VG München

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Zitieren als:
VG München, Beschluss vom 24.03.2010 - M 22 E 10.30174 - asyl.net: M16815
https://www.asyl.net/rsdb/M16815
Leitsatz:

Vorläufige Untersagung der Dublin-Zurückschiebung eines Minderjährigen nach Griechenland durch die Bundespolizei.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Griechenland, vorläufiger Rechtsschutz, Zurückschiebung, minderjährig, Bundesverfassungsgericht, Bundespolizei
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 18 Abs. 3, VwGO § 123, GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 16a Abs. 2, BVerfGG § 31 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Auf den Fall einer Zurückschiebung nach § 18 Abs. 3 AsylVfG ist die für Abschiebungen geltende Regelung des § 34a Abs. 2 AsylVfG zumindest analog anwendbar, da mit der Vorschrift des § 18 Abs. 3 AsylVfG der Zweck verfolgt wird, Ausländer, die die Grenze außerhalb des Grenzübergangs illegal überschritten haben, nicht besser zu stellen als jene, die sich ordnungsgemäß der Grenzkontrolle unterziehen (BT-Drucksache 12/2062, S. 31). Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 34a Abs. 2 AsylVfG liegen zwar vor. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch In seiner Grundsatzentscheidung vom 14. Mai 1996 festgestellt, dass § 34a Abs. 2 AsylVfG mit seinem dort zum Ausdruck gekommenen generellen Ausschluss einstweiligen Rechtsschutzes nur bei sinnentsprechender restriktiver Auslegung mit Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG im Einklang steht und dass die Ausschlusswirkung des Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG nicht über die Grenzen hinausreicht, die dem Konzept normativer Vergewisserung gesetzt sind (BVerfG vom 14.5.1996 - BVerfGE 94, 49). Nach dieser Entscheidung kann die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes trotz der Ausschlussregelung des § 34a Abs. 2 AsylVfG in gewissen Sonderfällen gleichwohl statthaft und geboten sein, etwa wenn dem Ausländer im Drittstaat die Todesstrafe drohen sollte, wenn er eine erhebliche konkrete Gefahr dafür aufzeigt, dass er in unmittelbarem Zusammenhang mit der Rückverbringung in den Drittstaat dort Opfer eines Verbrechens werde, welches zu verhindern nicht in der Macht des Drittstaats steht, wenn sich die für die Qualifizierung als sicher maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26a Abs. 3 AsylVfG hierauf noch aussteht, wenn der Drittstaat selbst gegen den Schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung greift oder wenn sich der Drittstaat von seinen rechtlichen Verpflichtungen löst und einem bestimmten Ausländer Schutz dadurch verweigert, dass er sich seiner ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen wird.

Eine Prüfung, ob der Zurückweisung oder sofortigen Rückverbringung in den Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, kann der Ausländer nach dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts freilich nur erreichen, wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass er von einem der soeben genannten, im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist. An diese Darlegung sind strenge Anforderungen zu stellen (BVerfG vom 14.5.1996 a.a.O.). Diesen strengen Darlegungserfordernissen hat der Antragsteller nicht genügt. Er vermochte keinen Sachverhalt vorzutragen, der es gerechtfertigt erscheinen ließe, eine hinreichend konkrete Gefährdung gerade seiner Person in Griechenland anzunehmen. Der Antragsteller ist nicht auf individuelle Verhältnisse seiner Person eingegangen und hat sich nicht auf eine besondere Schutzbedürftigkeit berufen, sondern sich vielmehr auf die Darstellung der allgemeinen Zustände des Asylsystems in Griechenland beschränkt. Das Gericht vermag deshalb nicht zu erkennen, inwiefern gerade der Antragsteller von den Zuständen in Griechenland als Asylsuchender im Falle seiner Zurückschiebung dorthin individuell-qualifiziert betroffen sein sollte. Nach den vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 14. Mai 1996 aufgestellten Vorgaben könnte deshalb im konkreten Fall keine Ausnahme vom Verbot der Aussetzung der Abschiebung bzw. Zurückschiebung des § 34a Abs. 2 AsylVfG zugelassen werden.

Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht angesichts der Situation von Asylantragstellern in Griechenland, wie sie den Stellungnahmen verschiedener Organisationen zu entnehmen sei, in einer Reihe aktueller Kammerentscheidungen verfassungsrechtlichen Klärungsbedarf mit Blick auf den Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes durch § 34a Abs. 2 AsylVfG auch in dem hier maßgeblichen Anwendungsbereich des § 27a AsylVfG gesehen (BVerfG vom 8.9.2009, Az. 2 BvQ 56/09; zuletzt BVerfG vom 22.12.2009, Az. 2 BvR 2879/09). Danach besteht Anlass zur Untersuchung, ob und gegebenenfalls welche Vorgaben das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 16a Abs. 2 Sätze 1 und 3 GG für die fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung bei der Anwendung von § 349 Abs. 2 AsylVfG trifft, wenn Gegenstand des Eilrechtsschutzantrags eine beabsichtigte Abschiebung in einen nach der Dublin II-VO zuständigen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften ist. Mehreren diesbezüglich erhobenen Verfassungsbeschwerden hat das Bundesverfassungsgericht Erfolgsaussichten mit Blick auf die Stellungnahmen verschiedener Organisationen zur Situation von Asylantragstellern in Griechenland nicht abgesprochen und die Vollziehung der Abschiebung nach Griechenland nach der Dublin II-VO im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig untersagt. An die in diesen aktuellen Entscheidungen zum Ausdruck kommende Bewertung des Bundesverfassungsgerichts ist das erkennende Gericht angesichts dessen, dass das Bundesverfassungsgericht Klärungsbedarf gerade für die fachgerichtliche Prüfung konstatiert hat, gebunden. [...]