höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung oder die Prüfung des Antrags aufgrund der Inhaftierung des Asylbewerbers nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn der Asylbewerber flüchtig ist. Keine dieser Fallgruppen greift jedoch ein, selbst wenn es nach Aktenlage kurzzeitig unklar war, wo sich der Antragsteller aufhielt. Entscheidend ist, dass sich die vorgesehene Frist nicht automatisch verlängert. Vielmehr bedarf es hierzu einer eindeutigen Entscheidung. Dafür spricht schon der Wortlaut, der ein Ermessen nicht nur im Hinblick auf das "Ob" der Verlängerung vorsieht, sondern auch die Dauer der Verlängerung nur bis maximal ein Jahr bzw. achtzehn Monate zulässt. Eine solche Entscheidung muss aber einvernehmlich zwischen den betroffenen Mitgliedstaaten getroffen werden (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, § 27a Rdnr. 261; vgl. auch VG Neustadt an der Weinstraße, Urteil vom 16. Juni 2009, 5 K 1166/08.NW, Juris). An einer einvernehmlichen Entscheidung der beiden betroffenen Mitgliedstaaten fehlt es hier.

Damit ist der Erlass einer Regelungsanordnung geboten, um das nach den obigen Ausführungen nunmehr bestehende Recht des Antragstellers auf Durchführung eines Asylverfahrens in Deutschland effektiv durchzusetzen.

Ungeachtet der vorstehenden Erwägungen erweist sich die Entscheidung, den Antragsteller nach Griechenland zurückzuschieben, auch aus einem weiteren Grund als fehlerhaft und erscheint vorläufiger Rechtsschutz geboten. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. September 2009 (2 BvQ 56/09) ist im Hauptsacheverfahren zu prüfen, ob und gegebenenfalls welche Vorgaben das Grundgesetz für die Grenzen der fachgerichtliche Prüfung des Konzepts der normativen Vergewisserung in Bezug auf das Asylsystem in Griechenland trifft. Das Ergebnis eines solchen Verfahrens ist derzeit ungewiss. Eine konkrete Folgenabwägung muss zugunsten des im Falle der Rückführung nach Griechenland dort möglicherweise ernstlich gefährdeten Antragstellers ausfallen. [...]