OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 10.02.2010 - 13 LB 69/03; 5 A 638/02 - asyl.net: M16987
https://www.asyl.net/rsdb/M16987
Leitsatz:

Der Senat geht weiterhin davon aus, dass für arbeitsfähige ethnische Armenier aus Aserbaidschan in Berg-Karabach eine inländische Fluchtalternative besteht. Es bedarf deshalb keiner abschließenden Klärung, ob die Kläger bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan politische Verfolgung zu befürchten hätten. Das Urteil des VG Osnabrück vom 21.10.2002, in welchem wegen der gemischt-ethnischen Abstammung eine mittelbare staatliche Gruppenverfolgung angenommen wurde, wird daher geändert; die Klage wird auf die Berufung des BAMF in vollem Umfang abgewiesen.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Aserbaidschan, Armenien, Berg-Karabach, interner Schutz, inländische Fluchtalternative, Aseris, Vorverfolgung, Existenzgrundlage, Existenzminimum
Normen: AsylVfG § 3, AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 8
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sind im Fall der Kläger in Bezug auf Aserbaidschan nicht erfüllt, weil ihnen eine inländische Fluchtalternative in Berg-Karabach offen steht. Deshalb bedarf es keiner abschließenden Klärung, ob sie bei Rückkehr nach Aserbaidschan politische Verfolgung zu befürchten hätten. [...]

Der Senat hat schon früher angenommen, dass ethnischen Armeniern aus Aserbaidschan in Berg-Karabach eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht (vgl. etwa Beschluss vom 23.09.2002 - 13 LA 262/02 -). Gemessen an den vorstehend aufgeführten rechtlichen Maßstäben und nach Auswertung der aktuellen Erkenntnisse geht der Senat in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. OVG NRW, Urt. v. 17.11.2008 - 11 A 4395/04 - Juris; OVG Schleswig, Urteil v. 29.4.2009 - 1 LB 11/05 -) im Grundsatz weiterhin davon aus, dass für arbeitsfähige Personen in Berg-Karabach eine inländische Fluchtalternative besteht. Dies gilt - ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Aseris - für den Kläger zu 1 und seinen Sohn, den Kläger zu 3. Der Klägerin zu 2 als Ehefrau bzw. Mutter der Kläger zu 1 und 3 steht vor allem wegen ihrer Abstammung von einer armenischen Mutter und Herkunft aus einer gemischt nationalen Ehe in Berg-Karabach ebenfalls eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Deshalb kann im Ergebnis auch dahingestellt bleiben, ob die Kläger im Jahre 1988 vor ihrer Ausreise aus Aserbaidschan aufgrund der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen der Armenier und Aseris einer individuellen oder kollektiven Vorverfolgung ausgesetzt waren. Auch wenn eine Vorverfolgung gemäß Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie einen ernsthaften Hinweis darauf gibt, dass die Furcht vor erneuter Verfolgung begründet ist, und diese Beweiserleichterung in Form einer widerlegbaren Vermutung erkennbar diejenigen privilegieren soll, die in ihrem Heimatland tatsächlich bereits persönlich Verfolgung erfahren haben, weil sie diese entweder selbst erlitten haben oder von ihr unmittelbar bedroht waren (vgl. BVerwG Urt. v. 05.05.2009 - 10 C 21.08 - juris; BVerwG, Urt. v. 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55), sprechen im vorliegenden Fall jedoch stichhaltige Gründe dagegen, dass die Kläger erneut von Verfolgung durch Aseris bedroht wären. Das folgt aus dem Bestehen eines internen Schutzes in der ganz überwiegend von Armeniern bewohnten Region Berg-Karabach.

Zunächst ist Berg-Karabach bezogen auf den für die Staatsangehörigkeit der Kläger maßgeblichen Staat Aserbaidschan "Inland". Die "Republik" Berg-Karabach hat sich zwar für selbständig erklärt. Es ist jedoch nach wie vor davon auszugehen, dass Berg-Karabach kein eigenständiger Staat im Sinne des Völkerrechts, sondern noch immer Teil des aserbaidschanischen Staatsgebiets ist, auch wenn die aserbaidschanische Regierung in Baku seit dem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan (1992-1994) faktisch keine Kontrolle und Regierungsgewalt über dieses Gebiet ausüben kann. [...] Da Berg-Karabach weder durch Sezession noch durch Annexion von Armenien aus dem Staatsverband Aserbaidschans ausgeschieden ist, kann Berg-Karabach grundsätzlich noch eine inländische Fluchtalternative für Personen aus Aserbaidschan sein. Auch ein endgültiger Verlust der Gebietsherrschaft kann nach insoweit einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung nicht festgestellt werden (vgl. zuletzt OVG NRW, Urt. v. 17.11.2008 - 11 A 4395/04.A, Juris; OVG Thüringen, Urt. v. 28.02.2008 - 2 KO 899/03, Juris; BayVGH, Beschl. v. 21.2.2007 - 9 B 05.30123 -, Juris; Hessischer VGH, Beschl. v. 15.9.2005 - 3 UE 2380/04.A -, vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 29.05.2008 - 10 C 11.07 -, BVerwGE 131,186 ff; vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 28.09.2009 (Aserbaidschan), vom 11.08.2009 (Armenien), Auswärtiges Amt, Auskunft an den Hess. VGH v. 26.10.2009).

