VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 15.12.2009 - 35 A 585.07 - asyl.net: M16683
https://www.asyl.net/rsdb/M16683
Leitsatz:

Keine Rücknahme unbefristeter Aufenthaltstitel, nachdem den Behörden die türkische Staatsangehörigkeit bekanntgeworden ist (Mahalmi), da dies zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Privatleben führen würde. Mit Blick auf die neuere Rechtsprechung des EGMR kommt es für den Schutzbereich des Art. 8 EMRK nicht entscheidungserheblich darauf an, ob der Ausländer über einen zumindest vorübergehenden legalen Aufenthalt verfügt; der Schutzbereich dieses Menschenrechts dürfte vielmehr auch bei nur Geduldeten eröffnet sein können.

Schlagwörter: Rücknahmebescheid, Rücknahme, Aufenthaltserlaubnis, Ermessen, Ermessensfehler, Türkei, Libanon, Mahalmi, Verhältnismäßigkeit
Normen: VwVfG § 48, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

1. Die Rücknahme der den Klägern erteilten unbefristeten Aufenthaltstitel mit Wirkung für die Zukunft ist zu Unrecht erfolgt.

Rechtsgrundlage für die insoweit angefochtenen Verfügungen bildet § 1 Abs. 1 VwVfG Bln i.V.m. § 48 VwVfG Bund (im Folgenden: VwVfG), Danach kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Anders als bei der Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts, der eine Geld- oder Sachleistung gewährt oder hierfür Voraussetzung ist, ist bei sonstigen begünstigenden Verwaltungsakten ein etwaiges Vertrauen des Begünstigten auf den Bestand des Verwaltungsaktes kein Hinderungsgrund für die Rücknahme; vielmehr ist dieses in die Ermessenserwägungen der Behörde einzustellen (Sachs, in: Stelken/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 48 Rn. 177 f.), a) Zwar waren die hier in Frage stehenden Verwaltungsakte, nämlich die Erteilung von unbefristeten Aufenthaltserlaubnissen im Jahr 1996, objektiv rechtswidrig (aa). Der Beklagte hat jedoch das ihm eröffnete Rücknahmeermessen nicht fehlerfrei ausgeübt (bb).

aa) Eine objektive Rechtswidrigkeit ist gegeben, da zur hinreichenden Überzeugung des Gerichts feststeht, dass die Kläger im Zeitpunkt der Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnisse jedenfalls die türkische Staatsangehörigkeit besaßen. Als türkischen Staatsangehörigen wäre ihnen der in Frage stehende Aufenthaltstitel mangels einer entsprechenden Rechtsgrundlage nicht erteilt worden.

Das Gericht geht hier gemäß § 108 Abs. 1 VwGO von folgendem Sachverhalt aus: Die Kläger stammen aus dem Libanon, wo sie geboren und aufgewachsen sind. Die Eltern der Kläger waren vor deren Geburt von dem in der Region Mardin/Savur (heutige Türkei) liegenden Ort Ückavak in den Libanon übergesiedelt. Sei den Vätern der Kläger handelt es sich um Brüder, der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) sind mithin Cousin und Cousine. Aus dem Libanon sind die Kläger dann im Jahr 1981 in die Bundesrepublik eingereist. Dies entspricht ihrem unwiderlegten Vortrag und wird durch die Ausstellung von libanesischen Pässen in den Jahren 2004 (Kläger zu 1) bzw. 2005 (Klägerin zu 2) bestärkt. [...]

Hinzuzufügen ist, dass das hier in Frage stehende Herkunftsgebiet der Kläger ursprünglich nicht auf dem Gebiet der heutigen Türkei lag, sondern zu Syrien gehörte. Erst mit dem Vertrag von Lausanne 1923 wurde die Region dem türkischen Staatsgebiet zugesprochen. Vor diesem Hintergrund besteht an der arabischen Abstammung und Identität der Kläger kein Zweifel.

