VG Koblenz

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Zitieren als:
VG Koblenz, Urteil vom 11.01.2010 - 3 K 74/09.KO - asyl.net: M16801
https://www.asyl.net/rsdb/M16801
Leitsatz:

Wegen Identitätstäuschung, Verstoßes gegen Mitwirkungspflichten und nicht ausreichender Integration keine Aufenthaltserlaubnis trotz 14-jährigen Aufenthalts in Deutschland.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Täuschung über Identität, Mitwirkungspflicht, Passbeschaffung, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Ausschlussgrund
Normen: AufenthG § 23 Abs. 1, AufenthG § 104a, AufenthG § 25 Abs. 5, GG Art. 6, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Der Beklagte hat es zunächst zu Recht abgelehnt, den Klägern Aufenthaltserlaubnisse auf der Grundlage des § 23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz – AufenthG – in Verbindung mit der Anordnung des rheinland-pfälzischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 27. November 2006 bzw. auf der Grundlage des § 104a AufenthG zu erteilen. In Bezug auf beide genannten Anspruchsgrundlagen steht der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis entgegen, dass die Kläger zu 1) und 2) über Jahre hinweg die zuständigen Behörden und Gerichte über ihre Identität getäuscht haben. Hinzu kommt, dass sie auch nach der Aufdeckung dieser Umstände weiterhin an der Beschaffung der notwendigen Passersatzpapiere nicht hinreichend mitgewirkt haben. Dadurch wurde ihr Aufenthalt in Deutschland bis heute hinausgezögert, obwohl die Kläger zu 1) und 2) seit dem 6. November 1995 vollziehbar ausreisepflichtig sind (vgl. hierzu die Ausschlusstatbestände des § 23 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Ziffer I.3.1, 2 und 6 der genannten Bleiberechtsregelung sowie des § 104a Abs. 1 Nr. 4 AufenthG).

Die Einlassung der Kläger, sie hätten mittlerweile alles erdenklich Mögliche getan, um an Passersatzpapiere heranzukommen, überzeugt nicht. Der Beklagte hat nämlich unter Berufung auf Auskünfte von mit der Rückführung von Asylbewerbern ständig befassten Stellen (u.a. Clearingstelle Trier) nachvollziehbar dargelegt, dass türkische Staatsangehörige von türkischen Stellen auch dann Passersatzpapiere erhalten, wenn sie diese für eine freiwillige Ausreise aus Deutschland benötigen. Dies entspricht den üblichen internationalen Standards und versetzt die Kläger in die Lage, sich die notwendigen Papiere ohne weiteres zu verschaffen. Die Behauptung der Kläger, das türkische Generalkonsulat verlange eine Erklärung der Ausländerbehörde, wonach die Kläger im Besitz von Aufenthaltserlaubnissen seien oder ihnen solche erteilt werden sollen, ist durch nichts belegt und angesichts der dargelegten Feststellungen der Clearingstelle Trier als reine Schutzbehauptung zu qualifizieren. Tatsächlich belegt das diesbezügliche Vorbringen der Kläger, dass sie erkennbar kein ernsthaftes Interesse daran haben, ihrer gesetzlichen Ausreisepflicht freiwillig nachzukommen. [...]

Schließlich steht den Klägern auch kein Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen auf der Grundlage des § 25 Abs. 5 AufenthG zu. Hiernach kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist.

Zwar ist den Klägern derzeit die Ausreise wegen der bestehenden Passlosigkeit tatsächlich unmöglich. Allerdings steht der Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse mit Blick auf das bereits dargelegte Verhalten der Kläger zu 1) und 2) wiederum der Ausschlussgrund des § 25 Abs. 5 Satz 3 und 4 AufenthG entgegen. Hiernach darf eine Aufenthaltserlaubnis nur erteilt werden, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist. Ein Verschulden des Ausländers liegt insbesondere vor, wenn er falsche Angaben macht oder über seine Identität oder Staatsangehörigkeit täuscht oder zumutbare Anforderungen zur Beseitigung der Ausreisehindernisse nicht erfüllt. Derartige Umstände liegen mit Blick auf das bereits dargelegte Verhalten der Kläger zu 1) und 2) vor. Auch insoweit müssen die Kläger zu 3) und 4) sich das Verhalten ihrer Eltern zurechnen lassen.

Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers zu 1) ist ihm die Ausreise indessen ungeachtet der bestehenden Passlosigkeit nicht auch aus rechtlichen Gründen unmöglich. Eine freiwillige Ausreise ist aus rechtlichen Gründen unmöglich, wenn ihr rechtliche Hindernisse entgegenstehen, welche die Ausreise ausschließen oder jedenfalls unzumutbar machen. Derartige Hindernisse können sich sowohl aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben, zu denen unter anderem diejenigen Verbote zählen, die aus Verfassungsrecht (z.B. Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Grundgesetz – GG –) oder aus Völkerrecht (z.B. Art. 8 EMRK) in Bezug auf das Inland herzuleiten sind, als auch auf zielstaatsbezogene Abschiebeverbote nach §§ 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG. Somit sind dem Grunde nach auch zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse zu berücksichtigen. Letzteres gilt in Bezug auf rechtskräftig abgelehnte Asylbewerber – wie die Kläger – allerdings mit der Einschränkung, dass die Ausländerbehörde in diesen Fällen nicht zu einer inhaltlichen Prüfung berechtigt ist, sondern gemäß § 42 Satz 1 Asylverfahrensgesetz – AsylVfG – an die (positive oder negative) Feststellung des Bundesamtes hierzu gebunden bleibt. [...]

Schließlich führen auch die lange Aufenthaltsdauer und die daraus resultierenden schutzwürdigen Belange des Klägers zu 1) auf Achtung seines Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK nicht zu einer rechtlichen Unmöglichkeit seiner Ausreise. Zwar greift die Verweigerung eines weitergehenden Aufenthaltsrechts im Falle des Klägers zu 1) in den Schutzbereich dieser Bestimmung ein. Der Eingriff ist indessen nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt. [...]

Dies vorausgeschickt stellt sich die Situation des Klägers zu 1) so dar, dass dieser im Jahre 1951 in der Türkei geboren wurde und dort bis zu seiner Ausreise im Jahre 1995 gelebt hat. Er ist somit als Erwachsener im Alter von ca. 44 Jahren nach Deutschland ausgereist und hat seine gesamte Sozialisation in der Türkei erfahren. Damit beherrscht er nicht nur die in seiner Heimatregion gesprochene Sprache, sondern ist auch mit den gesellschaftlichen und sonstigen kulturellen Gepflogenheiten in seinem Herkunftsland bestens vertraut.

Seine derzeitige Situation ist durch einen inzwischen ca. 14-jährigen Aufenthalt in Deutschland mitgeprägt. Gleichwohl kann von einer Verwurzelung des Klägers zu 1) in die deutschen Lebensverhältnisse im Sinne der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht ausgegangen werden.

So konnte die Kammer sich in der mündlichen Verhandlung zunächst davon überzeugen, dass der Kläger zu 1) trotz seines langjährigen Aufenthaltes in Deutschland nur wenig Deutsch spricht. Um sich zu verständigen, musste er wiederholt auf die Hilfe der Klägerin zu 4) wie auch seines in der mündlichen Verhandlung anwesenden volljährigen Sohnes zurückgreifen.

In wirtschaftlicher Hinsicht ist der Kläger zu 1) während seines gesamten bisherigen Aufenthaltes keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen. Der Lebensunterhalt für ihn und seine Familie wurde durchgängig aus öffentlichen Mitteln bestritten. Auch wenn die Kläger zur Zeit tatsächlich keine öffentlichen Mittel mehr in Anspruch nehmen und ihren Lebensunterhalt vom Einkommen eines im Haushalt lebenden volljährigen Sohnes bestreiten, ändert dies nichts an der Tatsache, dass der Kläger zu 1) zur Bestreitung seines Lebensunterhalts erkennbar nichts beiträgt. Dagegen kann er auch nicht mit Erfolg einwenden, dass ihm aufgrund seines Aufenthaltsstatus und eines verhängten Beschäftigungsverbotes eine Arbeitsaufnahme nicht möglich gewesen sei. Insoweit bleibt zu sehen, dass bis zur Verhängung des Beschäftigungsverbotes die Duldungen des Klägers zu 1) über Jahre hinweg mit dem Zusatz "arbeitserlaubnispflichtige Tätigkeit nur gemäß gültiger Arbeitserlaubnis gestattet" versehen war. Hieraus folgt, dass ihm eine Arbeitsaufnahme durchaus grundsätzlich möglich gewesen wäre. Dafür, dass der Kläger zu 1) aber zu irgendeinem Zeitpunkt sich um eine Stelle und entsprechende Arbeitserlaubnis bemüht hätte, ergeben sich nach Aktenlage keinerlei Anhaltspunkte. [...]

