VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 04.05.2010 - 4 V 105/10 - asyl.net: M17064
https://www.asyl.net/rsdb/M17064
Leitsatz:

Zum Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern bei selbständiger Erwerbstätigkeit.

Schlagwörter: Unionsbürger, Aufenthaltsrecht, freizügigkeitsberechtigt, Feststellungsbescheid, Bulgarien, selbständige Erwerbstätigkeit, Hilfe zum Lebensunterhalt, vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, Niederlassungsfreiheit, Schutz von Ehe und Familie, tatsächlicher Schulbesuch
Normen: FreizügG/EU § 5 Abs. 1, GewO § 14 Abs. 1 S. 1, FreizügG/EU § 7 Abs. 1 S. 1, VwGO § 80 Abs. 5, AEUV Art. 49, FreizügG/EU § 2 Abs. 2, FreizügG/EU § 3
Auszüge:

[...]

Die Antragstellerinnen wenden sich im vorliegenden Eilverfahren gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Feststellung des Nichtbestehens ihrer Freizügigkeitsberechtigung sowie der Androhung ihrer Abschiebung. [...]

a) Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin zu 1. gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist im Hinblick auf die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit begründet. [...]

Die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeitsberechtigung der Antragstellerin zu 1 als selbstständige Erwerbstätige gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU erweist sich weder als offensichtlich rechtswidrig noch als offensichtlich rechtmäßig. Die von den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache unabhängige Interessenabwägung ergibt indes ein überwiegendes Aussetzungsinteresse der Antragstellerin zu 1. gegenüber dem Vollziehungsinteresse der Behörde.

Freizügigkeitsberechtigt gem. § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ist ein Unionsbürger, der zur Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit berechtigt ist.

Die Vorschrift des § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ist unionsrechtskonform auszulegen. Die Freizügigkeitsberechtigung von selbstständigen Erwerbstätigen stellt eine Konkretisierung des Freizügigkeitsrechts der primärrechtlich verbrieften Niederlassungsfreiheit aus Art. 49 AEUV (ex-Art. 43 EGV) dar. Nach der Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit ist der Begriff der Niederlassung weit auszulegen (EuGH, Urt. v. 07.09.2006, Rs. C-470/04, Almelo). Der Begriff wird als tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit definiert (EuGH, Urt. v. 25.07.1991, Rs. C-221/89, Factortame).

Hieraus ergeben sich drei Gesichtspunkte. In zeitlicher Hinsicht muss die Tätigkeit "auf unbestimmte Dauer" angelegt sein, in örtlicher Hinsicht muss es sich um eine "feste Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat" handeln und in qualitativer Hinsicht muss es sich um "eine wirtschaftliche Tätigkeit" handeln, die "tatsächlich" ausgeübt wird.

Dass die Antragstellerin zu 1. ihr Gewerbe auf unbestimmte Zeit und mittels einer festen Einrichtung in einem Mitgliedstaat, nämlich der Ansässigkeit in Bremen, auszuüben gedenkt bzw. ausübt, steht vorliegend außer Zweifel.

Offen erscheint indes, ob es sich um eine wirtschaftliche Tätigkeit handelt, die tatsächlich ausgeübt wird. Eine Tätigkeit ist dann eine wirtschaftliche im Sinne des Art. 49 AEUV, wenn zumindest auch ein Erwerbszweck verfolgt wird. Entscheidend hierfür sind die Entgeltlichkeit der Tätigkeit sowie die Teilnahme am Wirtschaftsleben. Keine Voraussetzung ist es, dass das erzielte Einkommen eine bestimmte Größenordnung erreicht (Böhmer in: Callies/Ruffert, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 3. Auflage, Art. 43 EGV, Rn. 11). Die Niederlassungsfreiheit kann nicht von dem wirtschaftlichen Erfolg der Tätigkeit abhängig gemacht werden, insbesondere ist nicht erforderlich, dass ein Erlös erwirtschaftet wird, der zur Deckung des Lebensunterhalts ausreicht (Randzelhofer/Forsthaff in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 43, Rn. 17, 38. EL-2009). Es ist grundsätzlich nicht einmal erforderlich, dass mit der Tätigkeit tatsächlich ein Gewinn erzielt wird (Schlag in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 43 EGV Rn. 18 und 22 m.w.N.).