Dies schließt indes nicht aus, dass sie zugleich türkische Staatsangehörige sind. Eine solche doppelte Staatsbürgerschaft wird weder vom libanesischen noch vorn türkischen Staatsangehörigkeitsrecht ausgeschlossen, Vorliegend sind beide Kläger im sogenannten "Nüfus"-Register Savur, das u.a. für den Ort Ückavak zuständig ist, eingetragen, und zwar als ... und .... Zur Eintragungspraxis in türkischen Registern führt die 27. Kammer unter Bezugnahme auf den Bericht von Freckmann/Kalmbach zwar Folgendes aus (a.a.O.):

"Nach der in das Verfahren eingeführten Untersuchung nehmen die türkischen Nüfus-Behörden Eintragungen in den Registern auf einfachen Antrag vor. Ein Nachweis durch Vorlage von Urkunden wird, mit Ausnahme von Eheschließungen und der Berichtigung von Geburtsdaten, nicht gefordert. Die Eintragungen sind zwar grundsätzlich von den Betroffenen bzw. von deren gesetzlichen Vertretern zu veranlassen. In ländlichen Gegenden war es aber jedenfalls in der Vergangenheit nicht unüblich, dass Eintragungen auch von entfernten Verwandten, Dritten oder Dorfvorstehern veranlasst wurden. Systembedingt ist es daher möglich, dass die eingetragenen Daten nicht den tatsächlichen Umständen entsprechen. Ausdrücklich wird in der Untersuchung festgestellt, dass die im Libanon oder sonst im Ausland lebenden betroffenen Familien in der Regel keine Kenntnis von den im Nüfus-Register Savur, das u.a. für das Dorf Ückavak zuständig ist, erfolgten Eintragungen haben; sie selbst hätten sich nicht registrieren lassen wollen (Freckmann/Kalmbach, a.a.O., S, 6)."

Ungeachtet dieser Eintragungspraxis steht nach dem Ergebnis der Nachforschungen des Beklagten - die sich nicht nur auf die Registereintragungen, sondern auch auf weitere Beweistatsachen stützen - zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Kläger die türkische Staatsangehörigkeit besitzen:

Gemäß Art. 1 des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes Nr. 403 vom 11. Februar 1964 (tStAG) erhält das von einem türkischen Vater abstammende oder von einer türkischen Mutter geborene Kind - gleich an welchem Ort der Welt - mit seiner Geburt die türkische Staatsangehörigkeit. Bei dem in Berlin lebenden Vater der Klägerin zu 2) wurde im Rahmen einer polizeilichen Durchsuchungsmaßnahme im Jahr 2003 dessen türkischer Nüfus aufgefunden. Im Rahmen der sich anschließenden Vernehmung bekundete er unmissverständlich, dass er Türke sei. Der Vater des Klägers zu 1) lebt nach dessen Angaben seit Mitte der 70er Jahre wieder im Herkunftsort Ückavak in der Türkei. Lebensnah ist davon auszugehen, dass er - wie auch sein Bruder, der Vater der Klägerin zu 2) - türkischer Staatsangehöriger ist. Infolgedessen wuchs auch den Klägern mit Geburt die türkische Staatsangehörigkeit zu. Erst im Jahr 2002 und damit deutlich nach Erteilung der hier in Frage stehenden Aufenthaltstitel - wurde dem Kläger zu 1) wegen Nichtableistung des Wehrdienstes die türkische Staatsangehörigkeit wieder entzogen (vgl. Art. 25 tStAG).

Vor diesem Hintergrund können die - von den Klägern hinsichtlich wesentlicher Personendaten als unrichtig gerügten - Registereintragungen jedenfalls für die Frage der Nachweisbarkeit der Staatsangehörigkeit eine Rolle spielen. Gem. Art 38 tStAG unterliegt der Beweis der türkischen Staatsangehörigkeit keinen Formvorschriften. Das Vorliegen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet aufgrund der Eintragungen in den Nüfus-Registern sowie bei Vorliegen von Nüfus, Pass oder Passersatzpapieren bzw. Staatsangehörigkeitsbescheinigungen. Der Beweis des Gegenteils wurde durch die Kläger nicht erbracht, vielmehr hat sich der Kläger zu 1) in seiner persönlichen Anhörung im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 15. Dezember 2009 dahingehend geäußert, dass er nicht wisse, wer ihn und seine Kinder - mit offensichtlichen Fehlern - in das türkische Register habe eintragen lassen.

