VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Beschluss vom 21.12.2009 - 8 L 744/09.A - asyl.net: M16684
https://www.asyl.net/rsdb/M16684
Leitsatz:

Es ist nicht auszuschließen, dass der vom Antragsteller zu leistende Wehrdienst in der Türkei möglicherweise Handlungen umfassen würde, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderliefen (Art. 12 Abs. 2 Bst. c QRL). Nach wie vor dauern grenzüberschreitende Militäroperationen der Türkei gegen Einrichtungen der PKK auf irakischem Hoheitsgebiet an, und es ist fraglich, ob diese ein völkerrechtswidriges Verhalten darstellen.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, offensichtlich unbegründet, Türkei, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, Flüchtlingsanerkennung, Verweigerung des Militärdienstes, Verfolgungsgrund, Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen, PKK, Irak, Qualifikationsrichtlinie
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylVfG § 30 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Bst. e, GFK Art. 1 A, RL 2004/83/EG Art. 12 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller macht zur Begründung seines Asyl- und Abschiebeschutzbegehrens geltend, dass er den Kriegsdienst in der Türkei aus Gewissensgründen verweigere, deshalb als fahnenflüchtig gelte und in der Türkei gesucht werde.

Dieses Vorbringen mag die Ablehnung der Asylanerkennung des Antragstellers als offensichtlich unbegründet rechtfertigen, zumal türkische Staatsangehörige - wie der Antragsteller - nach der ständigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), der sich die Kammer anschließt, im Zusammenhang mit der Erfüllung der allgemeinen Wehrpflicht keine politische Verfolgung zu befürchten haben und auch Kurden im Allgemeinen weder bei Erfüllung der Wehrpflicht noch im Zusammenhang mit einer etwaigen Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung politische Verfolgung in der Türkei droht (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A juris, und Beschluss vom 12. Januar 2006 - 8 A 66/06.A -).

Die Kammer vermag aber bei der im vorliegenden Eilverfahren gebotenen und nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage jedenfalls nicht festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (vgl. § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - offensichtlich nicht vorliegen. Die vom Antragsteller geltend gemachten Umstände lassen sein Begehren auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zumindest nicht derart aussichtslos erscheinen, dass dessen Ablehnung als offensichtlich unbegründet gerechtfertigt ist.

Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention (GK) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben, seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG sind für die Feststellung, ob einer Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, Art. 4 Abs. 4 soweit die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie - QRL -) ergänzend anzuwenden. Nach dem demnach ergänzend zu berücksichtigenden Art. 9 Abs. 2 e QRL kann als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 A GK auch die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt gelten, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des Art 12 Abs. 2 QRL fallen. Letztere Rechtsnorm bestimmt u.a., dass eine Person von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, das sie ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat oder auch sich Handlungen zuschulden kommen ließ, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und in den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen verankert sind, zuwiderlaufen.

Vorliegend kann zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass der vom Antragsteller zu leistende Wehrdienst möglicherweise Handlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 c) QRL umfassen würde, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderliefen. Denn während Art. 2 Nr. 4 der Charta der Vereinten Nationen bestimmt, dass alle Mitglieder in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit eines Staates gerichtete Androhung oder Anwendung von Gewalt unterlassen, dauern nach wie vor grenzüberschreitende Militäroperationen der Türkei gegen Einrichtungen der PKK auf (nord-) irakischem (Hoheits-) Gebiet an (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes zur asyl- und abschieberelevanten Lage in der Republik Türkei vom 29. Juni 2009 - Stand: Mai 2009 - Seiten 4 und 9).

Ob diese militärischen Aktivitäten der Türkei auf dem irakischen Staatsgebiet ein völkerrechtswidriges Verhalten im Sinne von Art. 12 Abs. 2 c) QRL darstellen, obwohl sie nach dem o.g. Lagebericht (inzwischen) auf einer Kooperation von Türkei, USA und Irak beruhen, gegen die von dort aus in der Türkei agierende PKK Guerilla gerichtet sind und Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen das Recht auf Selbstverteidigung gewährleistet, ist indes eine schwierige Sach- und Rechtsfrage, die offensichtlich weder in dem einen noch in dem anderen Sinne zu beantworten ist und somit der Klärung im Klageverfahren vorbehalten bleiben muss.

Gleiches gilt für die ggf. in tatsächlicher Hinsicht sich weiter stellende Frage, inwieweit es gegenwärtig wahrscheinlich ist, dass der Antragsteller als türkischer Wehrdienstleistender überhaupt bei möglichen Operationen des türkischen Militärs im Irak tatsächlich eingesetzt würde (vgl. zur Erkenntnislage: Entscheidung des österreichischen Asylgerichtshofes vom 01. Juli 2009 - E 3 238, 147-0/2008-12 E -, www.ris.bka.gv.at/, m.w.N., wonach seit 2008 den speziell zum Kampf gegen die PKK ausgebildeten Kommandoeinheiten der Armee keine neuen Grundwehrdienstleistenden zugeteilt werden, Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation, Wehrdienstverweigerung in der Türkei, März 2009, milo.bamf.de unter Bezugnahme auf Angaben Suna Coskuns, wonach gemäß eines Erlasses von Mai 2008 einfache Soldaten, Gefreite und Reserveoffiziere ab Ende 2008 nicht mehr zur Bekämpfung des Terrorismus zu Kommandoeinheiten eingezogen werden dürften, die Umsetzung dieses Erlasses stufenweise vorbereitet werde und ab Ende 2009 einfache Soldaten überhaupt nicht mehr zu Kommandoeinheiten eingezogen würden, Wehrdienstleistende jedoch derzeit - Stand März 2009 - noch eingesetzt würden.

Dass der Antragsteller einen der besonderen Evidenztatbestände des § 30 Abs. 3 AsylVfG erfüllte, ist weder vom Bundesamt im o.g. Bescheid angenommen worden noch sonst ersichtlich. [...]