VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Urteil vom 14.01.2010 - A 5 K 226/06 - asyl.net: M17092
https://www.asyl.net/rsdb/M17092
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen exilpolitischer Betätigung (massive Kritik an der iranischen Regierung und deren Vertretern im Internet).

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Iran, Exilpolitik, Nachfluchtgründe, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1a
Auszüge:

[...]

Die auf Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG gerichtete Klage hat Erfolg, da der Kläger als politisch Verfolgter im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist. [...]

Gemessen an diesen Anforderungen droht dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran politische Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger, wie von ihm geltend gemacht, den Iran politisch vorverfolgt verlassen hat. Jedenfalls ist in seinem Fall nunmehr ein relevanter Nachfluchtgrund im Sinne des § 60 Abs. 1, 1a AufenthG gegeben.

Im vorliegenden Fall vermögen die exilpolitischen Nachfluchtaktivitäten des Klägers einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu begründen. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in den Iran aufgrund seiner exilpolitischen Tätigkeit nach Überzeugung des Gerichts gegenwärtig mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.

Unverfolgt ausgereiste und zurückkehrende iranische Asylbewerber sind grundsätzlich, sofern in ihrer Person keine Besonderheiten vorliegen, bei ihrer Einreise in den Iran hinreichend sicher davor, an der Grenze oder auf dem Flughafen asylrelevanten staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein. Das Gericht geht davon aus, dass zurückkehrende iranische Asylbewerber nicht routinemäßig, das heißt ohne Vorliegen von Besonderheiten, allein aufgrund eines längeren Auslandsaufenthaltes und einer Asylantragstellung bei der Wiedereinreise für eine längere Zeit inhaftiert und asylerheblichen Misshandlungen oder Folter ausgesetzt werden. Die bekannt gewordenen und zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel geben dem Gericht Anlass zu dieser Einschätzung (vgl. insbesondere: Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 02.06.2003, 03.03.2004, 22.12.2004, 29.08.2005, 24.03.2006, 04.07.2007, 18.03.2008, 23.02.2009 und 19.11.2009).

Bei dem Kläger liegen jedoch Besonderheiten wegen seiner exilpolitischen Tätigkeit im Bundesgebiet vor. Das Gericht geht davon aus, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit der Kläger aufgrund seiner entfalteten exilpolitischen Aktivitäten der iranischen Auslandsaufklärung bekannt geworden ist und seine Aktivitäten bei einer Rückkehr in den Iran ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG begründende Verfolgungsmaßnahmen auslösen werden.

Nach der aktuellen Erkenntnislage (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19.11.2009) ist davon auszugehen, dass wegen exilpolitischer Betätigung bei einer Rückkehr in den Iran in erster Linie besonders exponierten Personen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung drohen kann. Die iranischen Sicherheitsbehörden sind grundsätzlich jedoch an allen separatistischen und anderen als staatsgefährdend bewerteten Bestrebungen und Aktivitäten iranischer Kreise in der Bundesrepublik Deutschland interessiert. Die iranischen Sicherheitskräfte und der iranische Geheimdienst verfügen in der Bundesrepublik Deutschland sowohl innerhalb als auch außerhalb der diplomatischen Vertretungen des Iran über ein Netz von Mitarbeitern, die staatsschutzrelevante Aktivitäten aufmerksam beobachten, überwachen und registrieren. Ebenso wird von den iranischen Sicherheitsstellen die Berichterstattung deutscher und anderer Medien über oppositionelle Aktivitäten in Deutschland verfolgt und ausgewertet. Das Interesse des iranischen Staates wird darauf gerichtet sein, oppositionelle Gruppen zu zerschlagen, sie jedenfalls zu verunsichern und gegen als gefährlich erkannte exponierte Personen vorzugehen und deshalb Informationen über an exponierter Stelle auftretende und agierende Wortführer und sonst in der Öffentlichkeit bekannt gewordene Kritiker der Verhältnisse im Iran zu erhalten. Es ist nahe liegend und plausibel, dass die iranischen Stellen Ermittlungen zur Identifizierung von Teilnehmern an oppositionellen Veranstaltungen, wie etwa Demonstrationen, Hungerstreiks und ähnlichen Protestaktionen, insbesondere dann anstellen, wenn sie dies im Hinblick auf das politische Gewicht der Aktivität für lohnend halten und deshalb ein Ermittlungsinteresse besteht. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass solche Personen in das Blickfeld der iranischen Sicherheitskräfte geraten, die sich durch ihre Funktion oder ihr Auftreten besonders exponiert gegen den iranischen Staat hervorgetan haben oder in verantwortungsvoller Position einer Exilorganisation angehören.