Da weder Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass die Kläger auch bei feststehender türkischer Staatsangehörigkeit in dem hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt am 11. April 1996 in den Genuss einer Altfallregelung gekommen wären, und auch keine (damalige) allgemeine Verwaltungspraxis des Beklagten feststellbar ist, wonach auch aus dem Libanon eingereisten Kurden mit türkischer Staatsangehörigkeit ein Bleiberecht einzuräumen gewesen sei, ist von einer objektiven Rechtswidrigkeit der hier in Frage stehenden Verwaltungsakte auszugehen.

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen kann offen bleiben, ob sich die objektive Rechtswidrigkeit der Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis auch aus der libanesischen Staatsangehörigkeit der Kläger ergibt, die diese durch die per Dekret im Jahr 1994 vollzogene Sammeleinbürgerung erhalten haben.

Allerdings hätte den Klägern nach der im Jahr 1996 gültigen Weisungslage des Beklagten wohl nicht nur als staatenlosen Kurden aus dem Libanon ein Anspruch auf Erteilung einer (unbefristeten) Aufenthaltserlaubnis zugestanden, sondern auch als Staatsangehörigen des Libanon, jedenfalls wenn ein Heimatpass hätte vorgelegt oder der Nachweis hätte erbracht werden können, dass Letzterer in zumutbarer Weise nicht zu erhalten war ("Altfallregelung" für Angehörige bestimmter Staaten/Personengruppen, vgl. Ziff. B.32.1. der Vorläufigen Anwendungshinweise der Ausländerbehörde Berlin, Stand 19. Dezember 2000).

bb) Das ihm somit im Rahmen des § 48 VwVfG eingeräumte Ermessen hat der Beklagte jedoch nicht fehlerfrei ausgeübt.

Zwar gehen die angefochtenen Bescheide ausdrücklich von einer Ermessensentscheidung nach § 48 VwVfG aus und wird in ihnen - angesichts des Vorliegens der Voraussetzungen von § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 VwVfG zutreffend - dargelegt, dass sich die Kläger nicht auf Vertrauensschutz berufen könnten (dazu sogleich unter aaa). Allerdings wurde den privaten Belangen der Kläger - insbesondere im Hinblick auf ihre fast 30-jährige Aufenthaltszeit im Bundesgebiet und die über 11-jährige Innehabung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis - nicht ausreichend Rechnung getragen und damit im Ergebnis der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt (bbb).

aaa) Was zunächst die Frage des Vertrauensschutzes angeht, hat der Beklagte in den angefochtenen Bescheiden hierzu ausgeführt, die Kläger hätten die Behörde über Jahre hinweg über ihre wahre Identität getäuscht, da sie wissentlich falsche Angaben zu ihrer Person und Staatsangehörigkeit gemacht hätten.

Nicht zur Überzeugung des Gerichts fest steht, dass den Klägern eine arglistige Täuschung im Sinne des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 VwVfG zur Last gelegt werden kann. Denn dies hätte erkennbar ein subjektives Element erfordert, nämlich die positive Kenntnis von der Unwahrheit der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Tatsachen.

Ein solches positives Wissen ist den Klägern indes nicht nachweisbar. Weder im Hinblick auf die türkische noch auf die libanesische Staatsangehörigkeit liegen eindeutige Nachweise - etwa in Form von bei den Klägern aufgefundenen Pässen oder anderweitigen ausländischen Identifikationspapieren - dafür vor, dass den Klägern im Jahr 1996 die Innehabung der türkischen bzw. libanesischen Staatsangehörigkeit bewusst gewesen wäre. Die in der Tat dafür vorhandenen Indizien sind nach Auffassung der Kammer jedenfalls für eine Überzeugung von der positiven Kenntnis der Kläger nicht ausreichend.

