Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für Schiiten aus dem Irak wegen der landesweit bestehenden Gefahr, Opfer konfessioneller "Säuberungsmaßnahmen" und zudem krimineller Übergriffe wegen seines langjährigen Aufenthalts im westlichen Ausland zu werden.
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Die im Übrigen zulässige Klage ist hinsichtlich § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründet. Der Kläger hat einen Anspruch gegenüber der Beklagten, dass diese feststellt, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich seiner Person bzgl. des Irak vorliegt. Weitere Ansprüche liegen nicht vor. [...]
Der gestellte, erneute Asylantrag ist ein Asylfolgeantrag, der an den Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG zu messen ist. Stellt danach der Ausländer nach unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag, so ist dieser Asylfolgeantrag nur beachtlich, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen.
Die Frage, ob erneut in der Sache über § 60 Abs. 7 AufenthG entschieden werden sollte, steht, wenn nicht schon ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegt, im Ermessen der Beklagten. [...]
Anhaltspunkte dafür, dass das Ermessen fehlerfrei nur durch Eintreten in eine erneute Sachbehandlung hätte ausgeübt werden können ("Ermessensreduzierung auf Null"), liegen hier vor. Ein solcher Fall kommt nur dann in Betracht, wenn die Aufrechterhaltung eines bestandskräftigen Bescheids schlechthin unerträglich wäre oder Umstände ersichtlich sind, die das Beharren der Beklagten auf der Unanfechtbarkeit ausnahmsweise als Verstoß gegen Treu und Glauben oder gegen die guten Sitten erscheinen lassen (BVerwGE 44, 333, 336). Das Festhalten an der Rechtskraft kann dann zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen, wenn etwa ein Ausländer andernfalls einer erheblichen Gefahr für Leib oder Leben nämlich einer extremen individuellen Gefahrensituation, vergleichbar der extremen allgemeinen Gefahrensituation i.S. der Rechtsprechung zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (jetzt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.10.2004 NVwZ 2005, 462).
Der Kläger vermochte zwar hinsichtlich seines konkret individuellen Schicksals nichts Neues vorzutragen, jedoch ist sein Vortrag, dass sich die Lage im Irak mittlerweile gravierend verändert habe und dies sich zu seinen Lasten auswirke, gerade vor dem Hintergrund seiner bislang und so auch in der mündlichen Verhandlung nochmals zweifelsfrei vorgetragenen wiederholten Geschichte, erheblich.
Dem Kläger drohen bei einer Rückkehr in den Irak sowohl im Raum Bagdad als auch landesweit Gefahren, die ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG begründen.
Nicht jedoch die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG. Mit dieser könnten zugleich verbindlich die positiven Voraussetzungen des subsidiären Schutzstatus nach der Qualifikationsrichtlinie festgestellt werden und würde dem Schutzsuchenden regelmäßig weitergehende Rechte als die Feststellung eines sonstigen (nationalen) ausländerrechtlichen Abschiebungsverbotes (vgl. BVerwG vom 24.6.2008, BVerwGE 131 S. 198 ff.) vermitteln.
Denn für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegen nicht die notwendigen hinreichenden Anhaltspunkte vor. Nach dieser Bestimmung ist von einer Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. [...]
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist derzeit nicht anzunehmen, dass die Situation im Irak und insbesondere in der Provinz Bagdad, der Herkunftsregion des Klägers, von Kampfhandlungen geprägt ist, die zur Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG führen würden. Auch wenn sich die Sicherheitslage im Irak insgesamt noch immer als kritisch erweist (vgl. nur durchgängig die Einleitungen der Lageberichte des Auswärtigen Amtes zu Irak, dort "die Sicherheitslage ist (...) verheerend"), ist die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle seit Mitte 2007 deutlich zurückgegangen. Die Durchführung der landesweiten Provinzwahlen Anfang 2009 ist weitgehend friedlich und ohne bewaffnete Auseinandersetzungen und Anschläge verlaufen. Speziell in der Provinz Bagdad, aus der der Kläger stammt, haben sich im Jahr 2009 die sicherheitsrelevanten Vorfälle nahezu gedrittelt und die Todesopferzahlen mehr als halbiert (Informationszentrum Asyl vom Januar 2010). Ein vergleichbarer Rückgang war auch bereits bei den Zahlen von 2007 auf 2008 zu verzeichnen (vgl. ebenda). [...]
Aber die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind in der Person des Klägers erfüllt.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine allgemeine Gefahrenlage, der die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, ausgesetzt ist, kann im Hinblick auf die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur dann begründen, wenn es dem Betroffenen im Hinblick auf den verfassungsrechtlich unabdingbar gebotenen Schutz insbesondere des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht zuzumuten wäre, in sein Heimatland zurückzukehren. Das wäre dann anzunehmen, wenn der Kläger im Fall einer Abschiebung in den Irak dort gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (vgl. BVerwG vom 8.12.1998, Az. 9 C 4.98 - Juris).
