VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 17.05.2010 - A 11 K 682/08 [= ASYLMAGAZIN 2010., S. 252 f.] - asyl.net: M17104
https://www.asyl.net/rsdb/M17104
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung einer vorverfolgten alleinstehenden 50-jährigen Tschetschenin. Insbesondere besteht keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in der Russischen Förderation wegen Problematik der Registrierung für Personen aus dem Nordkaukasus.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Russische Föderation, Tschetschenien, Vorverfolgung, interne Fluchtalternative, Existenzgrundlage, Zumutbarkeit, Registrierung, Inlandspass, Wohnraumerfordernis, Kaukasier, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4, AsylVfG § 3, RL 2004/83/EG Art. 8
Auszüge:

[...]

Der Klägerin steht ein Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1 AufenthG und damit auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG zu. [...]

Aufgrund des Eindrucks, den das Gericht von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, kann der Klägerin die behauptete individuelle Verfolgung als glaubhaft abgenommen werden. Dies kann das Gericht auch ohne Inanspruchnahme eines Sachverständigen für Aussagepsychologie beurteilen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.07.2001 - 1 B 118/01 -, DVBl 2002, 53).

Die Klägerin schilderte übereinstimmend mit ihren Angaben bei der Anhörung vor dem Bundesamt, sie habe zwei Söhne, ihre Eltern lebten nicht mehr, wobei ihr Vater 1996 erschossen worden sei. Sie selbst sei eines von sechs Kindern gewesen, sie habe noch drei Brüder und zwei Schwestern gehabt. Ihr jüngerer Bruder ... sei am 03.12.2006 gestorben (beim Bundesamt wurde statt dessen das Jahr 1996 genannt), nachdem er zusammengeschlagen worden sei. Am 17. Januar 2006 oder 2007 (beim Bundesamt wurde 2006 angegeben) seien ihr älterer Bruder ..., dessen Ehefrau sowie sie selbst entführt worden. Die Entführer hätten nicht näher bestimmbare Uniformen getragen und Waffen oder Geld verlangt (im Protokoll des Bundesamts ist von Gewehren die Rede). Sie seien fünf Tage an einem dunklen Ort festgehalten und anschließend an abgelegener Stelle in einem Wald ausgesetzt worden. Die Entführer hätten sie auch auf den Kopf geschlagen. Dabei sei eine Art Baseball-Schläger verwendet worden (Angabe beim Bundesamt: Schlagstöcke). Sie hätten Russisch gesprochen (Angabe beim Bundesamt: Russisch und Tschetschenisch). Nach der Freilassung hätten sie das Haus des Bruders aufgesucht und Geld verlangt, worauf ihnen 1.000 Dollar oder Euro (Aussage beim Bundesamt: Dollar) ausgehändigt worden seien. Sie sei von zu Hause weggegangen und habe bis zu ihrer Ausreise in einer Hausruine in Grosny gelebt, wo sie von ihrer Schwester mit Lebensmitteln versorgt worden sei (beim Bundesamt: keine Fragen und keine Angaben zum Aufenthaltsort bis zur Ausreise). Das Kerngeschehen, eine fünftägige Entführung durch uniformierte Männer, die sie gemeinsam mit ihrem Bruder und ihrer Schwägerin beginnend am 17. Januar (2006 oder 2007) erlitten habe, wurde danach schlüssig ohne Brüche, Widersprüche oder Steigerungen gegenüber den Angaben bei der Anhörung vor dem Bundesamt wiedergegeben. [...] Es kann dahinstehen, ob die Schwierigkeiten beim Benennen mancher Daten auf Gesundheitsschäden infolge von Misshandlungen zurückgehen, wie die Klägerin meint (vgl. zu einem gesteigerten Beweisnotstand infolge psychischer Erkrankung Thür. OVG, Urteil vom 25.09.2003 - 3 KO 851/99 -, NVwZ-RR 2004, 455). Jedenfalls lassen diese Ungereimtheiten im Vortrag der Klägerin nach Auffassung des Gerichts nicht den Schluss darauf zu, dass sich die Klägerin das geschilderte Schicksal ausgedacht hat. [...]

Zwar ist nicht ersichtlich, ob es sich um eine dem Staat zuzurechnende oder um eine von nichtstaatlichen Akteuren ausgehende Verfolgung handelt, doch kann dies auch dahinstehen. Eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 kann - wie bereits dargestellt - ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Ein Fall jedenfalls des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG liegt zur Überzeugung des Gerichts hier vor. Zur Situation in Tschetschenien heißt es im Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Lagebericht vom 04.04.2010, Stand Februar 2010, S. 18 ff.; insoweit gleichlautend der vorangegangene Lagebericht vom 30.07.2009, Stand Juni 2009):

