VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Beschluss vom 18.05.2010 - 3 K 817/10 - asyl.net: M17106
https://www.asyl.net/rsdb/M17106
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz gegen Abschiebung, da Verletzung der Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) der seit 1993 in Deutschland lebenden bzw. teilweise hier geborenen Familie aus dem Kosovo in Betracht kommt. Den Kindern im jugendlichen Alter von 16 bzw. 14 Jahren ist es - anders als Kleinkindern - nicht ohne weiteres zumutbar, mit ihren Eltern in deren Heimat zurückzukehren.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Duldung, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Achtung des Privatlebens, Verwurzelung, Integration, Kosovo, Roma, Straftat, Ausweisung, einstweilige Anordnung
Normen: VwGO § 123, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Der Antrag, der darauf gerichtet ist, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung (§ 123 VwGO) vorläufig für die Dauer von sechs Monaten zu untersagen, die Antragsteller abzuschieben, hat bezüglich der Antragsteller Ziff. 1, 2, 4, 5 und 6 Erfolg; bezüglich des Antragstellers Ziff. 3 bleibt dem Antrag der Erfolg versagt. [...]

Bei der im Eilverfahren allein angezeigten und möglichen summarischen Prüfung hat das Gericht zu entscheiden, ob den Antragstellern ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zustehen könnte. Ein solcher Anspruch kann sich daraus ergeben, dass die Abschiebung aus rechtlichen Gründen unmöglich ist, weil der damit möglicherweise einhergehende Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt ist.

In diesem Zusammenhang ist zunächst zu prüfen, ob die beabsichtigte Abschiebung voraussichtlich in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK eingreift. Dieses Recht umfasst auch die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen - angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen - bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 14.09.2009 - 11 S 1849/09 -; m.w.N.).

Wird ein Eingriff in das geschützte Privatleben bejaht, ist zu entscheiden, ob dieser im konkreten Einzelfall aller Voraussicht nach im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, weil unverhältnismäßig ist. Insoweit ist insbesondere das öffentliche Interesse an der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) mit dem Interesse des Antragstellers an der Aufrechterhaltung seiner von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten Bindungen im Bundesgebiet abzuwägen. Dabei kommt es zunächst auf den jeweiligen Grad der "Verwurzelung" an; je stärker der Betroffene im Aufenthaltsstaat integriert ist, desto schwerer müssen die öffentlichen Interessen wiegen. Weiter ist auf den Grad der "Entwurzelung" abzustellen, d.h. auf die Möglichkeit und Zumutbarkeit der Reintegration im Herkunftsstaat, insbesondere aufgrund der Vertrautheit mit den dortigen Verhältnissen und den dort lebenden und aufnahmebereiten Verwandten. Schließlich können im Rahmen der Schrankenprüfung sonstige Faktoren Berücksichtigung finden, etwa ob der Aufenthalt des Betroffenen zumindest vorübergehend legal war und damit ein schutzwürdiges Vertrauen auf ein Hierbleibendürfen entwickelt werden konnte (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 03.11.2008, VBlBW 2009, 195; m.w.N.).

Die Durchsetzung der hier asylverfahrensrechtlich begründeten Ausreisepflichten könnte bei sämtlichen Antragstellern im Hinblick darauf zu bejahen sein, dass sie sich seit Juli 1993 in Deutschland aufhalten (Antragsteller Ziff. 1 bis 4) bzw. hier geboren sind (Antragsteller Ziff. 5 und 6).

Bei summarischer Prüfung erscheint es zumindest möglich, dass das Interesse der Antragsteller Ziff. 1, 2, 4, 5 und 6 an der Aufrechterhaltung ihrer privaten Bindungen im Bundesgebiet das öffentliche Interesse insbesondere an Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern überwiegt. Allerdings könnte eine hinreichende "Verwurzelung" der Antragsteller Ziff. 1 und 2 fraglich sein. Neben der Aufenthaltsdauer von fast 17 Jahren werden die im Juni bzw. September 2009 aufgenommenen Beschäftigungsverhältnisse mit einem monatlichen Einkommen von rund 350,- EUR für die Antragstellerin Ziff. 2 und 960,- EUR für den Antragsteller Ziff. 1 zugunsten der Antragsteller angeführt. Nach den Ausführungen in den Schreiben des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 11.05.2010 und vom 18.05.2010 und im Bescheid der Stadt Oberkirch vom 15.04.2010 bestehen allerdings gewichtige Gesichtspunkte, die gegen eine Integration der Antragsteller Ziff. 1 und 2 in Deutschland sprechen. Auch sind die Antragsteller Ziff. 1 und 2 erst als Erwachsene nach Deutschland gekommen. Hingegen dürften die privaten Interessen der Antragstellerinnen Ziff. 4 bis 6 von erheblichem Gewicht sein. Die inzwischen 18-jährige Antragstellerin Ziff. 4 kam im Alter von 1 1/2 Jahren nach Deutschland. Im Abschlusszeugnis des Berufsvorbereitungsjahres vom 10.07.2008 heißt es, das Zeugnis schließe den Nachweis eines dem Hauptschulabschluss gleichwertigen Bildungsstandes ein, die Berufsschulpflicht sei erfüllt, sofern kein Ausbildungsverhältnis eingegangen werde. Offen ist, ob sich die Antragstellerin Ziff. 4 nach Abschluss des Berufsvorbereitungsjahres um ein Ausbildungs- oder Beschäftigungsverhältnis bemüht hat. Die mittlerweile 14 und 15 Jahre alten Antragstellerinnen Ziff. 5 und 6 sind in Deutschland geboren. Nach den Schulbesuchsbescheinigungen vom 26.03.2010 besuchen sie voraussichtlich noch bis 31.07.2010 die Altstadtschule - Förderschule - in Oberkirch. Ausweislich des Zeugnisses und der Halbjahresinformation der Förderschule vom 08.02.2010 wurden ihre Leistungen im Wesentlichen mit "gut" und "befriedigend" bewertet. Vom Antragsgegner wird geltend gemacht, die Antragstellerinnen Ziff. 5 und 6 hätten häufig in der Schule gefehlt. Bezüglich der Antragstellerinnen Ziff. 4 bis 6 kann wohl eine weitreichende "Entwurzelung" angenommen werden. Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Kosovo sind ihnen fremd, sie gehören dort einer wenig geachteten Minderheit an (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 03.11.2008, a.a.O.). Es ist auch glaubhaft, dass die Antragstellerinnen Ziff. 4 bis 6 keine albanischen Sprachkenntnisse besitzen, weil sie mit ihren Eltern neben der deutschen Sprache nur die Roma-Sprache sprechen.