Allerdings liegt es nahe, dass die Kläger die unbefristeten Aufenthaltserlaubnisse durch Angaben erwirkt haben, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren (§ 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 VwVfG). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt es für diesen Ausschlusstatbestand allein auf die objektive Unrichtigkeit der Angaben an, nicht auch auf Verschulden (BVerwG, Urteil vom 13. November 1997, - 3 C 33.96 -, zitiert nach juris Rn. 28 m.w.N.). Bei objektiver Unrichtigkeit der Angaben kann Vertrauensschutz allenfalls dann zugebilligt werden, wenn die Unwahrheit nicht vermieden werden konnte, obwohl der Erklärende ein Höchstmaß an Sorgfalt hat walten lassen (BVerwG, Urteil vom 13. November 1997, a.a.O., Rn. 29). Ob den Klägern ein solches "Höchstmaß an Sorgfalt" im Zusammenhang mit ihrer Erklärung, sie seien staatenlose Kurden, wird zugesprochen werden können, erscheint höchst fraglich.

Die Frage kann indes dahinstehen, weil jedenfalls der vertrauensausschließende Tatbestand des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 VwGO vorliegt. Danach scheidet Vertrauensschutz aus, wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Das Bundesverwaltungsgericht führt in ständiger Rechtsprechung zur Tatbestandsvoraussetzung der Nichtkenntnis infolge grober Fahrlässigkeit Folgendes aus (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 12. Dezember 2007 - 2 B 93.07 -, zitiert nach juris, hier ohne Zitierungen):

"Auch im Rahmen des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 VwVfG gilt der Fahrlässigkeitsbegriff des § 276 Abs. 2 BGB. Danach handelt fahrlässig, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Der Bedeutungsgehalt dieses Begriffs und des darauf aufbauenden Rechtsbegriffs der groben Fahrlässigkeit sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundessozialgerichts übereinstimmt, hinreichend geklärt:

Der Fahrlässigkeitsbegriff bezieht sich auf ein individuelles Verhalten; er enthält einen subjektiven Vorwurf. Daher muss stets unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände, der individuellen Kenntnisse und Erfahrungen des Handelnden beurteilt werden, ob und in welchem Maß sein Verhalten fahrlässig war. Grobe Fahrlässigkeit erfordert ein besonders schwerwiegendes und auch subjektiv schlechthin unentschuldbares Fehlverhalten, das über das gewöhnliche Maß an Fahrlässigkeit erheblich hinausgeht. [...]"

Anhand dieses Maßstabs wird den Klägern im vorliegenden Fall ein solcher subjektiver Vorwurf der grob fahrlässigen Unkenntnis hinsichtlich ihrer türkischen Staatsangehörigkeit gemacht werden müssen.

Nicht überzeugen kann insofern der Vortrag der Kläger, sie hätten sich angesichts ihrer arabischen Wurzeln und ihres libanesischen Geburtsortes keine Vorstellung davon gemacht, dass sie möglicherweise durch Abstammung eine türkische Staatsangehörigkeit erworben haben könnten. Insbesondere vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Aussage des Vaters der Klägerin zu 2), er sei Türke, kann kein Zweifel bestehen, dass jedenfalls dieser sich seiner türkischen Staatsangehörigkeit bewusst war. Da der Vater des Klägers zu 1) nicht nur seit Mitte der 70er Jahre (wieder) in der Türkei lebt, sondern vor allem da es sich bei ihm um einen Bruder des Vaters der Klägerin zu 2) handelt, kann auch bei diesem lebensnah nur von einem Innehaben der türkischen Staatsangehörigkeit und einem diesbezüglichen Bewusstsein ausgegangen werden. Diese wichtigen Daten im Leben ihrer Eltern werden auch den Klägern nicht verborgen geblieben sein, selbst wenn sie infolge der Auswanderung ihrer Eltern in den Libanon dort geboren worden sind. Es wäre nicht lebensnah anzunehmen, dass die Eltern den Klägern ihre türkische Herkunft verheimlicht haben könnten.

