VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 21.01.2010 - 1 L 40/10.A [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 132 f.] - asyl.net: M16692
https://www.asyl.net/rsdb/M16692
Leitsatz:

Vorbeugender Rechtsschutz gegen eine Dublin-Überstellung nach Großbritannien, da diese zu einer Trennung des Vaters von seiner im Bundesgebiet lebenden minderjährigen Tochter führen würde. Das BAMF ist in Dublin-Verfahren für die Prüfung inlandsbezogener Abschiebungshindernisse zuständig; diese Prüfung geht über die alleinige Prüfung der Ausübung eines Selbsteintritts hinaus.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Großbritannien, Zustellung, Rechtsschutzinteresse, Bekanntgabe, Rechtsweggarantie, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Bundesamt, Zuständigkeit, Rücknahme, Selbsteintritt, Schutz von Ehe und Familie
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AsylVfG § 34a Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4, AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 27a, EG VO Nr. 343/2003 Art. 3 Abs. 2, EG VO Nr. 343/2003 Art. 15 Abs. 2, AufenthG § 60a Abs. 2, GG Art. 6, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Der Antrag ist auch begründet. Der Antragsteller hat das Vorliegen eines inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisses glaubhaft gemacht, das - ausnahmsweise - in die sachliche Prüfungskompetenz des Bundesamt fällt und zur Zeit dem Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG entgegensteht, § 123 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO.

Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass das Bundesamt im Fall des beabsichtigten Erlasses einer Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG ausnahmsweise auch für die Prüfung inlandsbezogener Abschiebungshindernisse bzw. Duldungsgründe zuständig ist. Zwar obliegt die Prüfung inlandsbezogener Abschiebungshindernisse grundsätzlich den allgemeinen Ausländerbehörden (vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 11. November 1997 - 9 C 13/96 -, m.w.N., www.juris.de).

Nach § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG soll das Bundesamt aber, wenn der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder - wie vorliegend - in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat anordnen, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt nach § 34a Abs. 1 S. 2 AsylVfG auch dann, wenn der Ausländer den Asylantrag - wie vorliegend - vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Dabei hat das Bundesamt in erster Linie die Übernahmebereitschaft des Drittstaates und insbesondere die Frage zu prüfen, ob eine Rückführung innerhalb der Rückführungsfrist möglich sein wird. Durchgeführt werden kann die Abschiebung eines Ausländers in den Drittstaat aber darüber hinaus nur dann, wenn sie nicht aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden Gründen - auch nur vorübergehend - rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist. Damit dürfte das Bundesamt im Rahmen des Erlasses einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG ausnahmsweise zur Berücksichtigung auch von inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen und Duldungsgründen i.S.v. § 60a Abs. 2 AufenthG verpflichtet und insoweit ausnahmsweise passivlegitimiert sein (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: August 2009, § 34a Rn 45; Funke-Kaiser in: Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz, Stand: November 2009, § 34a Rn 100; Marx, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 7. Auflage 2009, § 34a Rn 78; VG Würzburg, Urteil vom 26. Juli 2007 - W 5 K 07.30121 -; VG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Dezember 2008 - A 4 K 3916/08 -; VG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Oktober 2007 - 21 K 3831/07.A -, alle www.juris.de).

Von dieser Prüfungs- und Entscheidungskompetenz hat das Bundesamt ausweislich der Begründung des Bescheidentwurfs bisher keinen Gebrauch gemacht, denn es hat die Beziehung des Antragstellers zu seiner Tochter lediglich im Rahmen der - im Ergebnis negativen - Prüfung der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO berücksichtigt. Dieses Selbsteintrittsrecht ist von anderen Voraussetzungen abhängig als ein Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 AufenthG und scheidet etwa schon dann aus, wenn - wie vorliegend - die behauptete familiäre Beziehung nicht bereits im Herkunftsland des Ausländers bestanden hat. Die Prüfung des Selbsteintrittsrechts kann daher nicht die Entscheidung über das Vorliegen inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse ersetzen.

Aufgrund der im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes verfügbaren Erkenntnismöglichkeiten ist aber mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Großbritannien zur Zeit rechtlich unmöglich i.S.v. § 60a Abs. 2 AufenthG wäre, weil Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG bzw. Art. 8 EMRK einer Entfernung des Antragstellers aus dem Bundesgebiet entgegenstehen würde. Der Antragsteller hat durch die Vorlage der Vaterschaftsanerkennungsurkunde vom 19. Juni 2009, der Sorgerechtserklärung vom 22. Juni 2009 sowie der Erklärung der Kindesmutter vom 11. Januar 2010 glaubhaft dargelegt, dass er mit seiner am 13. April 2009 geborenen nichtehelichen und in Deutschland aufenthaltsberechtigten Tochter in einer von Art. 6 GG geschützten tatsächlichen familiären Lebens- und Erziehungsgemeinschaft lebt. Der Antragsteller wohnt mit seiner Tochter und der Kindesmutter in einer gemeinsamen Wohnung und übt das Sorgerecht für seine Tochter gemeinsam mit der Kindesmutter aus. Er kümmert sich nach den Angaben der Kindesmutter seit der Geburt gut um seine Tochter. Zwischen beiden hat sich nach ihren Angaben eine starke Zuneigung und Bindung entwickelt. Es spricht damit Überwiegendes für das Bestehen einer tatsächlichen persönlichen Verbundenheit zwischen dem Antragsteller und seiner Tochter, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Im Hinblick auf Art. 6 GG dürfte dem Antragsteller auch nicht zuzumuten sein, seine in Deutschland gelebte familiäre Beziehung auch nur vorübergehend für die Dauer eines vom Ausland zu betreibenden Aufenthaltserlaubnis- bzw. Visumsverfahrens zu unterbrechen. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass ein noch sehr kleines Kind wie die zur Zeit neun Monate alte Tochter des Antragstellers den nur vorübergehenden Charakter eine räumlichen Trennung vom Vater nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt, so dass auch eine verhältnismäßig kurze Trennungszeit im Lichte von Art. 6 Abs. 2 GG schon unzumutbar lang sein kann (vgl. zu allem BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1035/05 -, NVwZ 2006, 682; Beschluss vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 100.1/04 -, InfAuslR 2006, 122; BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2006 - 1 C 14/05 -, BVerwGE 126, 192).

Hinzu kommt vorliegend, dass die Dauer einer räumlichen Trennung völlig ungewiss wäre, da der Abschluss und das Ergebnis der Prüfung des vom Antragsteller gestellten Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG durch. die Ausländerbehörde noch nicht absehbar ist und der Antragsteller andererseits im Ausland auch erst die für eine Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland erforderlichen finanziellen Mittel aufbringen müsste. Bei der im vorliegenden Verfahren möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen daher erhebliche Bedenken gegen die vom Bundesamt beabsichtigte Abschiebungsanordnung.

Auch ein Anordnungsgrund ist glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin hat die Überstellung des Antragstellers nach Großbritannien ausweislich des Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes bereits in die Wege geleitet und von ihren Bemühungen bislang noch nicht endgültig Abstand genommen. [...]