Vor diesem Hintergrund - insbesondere im Hinblick auf die konkrete Entwurzelungssituation der Antragstellerinnen Ziff. 5 und 6 - erscheint es bei vorläufiger Prüfung möglich, dass auch die Abschiebung der Antragsteller Ziff. 1 und 2 derzeit einen unverhältnismäßigen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen könnte. Denn die minderjährigen Antragstellerinnen Ziff. 5 und 6 könnten nicht ohne ihre Eltern in Deutschland bleiben. Im jugendlichen Alter von 16 bzw. 14 Jahren ist es ihnen - anders als Kleinkindern - nicht ohne weiteres zumutbar, mit ihren Eltern in deren Heimat zurückzukehren.

Hingegen dürfte die Abschiebung des Antragstellers Ziff. 3 nicht aus rechtlichen Gründen unmöglich sein. Der Eingriff in sein geschütztes Privatleben dürfte im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK notwendig sein. Bei summarischer Prüfung geht die Abwägung des öffentlichen Interesses mit dem Interesse des Antragstellers Ziff. 3 an der Aufrechterhaltung seiner Bindungen im Bundesgebiet zu Lasten seines privaten Interesses. Zugunsten des Antragstellers Ziff. 3 ist zu berücksichtigen, dass er im Alter von 7 Jahren nach Deutschland kam und sich fast 17 Jahre hier aufgehalten hat. Auch bei ihm dürfte - wie bei den Antragstellerinnen Ziff. 4 bis 6 - von einer weitgehenden "Entwurzelung" im Kosovo auszugehen sein. Wesentlich gegen den Schutz der privaten Interessen des Antragstellers spricht, dass es ihm trotz seines langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet wohl nicht gelungen ist, sich in sozialer und kultureller Hinsicht zu integrieren. Er ist offenbar nicht berufstätig und lebt bei seinen Eltern in einer Obdachlosenunterkunft. Außer dem langjährigen Aufenthalt und der Bindung zu seiner Familie sind derzeit keine Gesichtspunkte erkennbar, die für die Notwendigkeit eines weiteren Verbleibs im Bundesgebiet sprechen. Der Antragsteller soll seit seinem dreizehnten Lebensjahr regelmäßig strafrechtlich in Erscheinung getreten sein. Mit rechtskräftiger Verfügung der Stadt Oberkirch vom 11.04.2006 wurde er gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG ausgewiesen. Danach wurde er wegen (bis 14.04.2008 begangener) Vergehen gegen das Aufenthaltsgesetz in drei Fällen rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 25,- EUR verurteilt. In einem Strafbefehl des Amtsgerichts Geislingen wird dem Antragsteller Ziff. 3 zur Last gelegt, er habe einem professionellen Schleuser 2.500,- EUR ausgehändigt und dadurch die illegale Einreise von Verwandten ermöglicht. Der Prozessbevollmächtigte hat hierzu ausgeführt, gegen den Strafbefehl sei Einspruch eingelegt worden, da der Vorwurf nicht zutreffe. Entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller Ziff. 3 sich seit der Ausweisung bewährt hat. Auch können die von ihm zuletzt begangenen Straftaten wohl nicht mehr als Jugendverfehlungen betrachtet werden. Der Antragsteller spricht zwar möglicherweise kein Albanisch, er hat aber Verwandte im Kosovo, mit denen er sich in der Roma-Sprache verständigen kann. Nach den Ausführungen der Stadt Oberkirch bestehen enge und regelmäßige Kontakte zu den Sippen- und Familienmitgliedern in der Republik Kosovo, wie beispielsweise mit der elfköpfigen Familie ..., die Ende 2009 ins Bundesgebiet kam und wieder abgeschoben wurde. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Aufenthalt des Antragstellers Ziff. 3 im Bundesgebiet zu keinem Zeitpunkt durch einen Aufenthaltstitel legitimiert war und mithin kaum schutzwürdiges Vertrauen auf ein dauerhaftes Hierbleibendürfen entwickelt werden konnte. [...]