Selbst wenn den Klägern - auch nicht im Sinn einer sogenannten Parallelwertung in der Laiensphäre - nicht bekannt gewesen sein sollte, dass sie als Kinder türkischstämmiger Eltern ebenfalls die türkische Staatsangehörigkeit besaßen, müssen sie sich jedenfalls entgegenhalten lassen, dass sie gegenüber der Ausländerbehörde nicht rechtzeitig von sich aus auf die türkische Herkunft ihrer Eltern hingewiesen haben (in diesem Sinne auch OVG Lüneburg, Urteil vom 29. Januar 2009 - 11 LB 136/07 -, zitiert nach juris, Rn. 56).

Ob bereits der Umstand, dass der Beklagte in seinem Bescheid von wissentlichen Falschangaben bzw. einer Täuschung ausgeht, den Klägern tatsächlich jedoch nur ein (grober) Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden kann, zu einer Ermessensfehlerhaftigkeit wegen Zugrundelegung eines unzutreffenden Sachverhalts führt, kann dahinstehen (dies andeutend VG Karlsruhe, Urteil vom 11. Juni 2008 - 4 K 2548/07 -, zitiert nach juris, Rn. 30). [...]

bbb) Denn die Beendigung des Aufenthalts der Kläger ist nach Würdigung der festgestellten Tatsachengrundlage jedenfalls - insbesondere im Hinblick auf die Bestimmung des Art, 8 EMRK - unverhältnismäßig.

(1) Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist vorliegend eröffnet. Zwar wird diskutiert, ob das dort geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens einen rechtmäßigen Aufenthalt voraussetzt (dies bejahend etwa Nds.OVG, Beschluss vom 7. Juli 2008 - 8 ME 42/08 -, zitiert nach juris, Rn. 2; a.A. wohl VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. Juli 2008 - 11 S 1534/08 -, AuAS 2008, 242). Die Kammer geht hier wie auch der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg davon aus, dass, "wie sich hinreichend etwa aus den neueren Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den Sachen Sisojeva I und II" (EGMR, Urteile vom 16.06.2005 und 15.01.2007, EuGRZ 2006, 554 und InfAuslR 2007, 140) sowie "Rodrigues da Silva und Hoogkamer" (EGMR, Urteil vom 31.01.2006, EuGRZ 2006, 562) ergibt, es im Rahmen des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK wohl nicht entscheidungserheblich darauf an(kommt), ob der Ausländer über einen zumindest vorübergehenden legalen Aufenthalt verfügte; der Schutzbereich dieses Menschenrechts dürfte vielmehr auch bei nur Geduldeten eröffnet sein können" (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. Oktober 2007 - 11 S 2091/07 -, zitiert nach juris, Rn. 2). Im vorliegenden Fall spricht für die Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 8 Abs. 1 EMRK auch gerade, dass sich die Kläger nicht - wie geduldete Personen - ihrer prekären aufenthaltsrechtlichen Lage stets bewusst sein mussten, sondern dass sie wohl - insbesondere nach Erhalt einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis - von einem (vermeintlich) gesicherten Aufenthaltsstatus ausgehen durften.

(2) Der Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist vorliegend nicht nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt.

Zu dem in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Recht auf Achtung des Privatlebens hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 10. Mai 2007 Folgendes ausgeführt (- 2 BvR 304/07 -, zitiert nach juris, Rn. 33, hier ohne Zitierungen; bekräftigend auch BVerfG, Beschluss vom 10. August 2007 - 2 BvR 535/06 -, zitiert nach juris, Rn. 29):

"Das Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt. Ein Eingriff in die Rechte aus Art. 8 Abs. 1 EMRK muss gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme darstellen, die durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist."

