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VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 01.04.2010 - 4 A 43/09 - asyl.net: M16894
https://www.asyl.net/rsdb/M16894
Leitsatz:

1. Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG wegen Verfolgungsgefahr im Kosovo durch in das Rauschgift-Geschäft involvierten Clan von National-Albanern nach Zeugenaussage des Klägers gegen ein im Bundesgebiet operierendes Mitglied des Clans. Schutzgewährung durch EULEX, andere staatliche Stellen oder internationale Organisationen unzureichend.

2. Im Übrigen liegen Voraussetzungen für einen Widerruf (der Ablehnung subsidiären Schutzes) nach § 51 Abs. 5 i.V.m. § 49 Abs. 1 VwVfG vor, da wegen geänderter Sachlage ein Festhalten an der bestandskräftigen negativen Entscheidung zu § 53 AuslG zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde und das Ermessen des BAMF deshalb auf Null reduziert ist.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, subsidiärer Schutz, Kosovo, Asylfolgeantrag, Änderung der Sachlage, Widerruf, nichtstaatliche Verfolgung, EULEX, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2, RL 2004/83/EG Art. 6 Bst. c
Auszüge:

[...]

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.06.2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit eine Abänderung des Bescheides vom 21.04.1995 bzgl. der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG verneint worden ist. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihm die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG bzgl. des Kosovo vorliegen. Hierzu ist die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des angegriffenen Bescheides zu verpflichten (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Der Kläger kann sich aufgrund der Angaben des Zeugen G.., seiner Stellungnahme vom ..., den vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen vom ... und aufgrund der Zeugenaussagen vom ... auf eine zu seinen Gunsten geänderte Sachlage i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG berufen. Im Übrigen sind auch die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 51 Abs. 5 i.V.m. § 49 Abs. 1 VwVfG gegeben, da ein Festhalten an der bestandskräftigen negativen Entscheidung zu § 53 AuslG im Bescheid des Bundesamtes vom 21.04.1995 zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde und das Ermessen der Behörde deshalb auf Null reduziert ist. Denn bei dem Kläger liegt aufgrund einer konkreten Gefahr der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG bzgl. des Kosovo vor. [...]

