VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 23.02.2010 - 4 A 4067/08 - asyl.net: M16884
https://www.asyl.net/rsdb/M16884
Leitsatz:

Zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bei Ausweisungsgründen. Ob ein Ausnahmefall vorliegt, unterliegt nach der neueren Rechtsprechung des BVerwG voller gerichtlicher Überprüfung. Eine Ermessensentscheidung nach § 27 Abs. 3 S. 2 AufenthG ist nur dann zu treffen, wenn der gesetzliche Regelfall gegeben ist, da diese Norm nicht lex specialis zu § 5 Abs. 1 S. 2 AufenthG ist.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Vaterschaft, deutsches Kind, Ausweisungsgrund, Verurteilung, atypischer Ausnahmefall
Normen: AufenthG 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, AufenthG § 10 Abs. 3, AufenthG § 27 Abs. 3 S. 2, GG Art. 6, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG.

Der Kläger ist sorgeberechtigter Vater zweier minderjähriger deutscher Kinder, mit denen er in familiärer Lebensgemeinschaft lebt. Der Kläger wohnt zwar in ..., während seine Kinder und die Kindesmutter ihren Wohnsitz zunächst in ... hatten und jetzt in ... Entscheidend ist aber nicht, ob eine häusliche Gemeinschaft besteht, sondern die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern. Eine schutzwürdige Lebens- und Erziehungsgemeinschaft liegt vor, wenn ein Kind auf die dauernde Anwesenheit eines Elternteils in seiner unmittelbaren Nähe angewiesen ist, wenn also eine sozial-familiäre Beziehung besteht und nicht lediglich eine Begegnungsgemeinschaft. Aus den im Verfahren vorgelegten Unterlagen ergibt sich, dass zwischen dem Kläger und seinen Kindern eine familiäre Lebensgemeinschaft besteht. Das wird auch vom Beklagten nicht in Zweifel gezogen; weitere Ausführungen dazu sind daher entbehrlich.

§ 10 Abs. 3 AufenthG steht der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen, da der Kläger einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hat (§ 10 Abs. 3 Satz 3 1. Halbsatz AufenthG). Dabei folgt die Kammer der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. vom 16.12.2008, - 1 C 37.07 -), dass Anspruch im Sinne des § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ein strikter Rechtsanspruch sein muss. Ein Anspruch aufgrund einer Ermessensvorschrift genügt auch dann nicht, wenn das Ermessen auf Null reduziert ist. Offen bleiben kann, ob Regelansprüche oder Ansprüche aufgrund von Sollvorschriften die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 AufenthG überwinden (dies verneinen etwa OVG Lüneburg, Beschluss vom 08.12.2008, - 13 PA 145/08 -; BayVGH, Beschluss vom 15.01.2009, - 19 C 08.2281 -). Dem Kläger steht nämlich ein strikter Rechtsanspruch im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu, obwohl ein Ausweisungsgrund im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vorliegt.

Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Ausreichend ist dabei das Vorliegen eines Ausweisungstatbestandes. Es ist nicht erforderlich, dass ein Ausländer fehlerfrei ausgewiesen werden könnte. Ein solcher Ausweisungstatbestand liegt vor, weil der Kläger Straftaten begangen hat, deretwegen er vom Amtsgericht Hildesheim zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt wurde. Damit liegt ein Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 1 a und Nr. 2 AufenthG vor. Allerdings liegen im Fall des Klägers die Voraussetzungen für die Annahme einer Ausnahme von der Regel vor. Wegen des Vorliegens eines Ausnahmefalles bedarf es keiner Prüfung nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG (vgl. VGH Mannheim, Urt. vom 15.09.2007, - 11 S 837/06 -; Urt. vom 18.11.2009, - 13 S, 2002/09 -; OVG Bremen, Beschluss vom 27.10.2009, 1 B 224/09 -; a.A.: OVG Magdeburg, Beschluss vom 09.02.2009, - 2 M 276/09 -; OVG Lüneburg, Urt. vom 27.04.2006, - 5 LC 110/05-).