"Im Nordkaukasus finden die schwersten Menschenrechtsverletzungen in der Russischen Föderation statt. Hierzu sind seit 2005 zahlreiche Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen Russland ergangen, der insbesondere Verstöße gegen das Recht auf Leben festgestellt hat. Glaubwürdigen Berichten von NROs, internationalen Organisationen und der Presse zufolge haben sich auch nach dem von offizieller Seite festgestellten Abschluss des "politischen Prozesses" zur Überwindung des Tschetschenienkonflikts dort erhebliche Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung fortgesetzt. (...) Nach glaubhaften Angaben von Menschenrechts-NROs haben die Behörden in einigen Fällen mit dem Abbrennen der Wohnhäuser der Familien von Personen, die sich den Rebellen angeschlossen haben, reagiert. Wieder angestiegen sind auch die Entführungszahlen: Memorial hat für die erste Jahreshälfte 2009 74 Entführungsfälle registriert (Gesamtjahr 2008: 42). Die Entführungen werden größtenteils den (v.a. republikinternen) Sicherheitskräften zugeschrieben. Weiterhin werden zahlreiche Fälle von Folter gemeldet. Unter Anwendung von Folter erlangte Geständnisse werden nach belastbaren Erkenntnissen von Memorial - auch außerhalb Tschetscheniens - regelmäßig in Gerichtsverfahren als Grundlage von Verurteilungen genutzt. (...) Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Bisher gibt es nur sehr wenige Verurteilungen. (...)"

Ausgehend von diesem Befund ist es aussichtslos, der Klägerin jedenfalls unzumutbar, sich wegen der stattgefundenen Entführung und Bedrohung an staatliche Stellen in Tschetschenien zu wenden. Werden die immer wieder vorkommenden Entführungen in Tschetschenien von Nichtregierungsorganisationen, die sich dieser Problematik annehmen, glaubhaft größtenteils den Sicherheitskräften zugeschrieben, so kommt für ein Entführungsopfer die Anrufung eben jener Sicherheitskräfte nicht als erfolgversprechend in Betracht. Die Klägerin ist ihren Verfolgern gegenüber tatsächlich schutzlos (vgl. Treiber, in: GK AufenthG, § 60 Rn. 133 ff.). Die Verfolger sind gruppenmäßig organisiert, so dass es nicht darauf ankommt, ob eine Verfolgung auch von einer losen Vereinigung oder einzelnen Personen ausgehen könnte (vgl. dazu Treiber, a.a.O.).

Die Bejahung einer Vorverfolgung setzt regelmäßig voraus, dass der Ausländer seinen Heimatstaat in nahem zeitlichem Zusammenhang mit einer erlittenen Verfolgung verlassen hat (vgl. BVerwG vom 20.11.1990, BVerwGE 87, 141 147>; BVerwG vom 25.7.2000, BVerwGE 111, 334 337>). Hiervon ist im Fall der Klägerin auszugehen. Vom Zeitpunkt der Entführung (Januar 2007) bis zum Verlassen des Staatsgebietes der Russischen Föderation (November 2007) vergingen zwar fast zehn Monate. Diese Zeit verbrachte die Klägerin aber nicht etwa deshalb noch in ihrem Heimatland, weil die Verfolgung zwischenzeitlich geendet hatte. Vielmehr war die Klägerin der von den Entführern ausgesprochenen Bedrohung weiterhin ausgesetzt. Sie befand sich bis zu ihrer Ausreise in einem Versteck oder auf der Flucht, so dass der Verfolgungszusammenhang nicht unterbrochen wurde. [...]

Für die Klägerin besteht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative auf dem Gebiet der Russischen Föderation. Das Bundesverwaltungsgericht hat zu der früheren Rechtslage in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Voraussetzungen des Asylgrundrechts und der Flüchtlingsanerkennung deckungsgleich sind, soweit unter anderem auf eine landesweite Verfolgung abgestellt wird, weil des Schutzes vor politischer Verfolgung im Ausland nicht bedarf, wer den gebotenen Schutz vor ihr auch im eigenen Land finden kann. Deshalb wurde sowohl bei Art. 16a GG als auch bei § 60 Abs. 1 AufenthG (bzw. der Vorläuferregelung des § 51 Abs. 1 AusIG 1990) geprüft, ob der Betreffende im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative anderen existentiellen Bedrohungen ausgesetzt sein wird, die so am Herkunftsort nicht bestehen. Das Bundesverwaltungsgericht hält indes in seiner neueren Rechtsprechung hinsichtlich des Prüfungsmaßstabs des § 60 Abs. 1 AufenthG n. F. - anders als bei Art. 16a GG - im Hinblick auf die durch Satz 5 der Vorschrift erfolgte Umsetzung des Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG an dem Erfordernis des landesinternen Vergleichs zum Ausschluss nicht verfolgungsbedingter Nachteile und Gefahren nicht mehr fest. In der Begründung zum Regierungsentwurf des Richtlinienumsetzungsgesetzes wird ausgeführt, von dem Antragsteller könne nur dann vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in dem verfolgungsfreien Landesteil aufhalte, wenn er am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinde, das heißt dort das Existenzminimum gewährleistet sei. Im Falle fehlender Existenzgrundlage sei eine interne Schutzmöglichkeit nicht gegeben; dies gelte auch dann, wenn im Herkunftsgebiet die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht seien. Für die Frage, ob der Antragsteller vor Verfolgung sicher sei und eine ausreichende Lebensgrundlage bestehe, komme es danach allein auf die allgemeinen Gegebenheiten im Zufluchtsgebiet und die persönlichen Umstände des Antragstellers an (BTDrucks 16/5065 S. 185). Das Bundesverwaltungsgericht folgt dieser Auslegung des Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie, von der der Gesetzgeber ersichtlich ausgegangen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11/07 -, BVerwGE 131, 186 = juris Rn. 31 f.). Auch das erkennende Gericht schließt sich dem an.