Nach diesen Kriterien ist unter Würdigung der konkreten Umständen des vorliegenden Einzelfalles zur Überzeugung des Gerichts dem Kläger Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG zu gewähren. Der Kläger hat im Rahmen des gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens wegen eines Handeltreibens mit Betäubungsmitteln durch offene und vertrauliche Aussagen weitere Strafverfahren ermöglicht, die erfolgreich abgeschlossen worden sind. Insbesondere betraf dies den Nationalalbaner ..., der im Bereich des damaligen Drogenhandels im Raum ... eine führende Rolle einnahm und auf die Aussage des Klägers hin festgenommen und nachfolgend nach Albanien abgeschoben werden konnte. In diesem Zusammenhang hat der mit den damaligen Ermittlungen befasste Zeuge ... ausgeführt, dass ... zuvor bundesweit für seinen Familienclan im Kokainhandel tätig geworden war und eine große Nummer gewesen ist. Durch seinen eigenen Kokainkonsum wurde er dann durch seinen Familienclan in der Hierarchie zurückgesetzt und im Raum Göttingen mit kleineren Aufgaben betraut. Das Umfeld von ... war hervorragend ausgestattet, bewaffnet und auch gewalttätig. Hier hat der Zeuge ... glaubhaft geschildert, dass es bei der Person von ... große Probleme gegeben hat, weil die am Drogenhandel beteiligten Kosovoalbaner große Angst hatten und sofort anfingen zu zittern, wenn die Sprache auf ... kam. Die Aussagen des Klägers haben dazu geführt, dass das Geschäft von ... kaputt gemacht worden ist, weil er abgeschoben wurde. Damals war dem Kläger wegen seiner Aussagen durch die Zeugen ... und ... Vertraulichkeit zugesichert worden. Allerdings ist es zu der angedachten Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm nicht mehr gekommen, nachdem ... abgeschoben worden war und dadurch etwas Ruhe eingekehrt war. Nach dem Zeugen ..., der häufiger mit Gefährdungseinschätzungen im Rahmen von Zeugenschutzprogrammen befasst gewesen ist, bestand früher und besteht auch heute noch für den Kläger im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland eine hochgradige Gefährdung durch ... und dessen Umfeld. Dieser überzeugenden Gefährdungseinschätzung des Zeugen ... tritt das erkennende Gericht uneingeschränkt bei. Aus dem vorangehend dargelegten Sachverhalt und den Geschehensabläufen steht auch zur Überzeugung des Gerichts zweifelsfrei fest, dass ... über das von ihm bzw. seinem Familienclan bestimmte Umfeld der organisierten Kriminalität Rache an dem Kläger nehmen wird. Denn die Aussagen des Klägers haben zur Zerschlagung des von ... geleiteten Drogenhandels und seiner Abschiebung nach Albanien geführt. Für diese erlittene Erniedrigung und Schmach will sich ... an dem Kläger rächen. Dies wird durch die vom Kläger vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen vom ... bestätigt. Nach den dortigen, nicht in Zweifel zu ziehenden Angaben hat ... die Handynummern von früheren ... Bekannten ausfindig gemacht und sich bei diesen gemeldet, um nach dem Aufenthaltsort des Klägers zu fragen. Dabei hat er auch Drohungen gegenüber den Kläger ausgesprochen. Nach alledem besteht zur Überzeugung des Gerichts eine konkrete und hochgradige Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung für den Kläger im Falle einer Rückkehr in das Kosovo. Dabei steht für das Gericht fest, dass ... und sein hervorragend ausgestattetes und funktionierendes Umfeld der organisierten Kriminalität über beste Kontakte und Möglichkeiten auch im Kosovo verfügt, um den Aufenthaltsort des Klägers im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland und seinen früheren Herkunfts- und Aufenthaltsort ... ausfindig zu machen und Zugriff auf ihn bzw. seine Familie zu nehmen. Der Zeuge ... hat hier nachvollziehbar auf gut funktionierende Netzwerke der nationalalbanischen Drogenclans hingewiesen, deren Betätigungs- und Interessenfeld insbesondere auch den Kosovo ausmacht. Dies ergibt sich, wie der vorliegende Fall gezeigt hat, insbesondere auch aus einer Einbindung von Kosovoalbanern in den von den Nationalalbanern kontrollierten Drogenhandel. Wegen der Rachegelüste von ... wird es für das Gericht zweifelsfrei durch dessen Umfeld und von ihm eingeschaltete Personen zur Zufügung schwerer psychischer und physischer Leiden und Demütigungen, wenn nicht sogar zu einer Lebensgefahr, bei dem Kläger kommen. Denn diese Personen um ... sind bewaffnet und gewaltbereit und werden nicht nur körperlich misshandelnden Zugriff auf den Kläger nehmen, sondern ihm auch psychisch auf das Massivste unter Druck setzen, indem sie Übergriffe auf seine Lebenspartnerin und die gemeinsamen Kinder androhen werden. Diese Vorgehensweise von ... und dessen Umfeld hat der Zeuge ... überzeugend dargelegt, wonach bei den Kosovoalbanern bei den damaligen Ermittlungen große Angst wegen der Person von ... herrschte und sie bereits zu zittern anfingen, wenn die Sprache auf ... kam.

