VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 21.01.2010 - 8 K 20125/09 Me [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 64 ff.] - asyl.net: M16609
https://www.asyl.net/rsdb/M16609
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans. Der Kläger, der nicht auf den Rückhalt von Verwandten in Kabul zurückgreifen kann, wäre außer Stande, aus eigener Kraft für seine Existenz zu sorgen. Zu berücksichtigen sind auch die erheblichen Anhaltspunkte für eine PTBS; es ist anzunehmen, dass diese in Afghanistan nicht behandelbar ist.

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungsverbot, Posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, extreme Gefahrenlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Kläger wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen der dort gegebenen Verhältnisse einer solchen extremen Gefahrenlage ausgesetzt. Die Existenz einer derartigen Gefahrenlage ist nach einer Gesamtschau der allgemeinen Lage im betreffenden Staat und der persönlichen Situation des Ausländers zu beurteilen, dabei ist grundsätzlich auf eine landesweite Gefährdung abzustellen (BVerwG, U. v. 17.10.1995, a.a.O.).

Dahinstehen kann, ob sich die Gefahr bereits aus der instabilen und sich immer mehr verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan ergibt. Während im Süden und Südosten des Landes Aktivitäten regierungsfeindlicher Kräfte gegen die Zentralregierung und die Präsenz der internationalen Gemeinschaft die primäre Sicherheitsbedrohung darstellen, sind dies im Norden und Westen häufig Rivalitäten lokaler Machthaber, die in Drogenhandel und andere kriminelle Machenschaften verstrickt sind. Die organisierte Kriminalität hat seit 2007 landesweit stark zugenommen. Wachsende Unzufriedenheit bei der Bevölkerung mit der bisherigen Regierungspolitik, das Wiedererstarken der Taliban, die steigende Kriminalität, die Aktivitäten illegaler Milizen sowie bewaffnete Konflikte zwischen Ethnien bestimmen das Bild. Sicherheitsrelevante Vorfälle mit Sprengfallen und Selbstmordanschlägen nehmen landesweit weiter zu. Die Sicherheitslage in Kabul bleibt weiter fragil, auch wenn sie im regionalen Vergleich zufriedenstellend ist. Ende August 2008 übernahmen die Regierungsbehörden von ISAF formell die Sicherheitsverantwortung für die Stadt Kabul, die internationale Schutztruppe ist vorwiegend aus dem Stadtbild verschwunden und nationalen Sicherheitskräften gewichen. Die Lage ist dadurch aber nicht unsicherer geworden, vielmehr kann sogar von einer Stabilisierung der Sicherheitslage gesprochen werden, was der allgegenwärtigen und sichtbaren Präsenz afghanischer Sicherheitskräfte geschuldet ist, die in dieser Form nur in der Hauptstadt zu beobachten ist. Es gibt vereinzelt Übergriffe von Polizei und Sicherheitskräften gegenüber der Zivilbevölkerung. Angehörige der Sicherheitskräfte stellen sich gelegentlich als Täter von bewaffneten Raubüberfällen und Diebstählen, vereinzelt auch von kriminell motivierten Entführungen heraus. Obwohl die Anzahl an Selbstmordattentaten seit 2008 abgenommen hat, haben vereinzelte spektakuläre Anschläge eine neue Qualität erreicht und führten zu einer Zunahme des Unsicherheitsgefühls. Hauptanschlagsziele sind nach wie vor neben den afghanischen Sicherheitskräften und Regierungsgebäuden auch ausländische Truppen und ausländische Vertretungen. Zu beobachten war im 2. Halbjahr 2008 auch eine deutliche Zunahme von Entführungen hauptsächlich afghanischer Staatsangehöriger zumeist mit allgemein kriminellem Hintergrund zwecks Erpressung von Lösegeld. Diese Gefahr betrifft auch Rückkehrer, wenn ihnen ausreichende finanzielle Mittel für einen Freikauf unterstellt werden. Im 1. Halbjahr 2009 war die Zahl der Entführungen hingegen wieder leicht rückläufig (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Oktober 2009, S. 13 ff.).

