Flüchtlingsanerkennung wegen Verfolgungsgefahr in Syrien aufgrund öffentlicher Kritik am syrischen Staat in Deutschland.
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Die aufrechterhaltene Klage ist begründet, da der Kläger gemäß § 3 Abs. 4 AsylVfG Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat, denn bei ihm liegen nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich seines Herkunftsstaates Syrien vor (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, da mit dem Folgeantragsvorbringen, in dem die ab 24.02.2009 erfolgte Teilnahme des Klägers an dem als Protestaktion gegen das deutsch syrische Rückführungsabkommen durchgeführten Hungerstreik in Berlin hinreichend dargelegt wurde, ein Wiederaufgreifensgrund im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG gegeben und fristgemäß geltend gemacht worden ist.
Nach dem Ad-hoc-Ergänzungsbericht des Auswärtigen Amtes vom 07.04.2010 wurden im Jahr 2009 38 Personen mit syrischer Staatsangehörigkeit von Deutschland nach Syrien im Rahmen des deutsch-syrischen Rückführungsabkommens zurückgeführt. Wie bereits im Lagebericht Syrien vom 09.07.2009 dargestellt, erfolgt in der Regel nach der Einreise zurückgeführter Personen eine Befragung durch die syrische Einwanderungsbehörde und die Sicherheitsdienste. In manchen Fällen werden die Betroffenen für die folgenden Tage nochmals zu einer Befragung einbestellt. In Einzelfällen werden Personen für die Dauer einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten. In drei Fällen sind Inhaftierungen unmittelbar bzw. kurz nach der Rückführung bekannt geworden. In einem Fall konnte bestätigt werden, dass eine Inhaftierung über die übliche Befragung durch syrische Behörden nach der Ankunft hinausgegangen ist. So durfte eine am 01.09.2009 zurückgeführte Person nach einer kurzen Überprüfung der Personalien am Flughafen zunächst mit der Maßgabe einreisen, sich bei einer Geheimdienststelle seines Heimatortes zu melden. Dort sprach die Person sodann am 13.09.2009 vor. Sie wurde verhört und inhaftiert. Nach sieben Tagen wurde sie zur Ersten Staatsanwaltschaft nach Damaskus überstellt. Ihr wurde vorgeworfen, in Deutschland Asyl beantragt und "im Ausland bewusst falsche Nachrichten verbreitet zu haben, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind". Die Person wurde anwaltlich vertreten und für die Anwälte bestand die Möglichkeit, ihren Mandanten im Gefängnis zu besuchen; Besuche durch Verwandte waren einmal pro Woche möglich. Nach Angaben des Anwalts sowie der betroffenen Person stützten sich Anklage und Urteil auf den Vorwurf, die Person habe in Deutschland an einer Demonstration gegen das deutsch-syrische Rückübernahmeabkommen teilgenommen. Bei der ersten Verhandlung am 25.11.2009 vor dem Militärgericht in Kamischli hat die Person die Vorwürfe zurückgewiesen; im vorherigen Verhör durch den Sicherheitsdienst soll sie die Teilnahme gestanden haben. Am 04.01.2010 wurde sie gegen Kaution aus der Haft entlassen, worauf sie aus Syrien ausgereist ist. Zwischenzeitlich hat die Person bei der Deutschen Botschaft in Ankara persönlich vorgesprochen und Angaben zu den Umständen ihrer Verhaftung sowie nähere Einzelheiten zu ihrer Inhaftierung in Syrien dargelegt. Sie gab an, in Deutschland zwischen 2004 und 2009 an insgesamt zehn Demonstrationen teilgenommen zu haben, und berichtete von Misshandlungen und Schlägen durch syrische Behördenmitarbeiter während der Haft. Am 08.02.2010 wurde die Person in Abwesenheit wegen "Verbreitung bewusst falscher Tatsachen im Ausland, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind" nach Art. 287 des syrischen Strafgesetzbuches vom Militärgericht Kamischli zu einer Haftstrafe von vier Monaten sowie zu einer Geldstrafe verurteilt (vgl. zu allem: Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Ergänzungsbericht vom 07.04.2010).
Aufgrund dieser Auskunftslage geht das erkennende Gericht davon aus, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt wäre, weil dort seine Freiheit und seine körperliche Unversehrtheit wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sind.
Hierbei ist zu vergegenwärtigen, dass im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG - der insbesondere hinsichtlich des politischen Charakters der Verfolgung und des anzuwendenden Prognosemaßstabs mit Art. 16 a Abs. 1 GG deckungsgleich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 1.94, DVBl. 1995, 565; Urteil vom 22.03.1994 - 9 C 443.93 -, lnfAuslR 1994, 329) - die erforderliche gegenwärtige Verfolgungsbetroffenheit gegeben ist, wenn dem Asylantragsteller im Rückkehrfall bei verständiger Würdigung aller bekannten Umstände politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, wobei die insoweit erforderliche Prognose einen absehbaren zukünftigen Zeitraum mit einbeziehen muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 03.12.1985 - 9 C 22.85 -, NVwZ 1986, 760). Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist dann anzunehmen, wenn bei zusammenfassender Bewertung die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht haben und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen; maßgebend ist in dieser Hinsicht letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, BVerwGE 89, 162).
Bei der mithin gebotenen Gesamtbetrachtung der seitens des Klägers angeführten Aktivitäten, namentlich seiner mehrtägigen Teilnahme an dem Hungerstreik und der geschilderten Teilnahme an der Demonstration gegen das deutsch-syrische Rückübernahmeabkommen, ergibt sich für das Gericht unter Einbeziehung des glaubwürdigen Eindrucks, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung bei seiner informatorischen Anhörung gemacht hat, ein Bild, das den Kläger als einen auch in der Öffentlichkeit wirkenden Opponenten des syrischen Staates und der syrischen Regierung erscheinen lässt, dem angesichts der Art der bedrohten Rechtsguter bei qualifizierender Betrachtungsweise (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 -, BVerwGE 89, 162, 169) eine Rückkehr nach Syrien in Anbetracht der beschriebenen aktuellen Auskunftslage gegenwärtig und in absehbarer Zukunft nicht zugemutet werden kann. [...]