Die Kläger können das Gebiet von Berg-Karabach auch erreichen. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass des asylrechtlichen Schutzes nicht bedarf, wer bei einer Rückkehr in den Heimatstaat die sicheren Landesteile zwar nicht vom Inland, aber unmittelbar vom Ausland aus zu erreichen vermag. Dabei ist es in erster Linie Sache des Asylbewerbers, substantiiert Tatsachen vorzutragen, die ausnahmsweise eine Rückkehr in verfolgungssichere Teile seines Heimatstaates als unzumutbar erscheinen lassen können. Erst nach Überschreitung dieser Substantiierungsschwelle greift die Amtsermittlungsmaxime und die Gerichte haben den substantiierten Einwendungen nachzugehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.05.2008 - 10 C 11.07 -, BVerwGE 131,186 ff., Rn. 21). Gegen die Annahme der tatsächlichen Erreichbarkeit von Berg-Karabach haben die Kläger keine substantiierten Einwendungen erhoben. Im Übrigen besteht für sie nach der aktuellen Auskunftslage eine praktische und nicht nur theoretische Möglichkeit, in das Gebiet der Fluchtalternative zu gelangen. Eine Einreise nach Berg-Karabach ist seit Anfang der neunziger Jahre aus dem Ausland nur auf dem Landweg über die Republik Armenien möglich. Die Straßenverbindung zwischen der Republik Armenien und Berg-Karabach (hauptsächlich über den Latschin-Korridor) ist nicht mit regulären Grenzstellen zwischen unabhängigen Staaten zu vergleichen. Sie ähnelt eher einer Verkehrskontrolle, bei der stichprobenartige Kontrollen durchgeführt werden, so dass in der Praxis auch eine Einreise ohne Dokumente möglich ist. Der Flughafen Stepanakert ist für den normalen Flugbetrieb nicht geöffnet. Die Vertretung von Berg-Karabach in Eriwan stellt Ausländern Visa zur Einreise nach Berg-Karabach aus, auf Wunsch auch in Form eines Blattvisums (Lagebericht des Auswärtigen Amtes über Armenien mit Exkurs zu Berg-Karabach vom 11.08.2009). Für armenische Volkszugehörige aserbaidschanischer Staatsangehörigkeit besteht bei vorhandenem Einreisewillen grundsätzlich über Armenien die Möglichkeit, sich in Berg-Karabach anzusiedeln. Das hierfür erforderliche Einreisevisum und eine spezielle Aufenthaltsgenehmigung für Berg-Karabach (einschließlich eines notwendigen Passersatzes) kann bei der armenischen Botschaft in Berlin eingeholt werden. Die Notwendigkeit, zunächst in Armenien einen Antrag auf Flüchtlingsstatus, Asyl oder Erwerb der armenischen Staatsangehörigkeit zu stellen, besteht nicht (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 2.12.2005 an das OVG Schleswig und vom 26.10.2007 an das VG Stade; vgl. OVG Thüringen, Urteil vom 28.2.2008, a.a.O., Rn.136 ff.; OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 29.4.2009 - 1 LB 11/05 -). Auch wenn für Aseris ein Zuzug aus Aserbaidschan nach Berg-Karabach aufgrund der politischen Situation beider Staaten noch nicht wieder gegeben sein sollte (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 15.09.2008 an das BMFl.), sind Anhaltspunkte dafür, dass diese Möglichkeit für die Klägerin zu 2 als Asylbewerberin aus Deutschland und Tochter einer armenischen Volkszugehörigen, die ihre gemischt nationale Abstammung durch ihre Geburtsurkunde belegen kann, nicht eröffnet oder unzumutbar sein könnte, weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Dies gilt auch für ihren Sohn (Kläger zu 3) und ihren Ehemann (Kläger zu 1). Nach der Auskunft des Transkaukasus-Instituts vom 18. Oktober 2005 für das OVG Mecklenburg-Vorpommern sind Staatsangehörige der Republik Aserbaidschan zwar keine für die Einreise nach Berg-Karabach bevorrechtigten Ausländer, selbst dann nicht, wenn sie amtlich nach dem Recht der Republik Aserbaidschan oder nach eigener Zuordnung armenische Volkszugehörige sind. Die Volkszugehörigkeit desjenigen, der nach Berg-Karabach einreisen will, soll danach unerheblich sein. Auch Staatsangehörige der Republik Aserbaidschan mit aserbaidschanischer und anderer Volkszugehörigkeit seien bereits früher nach Berg-Karabach eingereist (TKI vom 18.10.2005, Seite 14). Dem Auswärtigen Amt haben nach einer Auskunft vom 6. April 2005 an den Hessischen VGH ebenfalls keine Anhaltspunkte darüber vorgelegen, dass armenisch-aserbaidschanische Familien nicht nach Berg-Karabach einreisen konnten, auch wenn eine aserbaidschanische Abstammung eines Ehepartners oder Elternteils bekannt werden sollte. Die Mehrheit der Bewohner der Region Berg-Karabach stamme aus Familien, die früher im Kerngebiet von Aserbaidschan gelebt hätten. Deshalb hätten viele der Bewohner von Berg-Karabach einen aserischen Hintergrund und seien nicht ausschließlich armenischer Abstammung. In Berg-Karabach seien armenisch-aserbaidschanische Mischehen/Familien bekannt. Offizielle statistische Angaben gebe es jedoch nicht. Nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes werde versucht, Personen in Berg-Karabach mit staatlicher Unterstützung durch Zuweisung von Wohnraum, Grundstücken, Gewährung von Steuerbefreiungen und humanitären Hilfsgütern anzusiedeln. Für diese Personen würden auch einmalige finanzielle Mittel für Familien zur Verfügung gestellt. Inzwischen siedelten sich Einzelpersonen und Familien aus den früheren GUS-Staaten auch ohne armenische Volkszugehörigkeit in Berg-Karabach an. Verlangt werde lediglich das Bekenntnis zu einem unabhängigen Berg-Karabach. Dort sei Russisch inoffizielle Amts- und Umgangssprache. In Anbetracht dieser Umstände ist der Senat der Auffassung, dass Berg-Karabach als Ort der inländischen Fluchtalternative für die Kläger vor allem in Anbetracht der zum Teil gemischt-nationalen Herkunft der Klägerin zu 2 und ihres vor der Ausreise aus Aserbaidschan im Jahre 1988 erlittenen Verfolgungsschicksals ernsthaft in Frage kommt sowie tatsächlich und in zumutbarer Weise über Armenien auch erreichbar ist.

