LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.04.2010 - L 20 B 42/09 AY ER u.a. - asyl.net: M16914
https://www.asyl.net/rsdb/M16914
Leitsatz:

1. Zulässige Kürzung der Leistungen auf 112,47 EUR monatlich durch das Sozialamt (§ 1a Nr. 2 AsylbLG) für ein knapp vierjähriges Kind, da die Eltern gegen ausländerrechtliche Mitwirkungspflichten verstoßen (haben). Zulässig ist jedoch nur eine Kürzung des Taschengeldes, nicht auch des Anteils für Bekleidung.

2. Mit Blick auf das Urteil des BVerfG vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09 u.a.) zu den Regelsätzen nach dem SGB II kommt es zwar nicht darauf an, ob der Betroffene die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder sich mit gesichertem Aufenthaltsstatus in Deutschland aufhält; auch ist insoweit die Leistungsregelung des AsylbLG jedenfalls verfassungsrechtlichen Zweifeln ausgesetzt. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass sich der Bedarf von Asylbewerbern, deren Aufenthalt im rechtlichen Regelfall nicht verfestigt und nur vorübergehender Natur ist, anders bemisst als das soziokulturelle Existenzminimum (siehe hierzu aber LSG NRW, Beschluss vom 31.3.2010 - L 20 B 3/09 AY ER -, M16929).

Schlagwörter: Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Asylbewerberleistungsgesetz, Mitwirkungspflicht, Bekleidung, unabweisbar gebotene Leistungen, Existenzminimum
Normen: AsylbLG § 3, AsylbLG § 1a Nr. 2, GG Art. 1 Abs. 1, AsylbLG § 6 Abs. 1
Auszüge:

[...]

a) Dem Antragsteller stehen bei summarischer Prüfung zwar lediglich Leistungen nach § 1 a AsylbLG und nicht die begehrten Leistungen nach § 3 AsylbLG zu.

aa) Nach § 1 a Nr. 2 AsylbLG, erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 AsylbLG und ihre Familienangehörigen nach § 1 Abs. 1 Nr. 6 (u.a. minderjährige Kinder), bei denen aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, Leistungen nach dem AsylbLG nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist. Bei summarischer Prüfung hat der Antragstellers die Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen i.S. dieser Vorschrift zu vertreten. Zum einen haben seine Eltern jahrelang durch identitätsverschleiernde Verwendung von Aliasnamen vereitelt, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen vollzogen werden können. Zumindest für die Mutter des Antragstellers gilt das auch heute noch, da für sie nach wie vor - auch nach Aufdeckung ihrer mutmaßlichen wahren Identität - keinerlei Pass(ersatz)papiere vorgelegt wurden oder von ihr auch nur entsprechende Anstrengungen unternommen worden sind. Damit liegen zugleich für den Antragsteller selbst keine Ausweispapiere vor, ohne die jedoch aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht durchgeführt werden können. Auch für den Vater des Antragstellers liegt erst seit kurzem ein Passpapier vor, welches derzeit noch geprüft wird; in den Jahren zuvor hat auch er insoweit keine Mitwirkung bei der Beschaffung von Passpapieren gezeigt. Dabei sind bei summarischer Prüfung sowohl der Antragsteller als auch seine Eltern seit geraumer Zeit zur Ausreise verpflichtet.

Bei summarischer Prüfung reicht es insoweit für ein Vertretenmüssen i.S.v. § 1 a Nr. 2 AsylbLG auch aus, dass die Gründe für eine längere Dauer des Aufenthalts in Deutschland lediglich in der Verantwortungssphäre des Leistungsempfängers liegen (BSG, Urteil vom 17.06.2008 - B 8/9b AY 1/07 R); ein ihm selbst individuell anzulastendes aufenhaltsverlängerndes Verhalten muss hingegen nicht vorliegen. Deshalb ist das Verhalten der - für den minderjährigen Antragsteller handelnden - Eltern hinsichtlich der Verschleierung der wahren Identität sowie der mangelnden Bemühungen um Passpapiere dem Antragsteller zuzurechnen.

bb) Obwohl dem Antragsteller deshalb bei summarischer Prüfung nur Leistungen nach 1 a AsylbLG zu erbringen sind, hat er gleichwohl Anspruch auf um monatlich 20,45 € höhere Leistungen gegen die Antragsgegnerin.

Denn die Antragsgegnerin kürzt, die von ihr in Anwendung von § 3 Abs. 2 AsylbLG als Geldleistung erbrachten Grundleistungen neben der - im Rahmen von § 1 a AsylbLG rechtmäßigen (vgl. etwa Birk, in: LPK-SGB XII, 8. Aufl. 2008, § 1 a, AsylbLG Rn. 5) - Nichtzahlung des "Taschengeldes" i.S.v. § 3 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG (20,46 €) um einen weiteren Betrag i.H.v. 20,45 €, welcher in den Leistungen nach § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG für Bekleidung enthalten ist. Ein solches Vorgehen ist bei summarischer Prüfung nicht zulässig. Zwar bestimmt sich die unabweisbar gebotene Hilfe i.S.v. § 1 a AsylbLG nach den Umständen des Einzelfalles. In der Regel ist dabei jedoch nur die Streichung des "Taschengeldes" (beim Antragsteller i.H. v. 20,46 € nach § 3 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG) zulässig. Die übrigen Leistungen sind hingegen weiterhin zu gewähren, da sie bereits das durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte unerlässliche Existenzminimum darstellen, welches nicht mehr unterschritten werden darf; daneben sind zudem ggf. unerlässliche Leistungen im Sinne von § 6 AsylbLG weiterhin zu gewähren (vgl. Birk, a.a.O.).