Maßstab für das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG ist, ob von dem Ausländer vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in diesem Landesteil aufzuhalten. Dies verlangt eine auf die Kriterien des Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG abstellende Zumutbarkeitsbewertung. Dabei muss im Ergebnis am Ort der inländischen Fluchtalternative jedenfalls das Existenzminimum gewährleistet sein (BVerwG, Beschluss vom 27.01.2009 - 10 B 56/08 -, juris Rn. 7).

Nach diesen Grundsätzen kann die Klägerin außerhalb Tschetscheniens ihr Existenzminimum nicht sichern. Zur Legalisierung des Aufenthalts an einem grundsätzlich frei zu wählenden Aufenthaltsort in der Russischen Föderation bedarf es einer Registrierung. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses (ein von russischen Auslandsvertretungen in Deutschland ausgestelltes Passersatzpapier reicht nicht aus) und nachweisbarer Wohnraum. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen. Kaukasier haben jedoch größere Probleme als Neuankömmlinge anderer Nationalität, überhaupt einen Vermieter zu finden. Viele Vermieter weigern sich zudem, entsprechende Vordrucke auszufüllen, unter anderem weil sie ihre Mieteinnahmen nicht versteuern wollen. (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 04.04.2010 und vom 30.07.2009, jeweils S. 31; siehe ferner Memorial, "Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation" August 2006 bis Oktober 2007, S. 8 9>). Bei tschetschenischen Volkszugehörigen bedarf es oftmals größerer Anstrengungen, diese Registrierung außerhalb Tschetscheniens zu erreichen. Nur bei gehörigen Bemühungen ist die Erlangung einer Registrierung möglich; es kann selbst dann einige Monate dauern, bis eine Registrierung erlangt wird (vgl. Bay. VGH, Urteil vom 19.01.2010 - 11 B 07.30210 -, juris Rn. 23 f.; Bay. VGH, Urteil vom 17.04.2008 - 11 B 08.30038 -). Das Gericht ist überzeugt, dass die Klägerin die erforderlichen größeren Anstrengungen zur Erlangung einer Registrierung, die man einem gesunden Erwachsenen, jedenfalls wenn er über einige berufliche Fertigkeiten oder eine gesicherte familiäre oder soziale Vernetzung verfügt, wohl regelmäßig abverlangen kann, nicht leisten kann. Die Klägerin besitzt eigenen Angaben zufolge außerhalb von Tschetschenien keinerlei Angehörige. Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit dieser Aussage bestehen nicht. Einer alleinstehenden Frau aus Tschetschenien im Alter von fast 50 Jahren dürfte es bereits allgemein schwerfallen, die erforderlichen Anstrengungen zu erbringen, um ihren Aufenthaltsort an einem Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens zu legalisieren. Bei der Klägerin ist diese Möglichkeit jedenfalls aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu verneinen. In dem Attest der Fachärztin für Innere Medizin ... vom 24.03.2010 wird der Klägerin bescheinigt, dass sie an folgenden Erscheinungen leidet: essentielle Hypertonie mit hypertoner Krise bei körperlicher und psychischer Belastung, hypoglykämische Krise (Abklärung soll folgen), Torticollis spasticus, HWS-Blockierung, Arthralgie, dyspeptische Beschwerden, Meteorismus, Obstipation, Erschöpfungs-Depression, Ein-Durchschlafstörungen, Phobie, Panik. Die Klägerin brauche eine Begleitperson (wird nicht weiter begründet). Die ärztliche Bescheinigung enthält keinerlei Darlegungen zum Vorgehen bei der Anamnese und der Diagnosestellung. Zur Therapie werden ebenfalls keine Aussagen getroffen; lediglich einige Medikamente sind auf dem Attest noch - versehen mit einem weiteren Handzeichen und Praxisstempel - handschriftlich aufgeführt. Das Bundesamt vertritt zu Recht die Auffassung, dass ein Abschiebeverbot sich aus einem Attest dieser Qualität nicht ableiten lässt. Für die Beantwortung der Frage, ob von der Klägerin vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in einem Landesteil der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens neu niederzulassen, erachtet das Gericht das Attest allerdings als hinreichend. Ungeachtet weiterer Einzelheiten der gesundheitlichen Beeinträchtigung zeigt die Diagnose "Erschöpfungs-Depression, Ein-Durchschlafstörungen, Phobie, Panik" bereits auf, dass der Klägerin nicht abverlangt werden kann, die - möglicherweise über viele Monate - erforderlichen großen Anstrengungen zu erbringen, um eine Registrierung in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens zu erreichen. [...]