Die in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzustellenden Belange sind zu ermitteln und zu gewichten. Die öffentlichen Belange, namentlich der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannte Belang der "öffentlichen Ordnung", zu dem das Interesse an einer wirksamen Einwanderungskontrolle gehört, sind im Rahmen der Abwägung in Bezug zu den privaten Interessen des Ausländers zu setzen. Dabei muss ein ausgewogenes Gleichgewicht der beiderseitigen Interessen gewahrt sein (vgl. zu diesen Kriterien OVG Lüneburg, Urteil vorn 29. Januar 2009 - 11 LB 136/07 -, zitiert nach juris, Rn. 61 m.w.N.),

im Rahmen der Ermittlung der privaten Belange ist in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Alters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Als Gesichtspunkte für das Vorhandensein von anerkennenswerten Bindungen können von Bedeutung sein Integrationsleistungen in persönlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht, die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, die Art und Schwere einer vom Ausländer begangenen Straftat, die familiäre Situation, der bisherige Aufenthaltsstatus, Grund und Dauer des Aufenthalts sowie Kenntnisse der deutschen Sprache. Diese Umstände sind in Beziehung zu setzen zu den (noch vorhandenen) Bindungen an den Heimatstaat. Hierzu gehört die Prüfung, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Alters, seiner persönlichen Befähigung, seiner Vertrautheit mit den Verhältnissen im Land seiner Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft und seiner dortigen familiären Anbindung entwurzelt ist (vgl. zu diesen Kriterien OVG Lüneburg, Urteil vom 29. Januar 2009, a.a.O., Rn. 62 m.w.N.).

Ausgehend von diesen Kriterien fällt die erforderlich Abwägung von privaten und öffentlichen Interessen vorliegend zugunsten der Kläger aus. Deren Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet überwiegt das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.

Zwar ist zulasten der Kläger anzuführen, dass diese die deutsche Sprache trotz ihres jahrzehntelangen Aufenthaltes nur unzureichend beherrschen und dass sie - nahezu durchgängig - ergänzende Sozialleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes der Großfamilie in Anspruch nehmen mussten. Auch spricht gegen den Kläger zu 1), dass er immer wieder straffällig geworden ist und zwischen Oktober 1999 und Februar 2001 sogar eine Haftstrafe zu verbüßen hatte.

Gleichwohl wiegen diese negativen Gesichtspunkte den für die Kläger sprechenden Umstand, dass sie sich nunmehr seit fast 30 Jahren faktisch im Bundesgebiet aufhalten, nicht auf. Nach dieser langen Zeit ist kaum umhin zu kommen, die Bundesrepublik als "erste" Heimat der Kläger anzuerkennen. Sieben der neun Kinder der Kläger sind hier geboren worden, einige von ihnen besitzen inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit. Der Kläger zu 1) geht hier seit vielen Jahren einer Erwerbstätigkeit nach. Dass die Klägerin zu 2) nicht zum Unterhalt beitragen kann, fällt demgegenüber kaum ins Gewicht; denn es ist nachvollziehbar, dass sie mit der Erziehung und Betreuung ihrer neun Kinder umfassend beschäftigt war.

In diesem Zusammenhang hat auch die - durch den 28-jährigen Aufenthalt in Deutschland eingetretene - Entwurzelung der Kläger Berücksichtigung zu finden. Da die Kläger zu keinem Zeitpunkt in der Türkei lebten und wohl auch kein bzw. nur wenig Türkisch sprechen, dürfte ihnen eine "Rückkehr" in die Türkei kaum zugemutet werden können, dies zumal in Anbetracht des Umstandes, dass dem Kläger zu 1) im Jahr 2002 die türkische Staatsbürgerschaft entzogen worden ist. Auch eine Rückkehr in den Libanon erscheint nicht unproblematisch. Zwar haben die Kläger ihre Kindheit und Jugend dort verbracht. Gleiches gilt jedoch nicht für die drei noch minderjährigen Kinder der Kläger, die im Rahmen der hier erforderlichen familienbezogenen Gesamtabwägung nicht außer acht gelassen werden können. Da die 13- bis 16-jährigen Kinder der Kläger im Bundesgebiet geboren und ausschließlich hier aufgewachsen sind sowie ihre gesamte schulische Sozialisation hier erfahren haben, dürfte eine Ausreise in den Libanon - auch wenn man bedenkt, dass sie dort nicht auf sich allein gestellt wären, sondern im Familienverband mit ihren Eltern zurückkehren würden - mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten verbunden sein.