In diesem Zusammenhang ist weiterhin zu berücksichtigen, dass die Ereignisse rund um die Präsidentschaftswahl am 12.06.2009 das politische System im Iran in eine schwere Krise gestürzt haben, deren Ausgang trotz der Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse nicht abzusehen ist. Ein Umsturz des bestehenden Systems erscheint angesichts der militärisch wie wirtschaftlich gefestigten Stellung der Revolutionsgarden und paramilitärischen Truppen (Bassidji) allerdings weiterhin unwahrscheinlich. Scharfe verbale Attacken gegen das westliche Ausland dienen seit der Präsidentschaftswahl vor allem der innenpolitischen Rechtfertigung für die gewaltsame Niederschlagung der Protestbewegung, die nach staatlicher Darstellung durch ausländische Interessen gesteuert wurde und einen Regimewechsel zum Ziel hatte. Künstlerische, intellektuelle und zivilgesellschaftliche Freiräume wurden nach den Wahlen deutlich eingeschränkt. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der islamischen Republik Iran als solches - insbesondere das Prinzip der "Herrschaft des Rechtsgelehrten" - richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können wegen Spionage belangt werden. Insbesondere seit den Wahlen richten sich solche Spionagevorwürfe auch gegen Personen, die Bildmaterial zu den Protesten gesammelt und/oder weitergegeben hatten. Öffentliche Kritik darf eine nach den Präsidentschaftswahlen zunehmend enger gezogene Grenze nicht mehr überschreiten. Inzwischen kann jede öffentliche Äußerung, die die Regierung auf irgendeine Art angreifbar machen könnte, Repressionen zur Folge haben. Dabei gerät das Internet immer mehr in den Fokus der staatlichen Zensur. Wird eine unerwünschte Webseite im Iran verwaltet, strebt die Zensur regelmäßig ein Verbot an. Wird sie im Ausland verwaltet, bleibt als Maßnahme nur die Sperrung/Filterung. Insgesamt sollen bislang über 10 Millionen Seiten gesperrt worden sein. Im ersten Halbjahr 2008 kam es zum Verbot mehrerer populärer Webblogs von teilweise prominenten Autoren. Eine Weisung, dass solche Verbote nur durch Beschluss von Gerichten möglich sein sollen, wird in der Praxis häufig nicht angewendet. Im März 2009 verstarb der zu 30 Monaten Haft verurteilte Blogger Omid Mirsajafi im Gefängnis in Teheran. Die Behörden hatten ihm vorgeworfen, in seinem Blog den herrschenden Klerus beleidigt zu haben. Die iranischen Behörden gehen bei diesem Todesfall von Selbstmord aus. Eine Ausweitung der Strafbarkeit auf bestimmte Handlungen im Internet ist mit dem Erlass eines Gesetzes gegen Cyberkriminalität im Juli 2009 erfolgt. Insbesondere fällt "jede Verbreitung von Propaganda gegen die Staatsordnung" darunter.

Diese jüngsten innenpolitischen Entwicklungen im Iran sind bei der Würdigung exilpolitischer Tätigkeiten von Exiliranern mit in den Blick zu nehmen, da sie zumindest tendenziell auch eine "Verschärfung" der Sichtweise iranischer Stellen in Bezug auf das Exilverhalten von Auslandsiraner implizieren dürften, auch wenn dem Auswärtigen Amt bislang (noch) keine Erkenntnisse darüber vorliegen, dass der Auslandsnachrichtendienst im Nachgang zur Wahl 2009 zusätzliche Aktivitäten betreffend die Opposition im Ausland entwickelt hat, wobei das Auswärtige Amt aber davon ausgeht, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit Anweisungen an die jeweiligen iranischen Botschaften im Ausland gab, Protestkundgebungen zu beobachten und zu dokumentieren.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und Erkenntnisse sind nach Überzeugung des Gerichts die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers geeignet, eine Rückkehrgefährdung des Klägers mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auszulösen. In Ansehung der Art und des Inhalts der von dem Kläger inhaltlich gepflegten Internetseiten ist davon auszugehen, dass die iranischen Sicherheitskräfte an ihm ein ernsthaftes Verfolgungsinteresse haben könnten. Da der Kläger auf seinen Internetseiten teilweise mit Lichtbild, vollem Namen und mit Geburtsdatum als Verfasser der regimegegnerischen Inhalte in Erscheinung tritt, ist insbesondere davon auszugehen, dass er durch seine Aktivitäten dem iranischen Geheimdienst namentlich bekannt geworden ist und dessen Aufmerksamkeit erlangt hat und dadurch in dessen Blickfeld geraten ist. Die auf den Internetseiten zum Ausdruck kommende massive Kritik gegen das iranische Regime und die eindeutigen Angriffe gegen dessen Vertreter dürften aller Voraussicht nach geeignet sein, den Kläger seitens der iranischen Stellen als gefährlichen und von daher als ernst zu nehmenden Regimegegner anzusehen. Mit den Internetinhalten, für die der Kläger verantwortlich zeichnet, dürfte er eindeutig die Schwelle des bei Auslandsaktivitäten von Exiliranern aus iranischer Sicht noch Hinnehmbaren überschritten haben. Das Gericht ist davon überzeugt, dass das Exilverhalten des Klägers ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates erwarten lässt. Es ist demzufolge zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit relevanten Repressalien ausgesetzt sein wird. Bei einer Rückkehr in den Iran müsste er aller Voraussicht nach mit einer Festnahme und damit einhergehender menschenrechtswidriger Behandlung rechnen. [...]