OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Beschluss vom 03.03.2010 - 3 A 6/10 - asyl.net: M16758
https://www.asyl.net/rsdb/M16758
Leitsatz:

Auch das OVG des Saarlandes hat in seiner bisherigen Rechtsprechung für die Türkei gerade keine Regelvermutung einer Gefährdung naher Angehöriger wie minderjähriger Kinder und Ehegatten oder Sippenhaft im engeren Sinne angenommen. Vielmehr ist auch nach dessen bisheriger Rechtsprechung jeweils durch Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung der konkreten Fallumstände zu ermitteln, ob solche Angehörige gefährdet sind.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Türkei, Sippenhaft, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1
Auszüge:

[...] Auch das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes hat in seiner bisherigen Rechtsprechung für die Türkei gerade keine Regelvermutung für eine Gefährdung naher Angehöriger wie minderjähriger Kinder und Ehegatten oder Sippenhaft im engeren Sinne angenommen. Vielmehr ist auch nach dessen bisheriger Rechtsprechung jeweils durch Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung der konkreten Fallumstände zu ermitteln, ob solche Angehörige gefährdet sind (vgl. etwa Urteil vom 2.10.1996 - 9 R 87/93 - sowie Beschlüsse vom 1.12.1999 - 9 Q 44/98 - vom 29.11.1999 - 9 Q 172/98 - und vom 30.6.1999 - 9 Q 154/98 -).

Dementsprechend haben sowohl die 5. Kammer als auch die über den Widerruf entscheidende 6. Kammer des Verwaltungsgerichts des Saarlandes eine solche Einzelfallprüfung vorgenommen. Während die 5. Kammer ursprünglich eine sippenabhängige Gefährdung der Klägerin angenommen hat, ist die 6. Kammer unter Berücksichtigung der seit Januar 2000 eingetretenen Veränderung der Verhältnisse sowohl in der Türkei als auch im persönlichen Bereich der Klägerin nunmehr zu dem Ergebnis gelangt, eine fortbestehende Gefährdung zu verneinen. Ein über den konkreten Einzelfall hinausgehender allgemeiner Klärungsbedarf lässt sich dem Vorbringen der Klägerin nicht entnehmen. Vielmehr wendet sich die Klägerin unter Hinweis darauf, das Verwaltungsgericht habe das Gefährdungspotenzial ihrer Rückkehr in die Türkei nicht richtig eingeschätzt, der Sache nach lediglich in der Art einer Berufungsbegründung mit neuem Tatsachenvortrag gegen die auf ihr persönliches Einzelschicksal bezogene - Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts. Mit einer derartigen Darlegung von Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung kann eine Berufungszulassung im Asylverfahrensrecht jedoch nicht erreicht werden. [...]

Entgegen der Auffassung der Klägerin ist nicht anzunehmen, dass das Verwaltungsgericht ihr Vorbringen beim Bundesamt im Mai 1997, wonach sie anlässlich von Befragungen nach ihren Familienangehörigen von den Sicherheitskräften des Öfteren auch geschlagen worden sei, außer Acht gelassen hat. Vielmehr ist im Tatbestand des angefochtenen Urteils ausdrücklich ausgeführt, dass die Klägerin sich zur Begründung ihres Asylantrages im Jahr 1997 maßgeblich auf wegen ihrer Familienzugehörigkeit erlittene Repressalien berufen hat. Dies spricht dafür, dass das Verwaltungsgericht die der Klägerin eigenem Vorbringen zufolge widerfahrenen Geschehnisse, damit auch die seitens der Sicherheitskräfte erlittenen Schläge, zur Kenntnis genommen und bei seiner Entscheidung berücksichtigt hat, zumal es sich bei letzteren um die einzigen von der Klägerin konkret bezeichneten Misshandlungen handelte.

Auch hat das Verwaltungsgericht bei der angefochtenen Entscheidung keineswegs unberücksichtigt gelassen, dass die 5. Kammer in ihrem vorangegangenen Urteil vom 12.1.2000 festgestellt hatte, dass die Klägerin unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft in der Türkei bereits politische Verfolgung erlitten bzw. sich in der latenten Gefahr befunden hat, Opfer derartiger Übergriffe zu werden. Vielmehr hat die 6. Kammer des Verwaltungsgerichts des Saarlandes gerade dies auch seiner Entscheidung über den Widerruf zugrunde gelegt. So ist die von der Klägerin angeführte Feststellung der 5. Kammer bereits im Tatbestand des Urteils vom 13.11.2009 - 6 K 39/09 - ausdrücklich dargestellt. Auch in den Entscheidungsgründen ist explizit dargelegt, dass die Klägerin nach den Feststellungen im Urteil vom 12.1.2000 - 5 K 4/00.A - im Zustand der Verfolgung ausgereist sei, so dass ihr nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der sogenannte herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab zu Gute komme und damit ein Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen im Sinne des § 73 Abs. 1 AsylVfG nur dann angenommen werden könne, wenn die Klägerin vor künftiger Verfolgung hinreichend sicher sei, was das Verwaltungsgericht im Folgenden bejaht hat. Das erstinstanzliche Gericht hat seiner Entscheidung damit genau den Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt, den die Klägerin im Zulassungsantrag für sich reklamiert. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist das Verwaltungsgericht gerade nicht von dem ihr ungünstigeren Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit künftig drohender Repressalien ausgegangen.

Soweit auf Seite 10 des angefochtenen Urteils die Rede davon ist, dass sich die Klägerin nicht auf individuelle Verfolgungsgeschehnisse berufen könne, ist dies im Gesamtzusammenhang eindeutig dahingehend zu verstehen, dass die Sicherheitskräfte an der Klägerin selbst kein persönliches Interesse hatten, sondern die von ihr angegebenen Repressalien sie lediglich unter dem Aspekt der Famlienangehörigkeit zu ihrem ins Blickfeld der Sicherheitskräfte geratenen Vater trafen. Anderes lässt sich auch dem Urteil der 5. Kammer des Verwaltungsgerichts des Saarlandes und selbst dem eigenen Vorbringen der Klägerin nicht entnehmen.

Der weitere Hinweis der Klägerin auf die Asylanerkennung ihrer Brüder ... und ... lässt ebenfalls keinen Gehörsverstoß erkennen. Auch hier wendet sich die Klägerin der Sache nach allein gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts. Im Übrigen ist die Situation der Brüder bereits deshalb nicht mit derjenigen der Klägerin vergleichbar, weil deren Asylanerkennung - anders als im Falle der Klägerin - gerade nicht ausschließlich unter Sippenhaftgesichtspunkten erfolgte, vielmehr beide Brüder ein an ihnen selbst bestehendes Verfolgungsinteresse der türkischen Sicherheitskräfte glaubhaft machen konnten. [...]