VG Halle

Merkliste
Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 05.02.2010 - 1 A 4/09 HAL - asyl.net: M16746
https://www.asyl.net/rsdb/M16746
Leitsatz:

Zum Verbrauch von Ausweisungsgründen und zur Bewertung eines Ausnahmefalls im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG mit Blick auf § 56 AufenthG (besonderer Ausweisungsschutz wegen familiärer Lebensgemeinschaft mit deutschen Kind führt hier zu einem Ausnahmefall).

Hinweis des Einsenders RA Dr. Christoph Kunz: Das Rechtsschutzbedürfnis für die Verpflichtung der Behörde zur rückwirkenden Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ab dem 8.4.08 ergab sich hier daraus, dass der Mandant unter diesem Datum einen Antrag auf die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II gestellt hatte.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Schutz von Ehe und Familie, Vaterschaft, Eltern-Kind-Verhältnis, deutsches Kind, familiäre Lebensgemeinschaft, Sorgerecht, Umgangsrecht, Kindeswohl, Ausweisungsgrund, Verbrauch von Ausweisungsgründen, Visumsverfahren
Normen: AufenthG § 28 Abs. 1 Nr. 3, AufenthG § 27 Abs. 1, GG Art. 6, AufenthG § 54 Nr. 3, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthV § 39 Nr. 5, AufenthG § 10 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 17. Dezember 2007 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Dieser hat einen Anspruch auf Erteilung der von ihm nunmehr beantragten Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

Zwischen dem Kläger und seinem Sohn besteht eine den Anforderungen des § 27 Abs. 1 AufenthG genügende familiäre Lebensgemeinschaft. Für die Beantwortung der Frage, ob zwischen dem Kläger und seinem Sohn eine Vater-Kind-Beziehung in Form einer durch Art. 6 GG geschützten familiären Lebensgemeinschaft i.S. des § 27 Abs. 1 AufenthG vorliegt, ist nicht das abstrakte Bestehen des Sorge- und Umgangsrechts als solches, sondern der tatsächliche Umfang seiner Ausübung entscheidend. Dies erfordert eine Bewertung der Beziehung zwischen dem Elternteil und seinem Kind, wobei entscheidend die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern ist. Unter Betrachtung des Einzelfalles ist zu würdigen, ob eine dem Schutzzweck des Art. 6 GG entsprechende Eltern-Kind-Gemeinschaft vorliegt. Dies setzt neben einem objektiv messbaren Mindestbeitrag an Betreuungsleistung auch die geistige und emotionale Auseinandersetzung mit dem Kind voraus. Besteht - wie hier - keine häusliche Gemeinschaft, können die hierfür erforderlichen Anhaltspunkte aus intensiven Kontakten, gemeinsam verbrachten Wochenenden, der Übernahme eines nicht unerheblichen Anteils an der Betreuung und der Erziehung des Kindes oder in sonstigen Beistandsleistungen liegen, die geeignet sind, das Fehlen eines gemeinsamen Lebensmittelpunktes weitgehend auszugleichen. Entscheidend ist, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit des Kindes zu seinem Vater besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2003 - 1 C 13.02 -, InfAuslR 2003, 324, 327). Diese Voraussetzungen sind hier ausweislich der vorgelegten Verwaltungsvorgänge erfüllt, wonach der Kläger seinen Sohn fast jedes Wochenende bei sich betreut und ein entsprechend enges Verhältnis zu seinem Kind hat.

Auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG sind erfüllt. Es liegt zwar ein Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 3 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aufgrund mehrerer Verurteilungen vor, darunter auch zwei Verurteilungen wegen des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln. Dieser Ausweisungsgrund steht dem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG in diesem Fall aber nicht entgegen, weil er verbraucht ist. Ein Ausweisungsgrund muss, um die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis zu rechtfertigen, aktuell noch vorliegen, darf also nicht "verbraucht" sein. Aktuelle Bedeutung hat ein Ausweisungsgrund dann nicht mehr, wenn die Ausländerbehörde trotz vollständiger Kenntnis aus ihm keine negativen Schlussfolgerungen für den weiteren Aufenthalt des Ausländers gezogen hat, etwa durch Ausweisung, Ablehnung eines Antrages auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder die nachträgliche zeitliche Befristung des Aufenthaltstitels (OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 1. August 2006 - 2 M 236/06 -, Juris), so dass der Betroffene aus diesen Umständen berechtigterweise den Schluss ziehen darf, die Behörde werde von ihren Befugnissen keinen Gebrauch mehr machen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Juli 2009 -11 S 2289/08 -, Juris). Diese Umstände, aus denen der Kläger schließen konnte, sein strafrechtliche geahndetes Verhalten werde bei der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis folgenlos bleiben, ergeben sich hier zum Einen aus dem Bescheid von 12 Januar 2007, mit dem ihm die Beklagte ausdrücklich mitgeteilt hat, dass eine Ausweisung nicht erfolge, weil sie nicht gerechtfertigt sei. Zum Anderen ist ihm unter dem 30. Januar 2007 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt worden, ohne dass ihm insoweit das Fehlen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, der auch im Rahmen dieser Vorschrift Anwendung findet, entgegengehalten worden ist.

Darüber hinaus liegt im hier zu entscheidenden Fall zugunsten des Klägers aber auch ein Ausnahmefall vor. Die Grundvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG gelten nur in der Regel mit der Folge, dass beim Vorliegen atypischer Umstände von diesen Regelvoraussetzungen abzusehen ist. Danach sind im Falle des Ausweisungsgrundes Gesichtspunkte, die einen besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG begründen, hier nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG wegen der familiären Lebensgemeinschaft mit einem deutschen Familienangehörigen, auch zur Feststellung einer atypischen Fallgestaltung heranzuziehen (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, § 5 Rn. 38). Die Versagung des Aufenthaltstitels wäre im vorliegenden Fall mit dem gesetzgeberischen Anliegen, wonach dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen Deutschen grundsätzlich ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zusteht, nicht zu vereinbaren.

Auch § 5 Abs. 2 AufenthG steht der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht im Weg. Zwar ist nach dieser Vorschrift erforderlich, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat. Diese Vorschrift steht der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis für den Kläger, der ohne Visum eingereist ist, aber dennoch nicht entgegen. Seine Einreise erfolgte - bezogen auf den nach der Geburt seines deutschen Kindes erstrebten Aufenthalt aus familiären Gründen - nicht ohne das erforderliche Visum, weil er nach § 39 Nr. 5 AufenthV die Aufenthaltserlaubnis in diesem Fall im Bundesgebiet einholen darf (vgl. zum Ganzen VGH Baden Württemberg, Urteil vom 15. September 2007 - 11 S 837/06 -, Juris). Seine Abschiebung war zunächst nach § 60 a AufenthG ausgesetzt und er hat während dieses Aufenthaltes im Bundesgebiet durch die Geburt des Kindes einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erworben und so auch unter Vorlage der Unterlagen und der dadurch erfolgten vollständigen Darlegung des Sachverhaltes bereits am 25. September 2002 beantragt. Rechtlich unerheblich ist insoweit, dass ihm hierauf - zu Unrecht - wiederum jeweils nur Duldungen erteilt worden sind und nicht bereits zu diesem Zeitpunkt richtigerweise eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG (so auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 5. März 2008 - 11 S 378/09 -, Juris).

Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz.1 Nr. 3 AufenthG steht hier auch die Vorschrift des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht entgegen. Danach darf einem Ausländer, dessen Asylantrag unanfechtbar abgelehnt worden ist, vor der Ausreise ein Aufenthaltstitel nur nach Maßgabe des Abschnitts 5 des Aufenthaltsgesetzes erteilt werden. Der Asylantrag des Klägers wurde zwar unanfechtbar abgelehnt. Die Vorschrift findet aber nach § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG keine Anwendung auf den Kläger, weil dieser einen Anspruch auf Erteilung seines Aufenthaltstitels hat. Ein solcher gesetzlicher Anspruch steht dem Kläger zu, denn die Voraussetzungen des gesetzlichen Anspruchs nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG liegen hier - wie oben ausgeführt - vor. Das gleiche gilt hinsichtlich der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG, nachdem von einem Ausnahmefall auszugehen ist, soweit es die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG betrifft. Ein gesetzlicher Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis besteht auch dann, wenn im Hinblick auf die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs.1 Nr. 2 AufenthG wegen eines atypischen Sachverhalts ein Ausnahmefall vorliegt. [...]