VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 23.04.2010 - 13 K 1651/09.A - asyl.net: M17027
https://www.asyl.net/rsdb/M17027
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Verfolgungsgefahr im Irak durch Al-Badr-Brigaden.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Irak, nichtstaatliche Verfolgung, Al-Badr-Brigaden, Qualifikationsrichtlinie
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Liegt eine solche Bedrohung vor, wird dem Ausländer nach Satz 6 der Vorschrift die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Anders als bei der Anerkennung als Asylberechtigter muss die Bedrohung hier nicht vom Staat oder einer staatsähnlichen Organisation ausgehen; Verfolgung ist vielmehr auch gegeben, wenn sie - unter näher bezeichneten Voraussetzungen - von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG. Gemäß dem nachfolgenden Satz 5 ist für die Feststellung des Vorliegens einer Verfolgung ergänzend auf die einschlägigen Regelungen der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004) zurückzugreifen.

Da die Anerkennung als Flüchtling auf der Vorstellung von der Zumutbarkeit der Rückkehr ins und des Aufenthalts im Heimatland beruht, ist maßgeblich einzustellen, ob der Betreffende sein Heimatland verfolgt oder unverfolgt verlassen hat. Im ersten Fall bedarf es für die Zuerkennung der Flüchtlingsstatus nur der Feststellung, dass für den Betreffenden keine hinreichende Sicherheit vor erneuter, vergleichbarer Verfolgung besteht. Andernfalls ist die Feststellung erforderlich, dass Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (so: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 19. Juni 2008 - 20 A 4676/06.A -, unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Bedeutung einer Vorverfolgung für den heranzuziehenden Prüfungsmaßstab; vgl. auch: Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, Urteil vom 20. Mai 2008 - A 10 S 72/08 -, JURIS, Rdnr. 122 ff. des JURIS-Abdrucks, wonach der von der Rechtsprechung entwickelte Maßstab der "hinreichenden Sicherheit" bei vorverfolgt ausgereisten Flüchtlingen durch die Qualifikationsrichtlinie "modifiziert" werde.

Der Kläger hat dem Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung die Überzeugungsgewissheit vermitteln können, dass er seine Heimat in diesem Sinne vorverfolgt verlassen hat. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger im Irak in das Blickfeld der Al-Badr-Brigaden geraten ist und ungeschützt den Nachstellungen dieser - dem irakischen Staat nicht zuzurechnenden - Einheiten ausgesetzt war und den Irak - ohne eine zumutbare inländische Fluchtalternative zu haben - aus diesem Grunde verlassen hat. Soweit das Bundesamt zur Begründung der Ablehnung des Antrages des Klägers (unter anderem) darauf hingewiesen hat, dass der Kläger zwar durchaus umfangreiche und detaillierte Angaben zu dem angeblichen Geschehen gemacht habe, sich daraus jedoch insgesamt eine Schilderung von Ereignissen ergeben habe, die konstruiert und wirklichkeitsfremd, mithin unwahrscheinlich und deswegen unglaubhaft erscheine, kann das erkennende Gericht diese Annahme des Bundesamtes aufgrund des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung nicht (mehr) teilen. Dieser hat dem erkennenden Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung vielmehr die Überzeugungsgewissheit darüber vermitteln können, dass er - wie geschildert - seine Heimat verlassen hat. Er hat damit sein Heimatland unter dem Druck erlittener oder unmittelbar bevorstehender schwerwiegender Übergriffe - vgl. zu diesem Kriterium: OVG NRW, a.a.O. - verlassen. Insbesondere auf Grund des im Rahmen der mündlichen Verhandlung Geschilderten, das im Wesentlichen mit der Schilderung vor dem Bundesamt übereinstimmt, ist davon auszugehen, dass der Kläger landesweit in eine ausweglose Lage geraten war. Damit steht hier zwar keine staatliche Verfolgung in Rede, jedoch ist auch die nichtstaatliche Verfolgung durch Privatpersonen dem Staat dann zuzurechnen, wenn der Staat - wie die Kammer vorliegend annimmt - nicht willens oder in der Lage ist, Schutz zu bieten. Unter Berücksichtigung der Vorverfolgung des Klägers kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak unverfolgt bleibt. [...]