Wenn die Antragsgegnerin insoweit vorträgt, der Antragsteller habe bei Vorsprachen stets einen ordentlich gekleideten Eindruck vermittelt, so wirkt dieser Vortrag zum einen bemüht; denn eine nähere Inspektion der Kleidung des Antragstellers - welche nicht nur aus Oberbekleidung besteht - wird schwerlich durchgeführt worden sein und zudem kaum im Beachtungsfokus der zuständigen Sachbearbeiter gestanden haben. Es erscheint auch kaum vorstellbar, dass der Antragsteller schlichtweg gar keinen (erneuerungsweisen) Kleidungsbedarf habe. Zum anderen erlaubt auch ein Ordentlich-gekleidet-Sein bei nur gelegentlichen Vorsprachen von vornherein nicht den Rückschluss darauf, dass der tagtägliche und allnächtliche Kleidungsbedarf des Antragstellers stets gedeckt sei; dies gilt schon deshalb, weil der Antragsteller sich als inzwischen knapp vierjähriges Kind in einem beständigen Körperwachstum befindet und schon deshalb ein häufigerer Ersatzbeschaffungsbedarf für Kleidung bestehen dürfte.

Will die Antragsgegnerin deshalb (so, wie sie es tut) von der Möglichkeit einer pauschalen Leistungserbringung in Geld nach § 3 Abs. 2 Satz 4 (i.V.m. § 1 a) AsylbLG Gebrauch machen, so kann sie nach Kürzung der Leistungen um das "Taschengeld" i.S.v. § 3 Abs. 1 Satz 4 Nr. AsylbLG darüber hinaus nicht noch eine weitere Kürzung anbringen. Soweit sie insoweit anführt, der Antragsteller habe die Möglichkeit, Leistungen im Einzelfall zu beantragen, so kann dies die weitere Kürzung nicht rechtfertigen. Zwar mag es durchaus sein, dass neben den Leistungen des § 3 Abs. 2 AsylbLG auch "sonstige Leistungen" nach § 6 Abs. 1 AsylbLG notwendig werden, deren gesetzliche Bezeichnung als "sonstige" Leistungen legt jedoch nahe, dass es sich dann um Leistungen außerhalb der Grundleistungen des § 3 AsylbLG handeln muss. Letztere sind deshalb auch in Fällen des § 1 a AsylbLG als Grundleistungen, mit Ausnahme des sog. "Taschengeldes") in aller Regel nicht weiter kürzungsfähig.

cc) Soweit der Antragsteller auf das Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09 hinsichtlich der Regelsätze nach dem SGB II Bezug nimmt, so ist ihm zuzugeben, dass das vom Bundesverfassungsgericht erkannte unverfügbare und staatlich einzulösende Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht davon abhängen kann, ob der Betroffene die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder sich mit einem gesicherten Aufenthaltstatus in Deutschland aufhält; auch ist insoweit die Leistungsregelung des AsylbLG jedenfalls verfassungsrechtlichen Zweifeln ausgesetzt, zumal die Geldbetragsleistungen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG seit 1993 nicht angepasst worden sind und auch 1993 schon unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums nach dem damaligen Bundessozialhilfegesetz (BSHG) lagen (vgl. Beschluss des Senats vom 31.03.2010 - L 20 B 3/09 AY ER). Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass sich der Bedarf von Asylbewerbern, deren Aufenthalt in Deutschland im rechtlichen Regelfall nicht verfestigt und nur vorübergehender Natur ist, anders bemisst als das soziokulturelle Existenzminimum, welches mit den Regelleistungen nach dem SGB II sichergestellt werden muss (Beschluss des erkennenden Senats, a.a.O.). Der Senat sieht deswegen im vorliegenden Fall keine Möglichkeit, im Wege der vorläufigen Leistungsgewährung im einstweiligen Rechtsschutz mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Problematik über den vom AsylbLG selbst gesetzlich festgelegten Rahmen hinaus einstweilen höhere Leistungen zuzusprechen. Dies gilt zumal auch deshalb, als sich die Antragsgegnerin bereit erklärt, hat, die vorliegende Leistungskürzung zurückzunehmen, sobald die Mutter des Antragstellers echte Passersatzpapiere unter Einbeziehung des Antragstellers vorlegt Die Mutter des Antragstellers hat es deshalb in der Hand, insofern alsbald die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme der ungekürzten Grundleistungen zu schaffen, indem sie zur Mitwirkung bei der Passpapierbeschaffung allein dasjenige tut, was die Rechtsordnung insoweit von ihr erwartet. Dabei geht der Senat davon aus, dass die Antragsgegnerin für etwaige Kosten der Beschaffung der Passersatzpapiere gesonderte Leistungen erbringen würde. [...]