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind zudem folgende Aspekte zugunsten der Kläger zu berücksichtigen:

Zum einen ist festzustellen, dass man den Klägern vorliegend zwar keinen Vertrauensschutz, der im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen gewesen wäre, zusprechen kann (vgl. dazu die Ausführungen unter II.1.a)bb)aaa)). Zu beachten ist insofern aber, dass - wie festgestellt - hinsichtlich der türkischen Staatsangehörigkeit der Kläger hier kein Täuschungs-, sondern lediglich ein Fahrlässigkeitsvorwurf im Raum steht, der deutlich weniger schwer wiegt. Der Fahrlässigkeitsvorwurf wird zudem noch dadurch abgeschwächt, dass die Kläger - vor dem Hintergrund der Stammesgeschichte der Volksgruppe der Mahalmi sowie ihres stark mit dem Libanon verbundenen persönlichen Lebenswegs - glaubhaft darlegen konnten, dass sie sich zu keiner Zeit als "Türken" fühlten. Dafür sprechen auch die Feststellungen des bereits zitierten Berichts von Rechtsanwalt Heinreich Freckmann und Jürgen Kalmbach, wonach den Mahalmi nachgesagt werde, dass sie Gegner des türkischen Staates seien. Bei Bewertung des Vorwurfs, die Kläger hätten aus den Umständen schließen müssen, dass sie türkische Staatsbürger sind, kann somit nicht unberücksichtigt bleiben, dass sie sich mit dieser Staatsangehörigkeit offensichtlich nicht identifizieren können oder wollen.

Zudem kann - da entscheidungserheblicher Zeitpunkt, wie ausgeführt, derjenige der mündlichen Verhandlung ist - ebenso nicht unberücksichtigt bleiben, dass nach der aktuellen Verwaltungspraxis des Beklagten eine Täuschung über Identität oder Staatsangehörigkeit eines Ausländers für sich genommen nicht zwingend zur Versagung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führt. So wird in den Vorläufigen Anwendungshinweisen der Ausländerbehörde Berlin (VAB) zu § 104 a AufenthG ausgeführt, dass eine Täuschung über Identität oder Staatsangehörigkeit im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung unbeachtlich sein kann, wenn ein Ausländer seine wahre Identität und Staatsangehörigkeit und diejenige seiner Familienangehörigen von sich aus offenbart und seitdem aktiv an der Beschaffung entsprechender Identitätsnachweise seines Heimatstaates mitgewirkt hat (Ziffer 104a.1.1.4. VAB). Selbst wenn ausländerbehördliche Ermittlungen zu Erkenntnissen über die Identität des Ausländers geführt haben, kann noch eine Unbeachtlichkeit der Täuschung angenommen werden, wenn die Offenbarung spätestens im unmittelbaren Zusammenhang mit der Konfrontation mit diesen Erkenntnissen erfolgt ist (a.a.O.). Diese Verwaltungspraxis kann auf den vorliegenden Sachverhalt zwar nicht direkt angewendet werden, muss aber im Hinblick auf die auch unter Gleichheitsgesichtspunkten zu wahrende Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Ermessensentscheidung einen gewissen Niederschlag finden.