Ob jeder Rückkehrer aufgrund der geschilderten schlechten Sicherheitslage "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wird", kann jedoch offenbleiben, denn eine extreme Gefährdungslage liegt für den Kläger jedenfalls darin, dass er nicht in der Lage sein wird, sein Überleben zu sichern. Die Versorgungslage im gesamten Land ist schon für gesunde und arbeitsfähige Afghanen als katastrophal anzusehen. Zwar sind in Afghanistan zahlreiche supranationale, staatliche und private Hilfsorganisationen tätig, die sich bemühen, die Versorgung der notleidenden Bevölkerung sicher zu stellen. Dieses gelingt ihnen jedoch nur völlig unzureichend, wie sich aus den insofern übereinstimmenden Auskünften zur Lage in Afghanistan ergibt. Selbst das Auswärtige Amt hat die Wirtschaftslage Afghanistans als einem der ärmsten Länder der Welt als weiterhin schwierig bezeichnet. Die Wohnraumversorgung zu angemessenen Preisen sei absolut unzureichend, rückkehrende Asylbewerber würden letztlich nur dann mit menschenwürdigem Wohnraum versorgt, wenn sie auf die Hilfe von Familienangehörigen in Kabul zurückgreifen könnten (AA, Lagebericht vom 07.03.2008, Seite 24, ähnlich auch Lagebericht vom Oktober 2009).

Der Sachverständige Dr. Mostafa Danesch hat in seinem Gutachten vorn 23.01.2006 ausgeführt, dass die Wirtschaftslage in Afghanistan desolat sei, es kaum bezahlbare Wohnungen gebe, die Arbeitslosenquote ca. 80 % betrage und die Kriminalität enorm angewachsen sei. Staatliche und soziale Sicherungssysteme seien nicht bekannt, Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherungen gibt es nicht. Nach Ansicht von Dr. Danesch stoßen insbesondere Rückkehrer auf große Schwierigkeiten, wenn sie außerhalb eines Familienverbandes oder nach längerer Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren und ihnen ein soziales oder familiäres Netzwerk sowie örtliche Kenntnisse fehlen. Rückkehrern sei es praktisch unmöglich, sich eine Existenz aufzubauen. Innerhalb kürzester Zeit hätten 1,5 Millionen Rückkehrer Kabul überschwemmt, wo sich die Hilfsorganisationen nicht in der Lage gesehen hätten, für eine derartige Masse Menschen Nahrungsmittel und Unterkünfte zu stellen und ihnen eine wirtschaftliche Perspektive zu eröffnen. Internationale Organisationen hätten bei der Auswahl der Hilfsbedürftigen strenge Maßstäbe angelegt und Rückkehrern aus Europa unterstellt, sie seien finanziell besser gestellt. Das Heer der Tagelöhner und Arbeitslosen lasse die Aussicht auf Arbeit gering erscheinen. In den Zeltlagern seien die hygienischen Verhältnisse ebenfalls katastrophal. Von der Bevölkerungszahl in Kabul seien etwa die Hälfte mittellose Flüchtlinge, weshalb die Hilfsangebote nur einen kleinen Teil erreichten. Lebensmittelpreise und Mieten seien in astronomische Höhen gestiegen, die Versorgung sei in einem lebensbedrohlichen Maß ungesichert.