Sind nach alledem die sozialen, kulturellen und familiären Beziehungen des Klägers zu 1) in Deutschland schon nicht derart gewichtig, dass sie die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis als unverhältnismäßig erscheinen lassen, so führt auch die Berücksichtigung seiner diesbezüglichen Beziehungen zu seinem Herkunftsland Türkei zu keinem anderen Ergebnis. Er spricht nach eigenen Angaben zwar kein Türkisch, sondern lediglich Arabisch. Hierzu hat er aber auch angegeben, dass in der Region seines Heimatdorfes die Bevölkerung überwiegend Arabisch oder Kurdisch spreche. Unterstellt man diese Angaben des Klägers zu 1) als wahr, so besteht vor diesem Hintergrund nicht die Gefahr, dass er wegen sprachlicher Defizite besondere Erschwernisse bei seiner gesellschaftlichen Wiedereingliederung zu gewärtigen hätte. Vielmehr wird der Kläger zu 1) insoweit die gleichen Bedingungen antreffen, wie er sie über 44 Jahre seines Lebens in der Türkei erlebt hat. Von daher ist es ihm ohne weiteres möglich, sich alsbald wieder in die dortigen Lebensumstände einzufinden. Dies wird ihm auch dadurch erleichtert, dass er mit den Klägern zu 2) bis 4) zusammen dorthin zurückkehren wird.

Die wirtschaftliche Situation des Klägers zu 1) wird sich in der Türkei – wie schon in Deutschland – als schwierig erweisen. Insoweit muss er sich allerdings auf die Unterstützung seiner in Deutschland lebenden volljährigen Söhne verweisen lassen, die erkennbar auch derzeit bereit sind, dem Kläger zu 1) finanzielle Unterstützung zu gewähren.

Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass dem Kläger zu 1) trotz seines ca. 14-jährigen Aufenthalts in Deutschland eine Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse allenfalls in Ansätzen gelungen ist. Eine soziale, wirtschaftliche und kulturelle Verwurzelung in Deutschland ist objektiv nicht feststellbar. Eine Rückkehr in die Türkei ist ihm daher zumutbar, zumal er noch über einen grundlegenden sozialen und kulturellen Hintergrund bezüglich der Türkei verfügt. Dementsprechend muss sein privates Interesse an einem weiteren Aufenthalt in Deutschland hinter den nachstehend dargelegten einwanderungspolitischen Belangen zurücktreten.

Die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten erfolgte, zum Teil erhebliche Zuwanderung ausländischer Mitbürger nach Deutschland hat neben verschiedenen unbestreitbar positiven Effekten auch zur Entstehung einer Reihe von gesamtgesellschaftlichen Problemen geführt, die insbesondere der Mitte der 1990er Jahre zu einer verstärkten Diskussion betreffend die Zuwanderungspolitik geführt haben. Ein Ergebnis dieser Debatte ist die Erkenntnis, dass ein wesentlicher Teil der mit der Zuwanderung verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Probleme sowie die Gefahr des Entstehens sogenannter "Parallelgesellschaften" Folge mangelnder Integration sind. Dementsprechend wurde auch mit dem Erlass des derzeit geltenden Aufenthaltsgesetzes ein zentraler Schwerpunkt auf die Integration ausländischer Mitbürger gelegt. Dies findet seinen Ausdruck unter anderem darin, dass insbesondere die Erteilung von Aufenthaltstiteln und die damit einhergehende Aufenthaltsverfestigung in der Regel an die Erfüllung gewisser Integrationsmindeststandards geknüpft werden. Hiermit korrespondierend wurden erstmals umfassende Integrationsprogramme für ausländische Mitbürger gesetzlich geregelt (§§ 43 ff. AufenthG). Demgegenüber besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass jenen Ausländern, denen eine Integration trotz dieser Sachlage auch längerfristig nicht gelingt, grundsätzlich kein weiterer Aufenthalt ermöglicht werden soll. Denn dies würde im Ergebnis eine Zuwanderung zu Lasten der Sozialsysteme bedeuten, wie der Fall des Klägers zu 1) und seiner Familie eindeutig belegt. Denn mangelnde Integration führt in der Regel unter anderem zu anhaltender Arbeitslosigkeit und damit einer dauerhaften Belastung der Sozialsysteme. Da diese aber nicht unbegrenzt belastbar sind, sondern als Ausprägung des grundgesetzlich verankerten Sozialstaatsprinzips unter dem Vorbehalt des Möglichen stehen, ist die entsprechende Regulierung der Zuwanderung eine im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft bestehende Notwendigkeit zur Wahrung von Ruhe und Ordnung. Die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis ist daher im Falle des Klägers zu 1) nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt und damit verhältnismäßig. [...]