Für die Annahme einer solchen Gefahr genügt indes nicht die lediglich denkbare Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in die genannten Rechtsgüter zu werden. Gefordert ist vielmehr die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines derartigen Eingriffs. Die Annahme einer "konkreten" Gefahr setzt - wie bereits durch Satz 2 des § 60 Abs. 7 AufenthG deutlich wird - eine einzelfallbezogene, individuell bestimmte und erhebliche Gefährdungssituation voraus, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zugerechnet werden muss. Wobei die individuelle Betroffenheit des Einzelnen auch daraus folgen kann, dass dieser als Angehöriger der Zivilbevölkerung erheblichen, konkreten Gefahren im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist.
Gerade so liegt jedoch der Fall des Klägers. Der Kläger wäre im Falle seiner Rückkehr in den Irak und dort insbesondere in den Großraum Bagdad - seiner Herkunftsregion - nach Überzeugung des Gerichts, mit mehr als beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer konkreten Gefährdung ausgesetzt. Dieses gründet sich nicht vorhersehbar auf ein Merkmal allein, dessen Träger er ist, aber jedenfalls aus der Gesamtschau seiner verschiedentlichen innehabenden Merkmale. Hierbei genügt zwar nicht die Anknüpfung an seine Religion, seine Volkszugehörigkeit und seine längere Abwesenheit im westlichen Ausland; diese Merkmale teilt er mit vielen anderen und diese sind nicht geeignet, ihn daher besonders aus der Masse herauszuheben.
Dies stellt sich jedoch anders dar, wenn die Ausreise aus dem Irak um den Zeitpunkt des Zusammenbruchs des alten Regimes oder noch davor erfolgte und die damalige kulturelle Einordnung bereits eine Exponiertheit ergab, die heute noch Beachtung zu finden vermag.
So ist es hier beim Kläger, der 2001 den Irak verließ. Zum damaligen Zeitpunkt war das alte Regime noch fest installiert. Der Kläger und seine Familie standen zuvor unter dem Verdacht, mit dem Iran zusammengearbeitet zu haben und erkennbar zuordenbar "religiös" zu sein. Mit diesen Attributen hatten sie bereits unter Saddam einen gewissen "Bekanntheitsgrad" erlangt. Bei einer Rückkehr in den Irak würde man den Kläger klar einer Richtung zuordnen, was gleichzeitig die Beachtung der anderen Seite mit sich bringen würde. Hierbei zeigt jedoch die familiäre Tradition in der Familie des Klägers, als auch seine selbst, die immer wieder in seinen Ausführungen zum Ausdruck kommt, nämlich die einer eigenen weltoffene Welt- und/oder vor allem Religionseinstellung, dass es dem Kläger nicht möglich sein wird, bei der ihm zugeordneten Gruppe selbst Schutz und Vertrauen zu erreichen. Vielmehr wird zweifelsfrei klar, dass er von diesen dort auch alsbald als Gegner erkannt werden wird. Nachdem nunmehr die allergrößten Teile seiner eigenen Familie auch nicht mehr im Irak sind, wird es ihm nicht gelingen können, Schutz und ausreichende Sicherheit und Existenz zu finden.
Diese Merkmale würden ihn sowohl allein als auch in ihrer Kumulation einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung unabdingbar zuführen und ihm eine Rückkehr unzumutbar machen.
Das Gericht hat nach alledem keinen Zweifel, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in erhebliche m Maße gefährdet wäre, Opfer konfessioneller Säuberungsmaßnahmen und der zur Durchsetzung dieses Ziels angewandten und oder terroristischer oder bloßer krimineller Gewalt zu werden und sich seine Gefährdungslage aufgrund seines deutlich langjährigen Aufenthalts im westlichen Ausland zusätzlich verschärft, weil er unter dem Verdacht stehen würde, im westlichen Ausland Reichtum angehäuft zu haben.
Effektiver Schutz vor gewalttätigen Übergriffen im Rahmen der Säuberungsmaßnahmen oder sonst wie veranlasster Gewalt ist nach übereinstimmender Auskunftslage nicht verfügbar. Weder die irakischen Sicherheitskräfte allein, noch in Zusammenarbeit mit den multinationalen Truppen, sind in der Lage, der Gewalt Einhalt zu bieten oder gefährdete Personen individuell zu schützen.
Der Versuch, der Gewalt durch die Abriegelung ganzer Stadtviertel und den Bau von Sicherheitsmauern etwa in Bagdad Herr zu werden, offenbart das Ausmaß der Hilflosigkeit der potentiell in Betracht kommenden Schutzakteure (vgl. "Der Mauerbau von Bagdad", SZ vom 24.04.2007; "Sichere Stadtviertel abgeriegelt", Spiegel online vom 17.07.2007).
Der dargelegten Bedrohung unterliegt der Kläger auch landesweit, weil er weder auf das ehemals autonome Kurdengebiet noch auf andere Gebiete im Zentral- und Südirak verwiesen werden kann.