Allerdings liegt nur dann eine schätzenswerte selbstständige Tätigkeit vor, wenn die Tätigkeit auch tatsächlich ausgeübt wird. Die Niederlassungsfreiheit soll nicht durch eine nur zum Schein bestehende Niederlassung erschlichen werden können. Es ist daher im Einzelfall zu untersuchen, ob die von der Niederlassung ausgehenden Tätigkeiten so marginal sind, dass es an einer Niederlassung fehlt (Randzelhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 43, Rn. 21, EL-2009). Es muss eine wirtschaftlich relevante Tätigkeit ausgeübt werden; völlig untergeordnete, unwesentliche Tätigkeiten werden nicht begünstigt (OVG NRW, Beschl. v. 03.11.1995, 18 B 815/94; GK-AufenthG/Epe, § 2 FreizügG/EU Rn. 74).

Abstrakte Kriterien für die Frage, ob es sich um eine ausreichende selbstständige Tätigkeit handelt, gibt es nicht (Randzelhofer/Forsthoff in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 43, Rn. 17, 38. EL-2009). Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin erscheint die Übertragung der zur Frage der ausreichenden Erwerbstätigkeit von Arbeitnehmern (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU) ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs allerdings als ungeeignetes Kriterium für die Frage einer ausreichenden tatsächlichen selbstständigen Tätigkeit. Denn im Bereich der selbstständigen Tätigkeit ist es nicht ungewöhnlich, dass häufig - gerade zu Beginn einer solchen Tätigkeit - kein oder nur ein marginaler Gewinn erzielt wird. Es würde dem Sinn der Niederlassungsfreiheit widersprechen, den Unionsbürgern, die sich in einem Land der Europäischen Union eine Niederlassung aufbauen wollen, angesichts des (noch) fehlenden Gewinns die Niederlassungsfreiheit abzusprechen. Dementsprechend ist eine tatsächliche Gewinnerzielung gerade nicht Voraussetzung für das Bestehen der Niederlassungsfreiheit (s.o.).

Nach Überzeugung der Kammer ist zur Beurteilung der Frage, ob eine tatsächliche selbstständige Tätigkeit vorliegt, vielmehr auf die gesamten Umstände des Falles abzustellen. Dabei sind insbesondere die Art und der tatsächliche Umfang der Tätigkeit sowie die betriebliche Organisation ins Blickfeld zu nehmen. Auch weitere Umstände, wie etwa der Weg der Kundenrekrutierung, sind zu berücksichtigen. Die Höhe des Umsatzes und eines eventuellen Gewinns stellen danach nur einen von vielen Gesichtspunkten dar, die bei der umfassenden Beurteilung zu berücksichtigen sind. [...]

Die Antragstellerin zu 2. ist möglicherweise freizügigkeitsberechtigt im Sinne der §§ 2 Abs. 2 Nr. 6, 3 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU, da die Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit der Antragstellerin zu 2. gegebenenfalls rechtswidrig ist (s.o.). Bei der Antragstellerin zu 2. würde es sich dann um eine Familienangehörige der Antragstellerin zu 1. gern. § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU handeln. Das Freizügigkeitsrecht der Antragstellerin zu 2. bestünde sodann unbeschadet der Tatsache, dass sie über keine ausreichenden Existenzmittel im Sinne des § 4 S. 1 FreizügG/EU verfügt. Denn gem. § 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU findet die Vorschrift des § 4 FreizügG/EU nur auf Familienangehörige von nicht erwerbstätigen Unionsbürgern (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 Freizüge/EU) Anwendung. Die Antragstellerin zu 2. wäre jedoch Tochter einer Freizügigkeitsberechtigten im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU, da ihre Mutter selbstständige Erwerbstätige im Sinne dieser Vorschrift wäre.

Entsprechend der Ausführungen zur Kindesmutter überwiegt auch bei der Antragstellerin zu 2., deren Freizügigkeitsrecht im Wesentlichen von dem Bestehen des Freizügigkeitsrechts der Antragstellerin zu 1. abhängig ist, das Aussetzungsinteresse gegenüber dem Vollziehungsinteresse der Antragsgegnerin. Insoweit wird auf die Ausführungen unter a. Bezug genommen.

Eine Entscheidung darüber, ob die Antragstellerin zu 2. infolge ihres Schulbesuchs freizügigkeitsberechtigt ist, kann dahinstehen, da die aufschiebende Wirkung bereits aus anderen Gründen wiederherzustellen ist. [...]