Ob ein Ausnahmefall vorliegt, unterliegt nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. vom 30.04.2009, - 1 C 3.08 -) voller gerichtlicher Nachprüfung. Der Ausländerbehörde steht insoweit kein Einschätzungsspielraum zu. Der Gesetzgeber hat mit § 5 Abs. 1 AufenthG bestimmte Erteilungsvoraussetzungen auf der Tatbestandsseite gleichsam vor die Klammer gezogen und bestimmt, dass sie in der Regel vorliegen müssen, unabhängig davon, ob auf die Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen ein Rechtsanspruch besteht oder nach Ermessen zu entscheiden ist (vgl. BVerwG, a.a.O.). Daher führt ein Ausnahmefall nicht dazu, dass der gesetzliche Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einer Ermessensentscheidung herabgestuft wird (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 27.10.2009, 1 B 224/09 -; VGH Mannheim, Urt. vom 18.11.2009, - 13 S 2002/09 -). § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist daher nicht lex specialis zu § 5 Abs. 1 Satz 2 AufenthG mit der Folge, dass bei Vorliegen eines Ausweisungsgrundes in diesen Fällen stets nach behördlichem Ermessen zu entscheiden wäre (a.A. Bäuerle, in. GK-AufenthG, § 5 AufenthG Rn. 94; OVG Lüneburg, Urt. vom 27.04.2006, - 5 LC 110/05 -; OVG Magdeburg, Beschluss vom 09.02.2009, - 2 M 276/08 -; wobei diese Entscheidungen vor dem Urteil des BVerwG vom 30.04.2009 ergangen sind). Eine Ermessensentscheidung ist gemäß § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vielmehr nur dann zu treffen, wenn der gesetzliche Regelfall gegeben ist (vgl. OVG Bremen, a.a.O.), was hier nicht der Fall ist.

Ein Ausnahmefall liegt vor, wenn besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, oder die Erteilung des Aufenthaltstitels muss aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf. Art. 8 EMRK geboten sein, z.B. weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist (vgl. BVerwG, Urt. vom 30.04.2009, - 1 C 3.08 -). Die in Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss v. 30.01.2002, NVwZ 2002, 849). Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehöriger und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat (vgl. BVerfG, a.a.O.). Dabei ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und zu untersuchen, ob eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.01.2006, - 2 BvR 1935/05 -).

Dabei vermag allein der Umstand, dass die Herstellung der Familieneinheit im Heimatland des Ausländers nicht möglich oder zumutbar ist, nicht unterschiedslos alle Ausweisungsgründe ungeachtet ihres jeweiligen Gewichts zu überwinden (vgl. VGH Mannheim, Urt. vom 18.11.2009, - 13 S 2002/09 -). Das Gewicht des jeweils konkret verwirklichten Ausweisungsgrundes muss mit den aus Art. 6 GG folgenden Erfordernissen in Beziehung gesetzt und abgewogen werden. Nicht jeder Ausweisungsgrund von geringem Gewicht ist geeignet, den verfassungsrechtlichen Schutz der Familie zu überspielen (vgl. VGH Mannheim, a.a.O.).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist ein Ausnahmefall gegeben. Den Kindern und der Kindesmutter, die die deutsche Staatsangehörigkeit haben, ist das Verlassen des Bundesgebietes nicht zumutbar. Der Kläger kümmert sich zuverlässig und intensiv um seine Kinder. Das Familienzentrum ..., das ... Kinderdorf ..., in dem die Kindesmutter mit beiden Kindern gewohnt hat, und der behandelnde Kinderarzt bestätigen, dass der regelmäßige Kontakt zum Vater für die Entwicklung der Kinder wichtig und unerlässlich sei. Der Beziehung zu den Kindern kommt daher hohes Gewicht zu. Die Einschätzung des Beklagten, den Kindern sei eine vorübergehende Trennung vom Vater zuzumuten, teilt die Kammer nicht, da die Kinder noch sehr jung sind und nicht absehbar ist, wie lange eine solche Trennung dauern würde. Demgegenüber kommt dem Ausweisungsgrund nur geringes Gewicht zu. Dem Kläger ist verurteilt worden, weil er durch die Täuschung über seine Identität ausländerrechtliche Duldungen erwirkt habe. Dabei handelt es sich um eine Straftat im Bereich der unteren Kriminalität, die zudem so nur von Ausländern begangen werden kann und die letztlich die Konsequenz daraus ist, unter einem Alias-Namen ein Asylverfahren zu betreiben und den Aufenthalt zu sichern. In anderer Hinsicht ist der Kläger strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Da es an einem schwerwiegenden Ausweisungsgrund fehlt und andererseits Art. 6 GG für den Kläger streitet, ist ein Ausnahmefall gegeben. [...]