Eine inländische Fluchtalternative liegt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung vor, wenn der Asylsuchende auf Gebiete seines Heimatstaates verwiesen werden kann, in denen er - nach dem herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab - vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist, und wenn ihm dort - nach dem allgemeinen Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit - keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, sofern diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315 (342 ff.); BVerwG, Urteile vom 15.05.1990 - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139 (145), vom 20.11.1990 - 9 C 73.90 -, InfAuslR 1991, 181, vom 08.12.1998 - 9 C 17.98 -, vom 05.10.1999 - 9 C 15.99 - und vom 30.04.1996 - 9 C 171.95 -, DVBl. 1996, 1260).
Ob diese Anforderungen an eine inländische Fluchtalternative auch unter Berücksichtigung von Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie 2004/84/EG uneingeschränkt aufrecht erhalten werden können oder ob nunmehr unter Heranziehung der Richtlinien des UNHCR vom 23. Juli 2003 (vgl. Richtlinien zum internationalen Schutz: "Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative" im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge) für die Annahme einer inländischen Fluchtalternative mehr als die bloße Sicherstellung des wirtschaftlichen Existenzminimums erforderlich ist, kann das Gericht an dieser Stelle offen lassen. Denn der Kläger kann auch nach den bisherigen Anforderungen weder auf eine inländische Fluchtalternative in den kurdischen Regionen des Nordirak noch in anderen Regionen des Zentral- und Südirak verwiesen werden.
Der gesamte Zentral- und Südirak kommt schon im Hinblick auf die dort überall katastrophale Sicherheitslage bei den Merkmalen des Klägers und die allgegenwärtige Gefahr, wieder Opfer von Säuberungsaktionen zu werden, als inländische Fluchtalternative nicht in Betracht. Aber auch im Übrigen kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass sunnitische respektive schiitische Flüchtlinge, die aus ethnisch-konfessionell gemischten Gebieten fliehen, sich in ethnisch-konfessionell homogenen Gebieten niederlassen können. Die lokalen Verwaltungen verschiedener Provinzen haben die Grenzen für sämtliche Binnenvertriebene geschlossen oder deren Niederlassung unter Hinweis auf die Belastung der Infrastruktur stark begrenzt. Eine Reihe von Provinzen hat spezielle Sicherheitschecks eingeführt oder verlangt, einen Bürgen vorzuweisen, der bestätigt, dass die betreffende Person nicht zu einem verdächtigen Personenkreis gehört (vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 12.05.2007 an VG Köln; "Der Tod kam im Sack mit Lebensmitteln", taz vom 24.07.2007; "Trostlose Zuflucht in Sulaimaniya", NZZ vom 25.07.2007). Das Auswärtige Amt schreibt im Lagebericht vom 6. Oktober 2008 hierzu: Trotz der internationalen Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage der irakischen Bevölkerung infolge der miserablen Sicherheitslage und wiederholter Anschläge auf die Ölinfrastruktur des Landes schlecht. Eine Differenzierung zu den Nordprovinzen wird insoweit bereits nicht mehr vorgenommen.
Auch hier heißt es mittlerweile die Region Kurdistan ist mit der Versorgung der Flüchtlinge überfordert (AA-Lagebericht 11. April 2010).
In den kurdischen Gebieten des Nordirak wird Nicht-Kurden aus dem Zentral- und Südirak regelmäßig bereits die Niederlassung dadurch erschwert, dass ihnen ohne einen Leumundszeugen, der den örtlichen Behörden bekannt sein und sich mit seinen persönlichen Daten für diesen verbürgen muss, eine offizielle Registrierung verwehrt wird. Dies ist für Kurden zwar nicht durchgängig der Fall, jedoch ist auch bei diesen nicht sichergestellt, dass sie dort Sozialhilfe oder Nahrungsmittelhilfe beziehen können. Zusammen mit den seit Kriegsende immens gestiegenen Mieten, die das Gehalt eines Polizisten, Lehrers oder einfachen staatlichen Angestellten auch ohne Berücksichtigung von Wohnnebenkosten in der Regel bei weitem übersteigen, ist eine Ansiedlung faktisch unmöglich, sofern keine tragfähigen Kontakte zu Verwandten bestehen, die bereit und in der Lage sind, ihren Familienangehörigen aufzunehmen (vgl. UNHCR, Gutachten vom 09.01.2007 und vom 08.10.2007 an VG Köln; Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 27.11.2006 und vom 12.05.2007 an VG Köln; "Der Tod kam im Sack mit Lebensmitteln", taz vom 24.07.2007; "Trostlose Zuflucht in Sulaimaniya", NZZ vom 25.07.2007). Dies ist bei dem Kläger bereits nicht ersichtlich.
Bei dieser Sachlage kann der Kläger daher nach Überzeugung des Gerichts nicht auf eine inländische Fluchtalternative innerhalb des Irak verwiesen werden. Der Kläger selbst stammt familiär aus dem Großraum Bagdad und verfügt in keinem anderen Landesteil über tragfähige verwandtschaftliche Beziehungen. [...]