1. Die Rücknahme des Asylantrags und des Antrags auf Flüchtlingsanerkennung durch den Antragsteller führt zur Unanwendbarkeit der Dublin II-VO ex tunc.
2. Die Abschiebungsanordnung nach Griechenland verletzt den Kläger auch in eigenen Rechten. Selbst wenn die Dublin II-VO noch anwendbar wäre, wäre das BAMF verpflichtet, sein Selbsteintrittsrecht als Ermessensentscheidung erneut zu prüfen, weil der Kläger durch die während des Klageverfahrens vollzogene Eheschließung zusätzlich den Schutz von Ehe und Familie und damit möglicherweise erhöhte Schutzbedürftigkeit für sich geltend machen kann.
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Anmerkung der Redaktion: Die Entscheidung ist rechtskräftig.
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Die Anfechtungsklage gegen Ziffer 2 des Bescheids vom 13. November 2009 ist begründet, weil die Abschiebungsanordnung nach Griechenland rechtswidrig ist und den Kläger in eigenen Rechten verletzt.
1. Die Abschiebungsanordnung nach Griechenland ist rechtswidrig.
a) Die Abschiebungsanordnung im Rahmen einer Überstellung nach Art. 19 VO 343/2003/EG ist rechtswidrig, weil Griechenland für die Prüfung eines subsidiären Schutzanspruchs des Klägers formell nicht zuständig ist.
Zwar ist der Kläger nach Art. 10 Abs. 1 Satz 1 VO 343/2003/EG zu einem hier nicht näher bekannten Zeitpunkt illegal aus einem Drittstaat - wohl der Türkei - kommend auf dem Seeweg nach Griechenland eingereist und hat damit die Seegrenze dieses Mitgliedstaates illegal überschritten, so dass eine Zuständigkeit Griechenlands für die Prüfung des Asylantrags nach Art. 10 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 VO 343/2003/EG entstand und - da der illegale Grenzübertritt wohl noch keine 12 Monate zurückliegt - noch nicht durch Fristablauf beendet ist.
Offen bleiben kann, ob der Kläger darüber hinaus in Griechenland einen förmlichen Asylantrag im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 VO 343/2003/EG überhaupt gestellt hat, wofür einerseits seine Angabe vor der Flughafenwache München-Süd vom 24. Juni 2009 spricht, als er angab: "Zunächst wollte ich in Griechenland Asyl, ich habe auch einen Antrag gestellt. Habe aber keine Antwort bekommen." Demgegenüber gab seine damalige Verlobte und heutige Ehefrau in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 21. Juli 2009 an, sie hätten in Griechenland ein Papier bekommen, auf dem gestanden habe, dass sie innerhalb eines Monats Griechenland verlassen sollten. Fingerabdrücke habe sie nirgends abgegeben. Man habe sie nach ihrem Namen und ihren Personalien gefragt, aber sie seien nicht registriert worden.
Möglicherweise hat der Kläger daher keinen förmlichen Asylantrag in Griechenland gestellt; Näheres hat auch die Beklagte nicht ermittelt. Für die Begründung der Zuständigkeit nach Art. 10 Abs. 1 VO 343/2003/EG genügt jedoch der illegale Grenzübertritt, so dass es auf eine förmliche Asylantragstellung im zuerst erreichten Mitgliedstaat der EU nicht ankommt.
Die Zuständigkeit dieses zuerst erreichten Mitgliedstaats reicht jedoch nur soweit, als die entsprechende Verordnung eine Zuständigkeit begründet. Nach Art. 2 Buchst. c) VO 343/2003/EG ist ein "Asylantrag" jeder "von einem Drittstaatsangehörigen gestellte Antrag, der als Ersuchen um internationalen Schutz eines Mitgliedstaats im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention angesehen werden kann. Jeder Antrag auf internationalen Schutz wird als Asylantrag angesehen, es sei denn, ein Drittstaatsangehöriger ersucht ausdrücklich um einen anderweitigen Schutz, der gesondert beantragt werden kann".
Ein Asylantrag des Klägers liegt jedoch nicht mehr vor. Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 29. Juli 2009 hat der Kläger den Asylantrag nach Art. 16 a GG und den Antrag auf internationalen Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zurückgenommen, lediglich seinen Antrag auf subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 2 bis Abs. 7 AufenthG i.V.m. Art. 15 RL 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) hat er aufrecht erhalten. Im Zeitpunkt des von der Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten Übernahmeverfahrens mag noch ein Asylantrag vorgelegen haben. Am 27. Juli 2009 stellte die Bundesrepublik Deutschland auch ausdrücklich fest, dass Griechenland auf das Rücknahmeersuchen nicht reagiert habe und seine Zuständigkeit begründet sei. Doch mit der - wenn auch nachträglichen - Rücknahme des Asylbegehrens entfiel ex tunc der gestellte Asylantrag, so dass nicht mehr Griechenland, sondern die Bundesrepublik für die Prüfung des subsidiären Schutzanspruchs zuständig ist. Dies ergibt sich aus dem Vergleich von Art. 2 Buchst. c) VO 343/2003/EG mit Erwägungsgrund Nr. 24 Satz 2 RL 2004/83/EG, wonach der subsidiäre Schutzstatus die in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Schutzregelungen für Flüchtlinge ergänzen soll. Dafür spricht erst recht Art. 2 Buchst. e) RL 2004/83/EG, welcher als "Person mit Anspruch auf sübsidiären Schutz" gerade einen Drittstaatsangehörigen bezeichnet, "der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt". Daher stehen die rechtlichen Wirkungen der älteren Verordnung 343/2003/EG für Asylanträge und internationalen Schutz auf der einen Seite und die jüngere und ergänzend gültige RL 2004/83/EG auf der anderen Seite in einem Stufen- und Subsidiaritätsverhältnis zueinander mit der Folge, dass das Verfahren nach Dublin II nur für die dort genannten Schutzmechanismen, aber nicht für den subsidiären Schutz gilt. Neben dem grammatikalischen und systematischen Argument spricht dafür auch das historische Argument, dass die VO 343/2003/EG älter ist als die RL 2004/83/EG, somit die jüngere Norm den neueren Schutzstatus in umfassenderem Sinne vorsieht.
Durch die rückwirkende Rücknahme des Asylantrags und des Antrags auf Flüchtlingsanerkennung bzw. internationalen Schutz ist die von der VO 343/2003/EG als Kollisionsnorm vorausgesetzte konkurrierende Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschlands und Griechenlands für die Prüfung des Asylbegehrens rückwirkend entfallen. Damit ist die Zuständigkeitskonkurrenz beseitigt und die Bundesrepublik, ungeachtet einer früher bestehenden Zuständigkeit Griechenlands für die Prüfung eines Asylbegehrens des Klägers. jedenfalls für die Prüfung subsidiären Schutzes zuständig.
Eine Befugnis ergibt sich somit nicht aus Art. 19 Abs. 1 und Abs.3 VO 343/2003/EG, denn Griechenland ist im Falle des Klägers nicht nur mehr kein nach Art. 10 VO 343/2003/EG zuständiger Staat, sondern der Kläger ist nach der Rücknahme seines Antrags im Bundesgebiet jedenfalls kein Asylantragsteller und damit kein Antragsteller im Sinne von Art. 2 Buchst. c) und d) VO 343/2003/EG mehr, auf welchen noch das Rücküberstellungsverfahren nach Dublin II Anwendung fände. Er ist vielmehr ein Antragsteller für einen anderweitigen und gesondert beantragten subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG i.V.m. Art. 2 Buchst. f), Art. 15 ff. RL 2004/83/EG. [...]