Für die Kläger besteht im Bereich der inländischen Fluchtalternative nach dem herabgestuften Prognosemaßstab bei unterstellter Vorverfolgung und nach dem Maßstab des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie keine begründete Furcht vor erneuter Verfolgung. Hierzu hat das Auswärtige Amt bereits in seiner Auskunft vom 23. Mai 2002 (an das VG Schleswig) mitgeteilt, es lägen weder Erkenntnisse darüber vor, dass Personen nichtkarabachischer Herkunft durch die Bevölkerung oder die Verwaltungsbehörden Berg-Karabachs benachteiligt würden. Auch gebe es keine Hinweise dafür, dass Personen aus armenisch-aserbaidschanischen Mischehen oder deren Abkömmlinge (halbaserbaidschanischer Herkunft) dort nicht ungestört leben könnten. [...]

Eine Ausweichmöglichkeit nach Berg-Karabach scheidet schließlich auch nicht wegen einer etwaigen Gefährdung des wirtschaftlichen Existenzminimums aus. Vielmehr geht der Senat davon aus, dass von den Klägern vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in diesem Landesteil Aserbaidschans aufzuhalten. Unter Berücksichtigung der Gegebenheiten in Berg-Karabach sowie der persönlichen Umstände der Kläger wird dort jedenfalls das Existenzminimum gewährleistet sein. [...]

Nach Auswertung der aktuellen Erkenntnisse wird die wirtschaftliche Situation in Berg-Karabach gegenüber der in der Republik Armenien als überlegen eingeschätzt. Der Lebensstandard entspricht in etwa dem in den unabhängigen Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Die "Regierung" von Berg-Karabach steht - wie bereits erwähnt - einer Zuwanderung positiv gegenüber; sie strebt eine Zunahme der Bevölkerung von jetzt ca. 145.000 auf 300.000 Personen an und hat "Rückwanderungs"-Unterstützungsprogramme für bestimmte ländliche Regionen aufgelegt. Es herrscht ein Mangel an Arbeitskräften. Für arbeitsfähige Personen werden die Aussichten, das wirtschaftliche Existenzminimum zu erreichen, als gut beurteilt. Neuankömmlingen werde durch die lokale Verwaltung unentgeltlich Wohnraum zur Verfügung gestellt, bei der Arbeitssuche würden sie unterstützt. Die "Regierung" vergibt zinslose Darlehen zum Aufbau landwirtschaftlicher Betriebe (Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Armenien) vom 11.08.2009, Auskünfte vom 06.04.2005 an Hessischen VGH, vom 15.01.2008 an das VG Düsseldorf). Danach kann entgegen der insoweit durch neuere Erkenntnisse überholten Einschätzung des Transkaukasus-Instituts vom 16. April 2005 mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die grundsätzlich arbeitsfähigen Kläger nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten eine Beschäftigung erlangen und ihr Existenzminimum werden sicherstellen können. Im Übrigen gelten Rückkehrer aus Deutschland nicht als mittellos, sondern sind im Vergleich zur ortsansässigen Bevölkerung wirtschaftlich besser gestellt. Selbst wenn davon auszugehen wäre, dass nur die/der Kläger zu 1 und/oder zu 3 eine Arbeitsstelle finden sollte(n), reichte dies aus, um auch das Existenzminimum der übrigen Familie sicherzustellen. [...]