Auch nach dem Bericht "Zur Lage in Afghanistan" vom Informationsverbund Asyl stellt sich die Situation in Afghanistan katastrophal dar. Danach gehört Afghanistan zu den ärmsten Ländern der Welt. Etwa 70 % der Bevölkerung litten an Unterernährung. Es gibt so gut wie keine öffentliche Wasserversorgung, 60 bis 70 % der Bevölkerung hätten lediglich Zugang zu öffentlichen Brunnen, die kaum als Trinkwasser geeignet seien. Die Bevölkerung sei seit 2001 um etwa 75 % gewachsen, was die Hauptstadt Kabul völlig überfordere. Teilweise werde davon ausgegangen, dass Kabul mittlerweile 4,5 Millionen Einwohner habe, in den letzten Jahren allerdings die Fläche der Stadt nur um ein Drittel gewachsen sei. Die Zahl der Obdachlosen werde auf mindestens 10.000 geschätzt, Gruppen von Vertriebenen würden darüber hinaus häufig in öffentlichen Gebäuden und Ruinen leben. Familien, die ein Zimmer zur Miete gefunden hätten, müssten dafür 15 bis 20 Dollar pro Monat ausgeben, der Tageslohn betrage hingegen maximal zwei Dollar. Das Gesundheitssystem sei völlig unzureichend. Die Gesundheitskosten seien gewaltig und von den meisten Familien nicht zu bezahlen. Jeden Monat würden etwa fünf bis sechs Kinder sterben, weil sie zu spät im Krankenhaus aufgenommen würden. Es fehle an moderner Ausrüstung, Medikamenten und Personal im Krankenhaus.

Eins der größten Probleme sei die Arbeitslosigkeit. Eine feste Arbeitsstelle zu finden, sei nahezu unmöglich. Die Familien würden deshalb versuchen, sich mit gelegentlicher Lohnarbeit ihre Existenz zu sichern.

Aus den Gutachten von Dr. Glatzer vom 31.01.2008 und Peter Rieck vom 15.01.2008, jeweils an das OVG Koblenz, ergibt sich, dass es selbst für alleinstehende, arbeitsfähige junge Männer, die nach Afghanistan zurückkehren, kaum legale Erwerbsmöglichkeiten gibt, da faktisch etwa 65 % der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos seien. Auch sei die Gefahr, dass solche Rückkehrer trotz der Unterstützung durch humanitäre Hilfsorganisationen das zum Leben Notwendige an Unterkunft und Ernährung nicht erlangen, sehr groß.

Eine ausreichende Mindestversorgung, uni überleben zu können, ist nur bei Rückkehrern sichergestellt, die auf einen zur Hilfe bereiten und Unterstützung gebenden Familienverband zurückgreifen können, soziale Sicherungssysteme existieren in Afghanistan nicht (Lagebericht Oktober 2009, S. 32). Insbesondere Rückkehrer aus dem westlich geprägten Ausland stoßen auf große Schwierigkeiten.

In Würdigung dieser Umstände steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die aus Deutschland zurückkehrenden Asylbewerber, die nicht auf den Rückhalt von Verwandten in Kabul, das aufgrund der Sicherheitslage einzig für eine Rückkehr in Betracht kommt, zurückgreifen können, außer Stande sind, aus eigener Kraft für ihre Existenz zu sorgen. Sie haben keinerlei Chance, der Obdachlosigkeit und der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Eine Betätigung als Tagelöhner ist angesichts des Heeres von freiwilligen Rückkehrern, die sich um solche Einkommensquellen bemühen, so gut wie ausgeschlossen. Die abgeschobenen Rückkehrer unterfallen auch nicht dem Mandat des UNHCR, der mit seinem Programm nur freiwillige Rückkehrer unterstützt, und können deshalb nicht mit ausreichender humanitärer Hilfe rechnen (vgl. Informationsverbund Asyl, "Zur Lage in Afghanistan").

In Würdigung dieser Zustände in Afghanistan steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der aus Herat stammende Kläger, der nicht auf den Rückhalt von Verwandten in Kabul, zurückgreifen kann, außer Stande ist, aus eigener Kraft für seine Existenz zu sorgen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass erhebliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Kläger an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, wie sich aus der Stellungnahme der Psychotherapeutin ... des Psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge vorn 08.01.2010 ergibt. Es ist anzunehmen, dass diese in Afghanistan nicht zu behandeln ist und bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein hohes Risiko für eine Verschlechterung besteht. [...]