Diese von ... und seinem Umfeld ausgehende konkrete und hochgradige Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung stellt eine Gefährdung durch nichtstaatliche Akteure i.S.d. Art. 6 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG dar, vor der der Kläger im Kosovo zur Überzeugung des Gerichts erwiesenermaßen keinen Schutz erlangen kann. Übergriffe solch nichtstaatlicher Akteure stellen eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung im Sinne einer Schutzgewährung nach § 60 Abs. 2 AufenthG dar, sofern der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor solchen Übergriffen zu bieten (Art. 6 der Richtlinie 2004/83/EG). Ein entsprechender Schutz ist generell gewährleistet, wenn die staatlichen Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Gefährdung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die solch menschenrechtswidrige und erniedrigende Behandlungen darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat (Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG). Eine solche erforderliche Schutzgewährleistung wird dem Kläger im Kosovo nicht geboten werden. Auch wenn im Kosovo eine internationale Unterstützung beim Aufbau der Polizei und der Justiz erfolgt und derzeit Angehörige der europäischen Mission EULEX auch entsprechende exekutive Funktionen wahrnehmen, bestehen insbesondere im Bereich der organisierten Kriminalität und Korruption erhebliche Defizite und ein Verbesserungsbedarf. So wird im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2009 auf die nach wie vor verbreite Gewaltbereitschaft und die große Zahl der frei zirkulierenden Waffen hingewiesen, die die Sicherheitslage beeinträchtigen. Es gibt praktisch in jedem Haushalt eine oder mehrere (illegale) Schusswaffen. Eine über die Beschlagnahme hinausgehende nennenswerte Strafverfolgung der Besitzer illegaler Waffen findet kaum statt. Eine Rückläufigkeit der Kriminalität im Bereich der organisierten Kriminalität und der Korruption besteht nicht. Die Kriminalitätsbekämpfung ist nach wie vor verbesserungswürdig. Neben unzureichender Ausbildung des eingesetzten lokalen Personals ist auch die Bereitschaft zur Strafverfolgung und Korruptionsbekämpfung gering. Wesentlich deutlicher ist hier die entsprechende Presseberichterstattung, die auf gravierende Defizite und Missstände im Kosovo bzgl. der Verflechtung von Politik, Wirtschaft und international operierender organisierter Kriminalität und einer betreffenden Kriminalitätsbekämpfung hinweisen. So berichtet die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom 11.02.2010 unter der Überschrift "Betrug, Gewalt und Korruption" über die Forderung der internationalen Lenkungsgruppe für den Aufbau des Kosovo, die Behörden des Kosovo müssten schärfer gegen die Korruption und das organisierte Verbrechen vorgehen. Der amerikanische Botschafter in Pristina wird mit einer Rede zitiert, wonach staatliche Korruption, Gewalt und Betrug nicht bestraft würden und im Kosovo die Angehörigen der organisierten Kriminalität und korrupte Politiker ihren illegal erworbenen Reichtum behalten könnten. Des Weiteren wird berichtet, dass großmundige Bekundungen eines führenden EULEX-Mitarbeiters über ein Vorgehen im Bereich der organisierten Kriminalität wenig später dementiert worden seien. Die Presseberichterstattung über die Inhaftierung von drei deutschen BND-Mitarbeitern aus dem Jahre 2008 prangerte diese Missstände im Kosovo ebenfalls bereits an. So berichtet die Welt am Sonntag in ihrer Ausgabe vom 30.11.2008 über Äußerungen eines hochrangigen BND-Mannes, wonach sich die Bundesregierung von einem Land, in dem organisierte Kriminalität die Staatsform sei, am Nasenring der Weltpolitik habe führen lassen. Weiter wird in diesem Artikel eine BND-Analyse zitiert, nach der der amtierende Regierungschef Thaci sowie sein Vorgänger und ein Mitglied aus dem Parlamentspräsidium tief in die organisierte Kriminalität verwickelt seien und über diese Personen engste Verflechtungen zwischen Politik, Wirtschaft und international operierender organisierter Kriminalität im Kosovo bestünden. In diesem Sinne berichtet auch die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom 27.11.2008 und erhebt schwerste Vorwürfe, dass der Kosovo ein vom Verbrechen unterwandertes Land sei, in dem früheres Personal der Unterwelt in der Oberwelt erstaunliche Karrieren machten. Unter Beachtung und Würdigung dieser Erkenntnislage und der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalles steht zur Überzeugung des Gerichts erwiesenermaßen fest, dass die staatlichen Stellen einschließlich der internationalen Organisationen im Kosovo jedenfalls nicht in der Lage sind, dem Kläger vor Übergriffen von ... und dessen Umfeld Schutz zu bieten. Von daher lässt das Gericht dahinstehen, ob die Sicherheitsbehörden im Kosovo einschließlich der dort agierenden internationalen Organisationen überhaupt willens sein könnten, dem Kläger Schutz bzgl. einer hochgradigen Gefährdung durch die organisierte Kriminalität zu bieten. Selbst wenn sich der Kläger im Kosovo um eine Schutzgewährung an dortige staatliche Stellen wenden würde, könnten zur Überzeugung des Gerichts dort keine geeigneten Schritte und effektiven Maßnahmen zu seinem Schutz ergriffen werden. Dabei hat das Gericht bereits durchgreifende Zweifel, ob hier ein dauerhafter Personenschutz oder Erfolg versprechende Maßnahmen wie in einem bundesdeutschen Zeugenschutzprogramm (etwa Identitätsänderung) in dem noch im Aufbau befindlichen Polizei- und Strafverfolgungssystem des Kosovo überhaupt effektiv realisiert werden könnten. Für das Gericht steht jedenfalls zweifelsfrei fest, dass ... und sein bestens ausgestattetes, funktionierendes und im Kosovo agierendes Umfeld der organisierten Kriminalität selbst bei staatlichen Schutzbemühungen von kosovarischen oder internationalen Behörden diese problemlos unterlaufen und in der bereits dargelegten Art und Weise Zugriff auf den Kläger nehmen können und werden. [...]