Schließlich ist auch auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage von Rücknahmen erschlichener Einbürgerungsentscheidungen hinzuweisen. Unter Bezugnahme auf das Bundesverfassungsgericht geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass mit Rücksicht auf den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz der deutschen Staatsangehörigkeit nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG die Rücknahmevorschrift des § 48 VwVfG nur in bestimmten Fällen eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die Rücknahme von Einbürgerungen bietet (BVerwG, Urteil vom 14. Februar 2008 - 5 C 4.07 -, zitiert nach juris, Rn. 13 m.w.N.). Nur für den Fall der zeitnaher Rücknahme einer Einbürgerung, über deren Voraussetzungen der Eingebürgerte selbst erwiesenermaßen getäuscht hat, stehe die Anwendung der allgemein geltenden Rücknahmeermächtigung des § 48 VwVfG in Einklang mit dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes (BVerwG, Urteil vom 14. Februar 2008, a.a.O., m.w.N.). Anhand dieser Kriterien kam das Bundesverwaltungsgericht zum Ergebnis, dass jedenfalls die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung achteinhalb Jahre nach Aushändigung der Einbürgerungsurkunde nicht mehr zeitnah sei und daher nicht auf die Ermächtigung in § 48 VwVfG gestützt werden könne (a.a.O., Rn. 17).

Da vorliegend keine Einbürgerungsentscheidung, sondern die Erteilung unbefristeter Aufenthaltserlaubnisse in Frage steht, die nicht unter dem besonderen Schutz des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG steht, können die in dem angeführten Urteil getroffenen Rechtsfeststellungen zwar nur sehr eingeschränkt auf die hiesige Fallkonstellation übertragen werden. Da indes die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis dem Ausländer einen - im aufenthaltsrechtlichen Sinne - sicheren und belastbaren (Aufenthalts-)Status verschafft, dürften zumindest die in dem angeführten Urteil getroffenen Rechtserwägungen ihrem Kern nach auch vorliegend Berücksichtigung finden können. Ob vor diesem Hintergrund die elfeinhalb Jahre nach Erteilung erfolgte Rücknahme der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis noch als zeitnah zu erachten ist, erscheint fraglich.

cc) Da sich die Rechtswidrigkeit der hier in Frage stehenden Rücknahmebescheide somit bereits aus der Unverhältnismäßigkeit der Ermessensausübung ergibt, kann offen bleiben, ob die Rücknahme auch wegen Verwirkung als rechtswidrig zu erachten ist. Insofern soll deshalb nur Folgendes ergänzt werden: Zwar ist offenkundig zwischen den ersten Erkenntnissen zu einer türkischen Staatsangehörigkeit der Kläger im Jahr 2003 und dem Erlass der Rücknahmebescheide im Dezember 2007 ein längerer Zeitraum verstrichen; für gewisse Zeitabschnitte ist zudem nicht ersichtlich, weiche konkreten Ermittlungen, Prüfungen o.ä. von Seiten des Beklagten unternommen worden sind. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts reicht allein der Ablauf eines gewissen Zeitraums für die Annahme einer Verwirkung indes nicht aus. "Vielmehr müssen zusätzliche Umstände eintreten, aus denen der die Rechtswidrigkeit kennende Begünstigte berechtigterweise den Schluss ziehen durfte, der Verwaltungsakt werde nicht mehr zurückgenommen, obwohl die Behörde dessen Rücknehmbarkeit erkannt hat, und es muss der Begünstigte ferner tatsächlich darauf vertraut haben, dass die Rücknahmebefugnis nicht mehr ausgeübt werde, und dieses Vertrauen in einer Weise betätigt haben, dass ihm mit der sodann gleichwohl erfolgten Rücknahme ein unzumutbarer Nachteil entstünde" (BVerwG, Beschluss vom 12. Juli 2006 - 8 B 14.06 -, zitiert nach juris, Rn. 3 m.w.N.). Ob und ggf. inwiefern die Kläger vorliegend ein solches Vertrauen entwickelt und betätigt haben, vermag im Ergebnis dahinzustehen. [...]