VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 29.03.2010 - A 5 K 2387/08 - asyl.net: M17168
https://www.asyl.net/rsdb/M17168
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, da der psychisch kranke Kläger in Afghanistan nicht die erforderliche therapeutische Behandlung erhalten und seine Existenz nicht sichern kann.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Afghanistan, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung, Existenzgrundlage, Suizidgefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Klage hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Zwar hat das Bundesamt im angefochtenen Bescheid zu Recht festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 (Folter oder unmenschliche/erniedrigende Behandlung), des § 60 Abs. 3 AufenthG (Todesstrafe) sowie des § 60 Abs. 5 AufenthG (Verstoß gegen die EMRK) nicht vorliegen. Allerdings liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nach Überzeugung der Kammer im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vor (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG). Insoweit ist der angefochtene Bescheid rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, denn er hat einen Anspruch auf die genannte Feststellung (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO). Dabei liegen die Voraussetzungen des § 51 VwVfG im Hinblick auf die sich zunehmend manifestierende psychische Erkrankung des Klägers vor. Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist gegeben. Selbst bei Fehlen der Voraussetzungen des § 51 VwVfG ist das Abschiebungsverbot im Ermessenswege festzustellen. Im Hinblick auf die behandlungsbedürftige schwere psychische Erkrankung des Klägers ist es diesem im Hinblick auf die damit verbundene Gefahr für Leib und Leben nicht zumutbar, nach Afghanistan zurückzukehren. [...]

Die Kammer geht aufgrund der vorgelegten ärztlichen und psychologischen Unterlagen davon aus, dass sich die psychische Erkrankung des Klägers in Afghanistan - auch in dem ihm unbekannten Kabul - erheblich verschlechtern wird und der Kläger aus eigener Kraft nicht für seine Existenz sorgen kann (vgl. insoweit zur individuellen Einzelfallprüfung Bay. VGH, Urt. v. 03.04.2006 - M 23 K 03.52 498 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 05.04.2006 - 20 A 5161/04.A -; Sächs. OVG, Urt. v. 23.08.2006 - A 1 B 58/06 -; VG Karlsruhe, Beschl. v. 06.11.2006 - A 10 K 909/06 -; Urt. v. 23.01.2008 - A 11 K 521/06 -, juris).

Nach den dem Gericht vorliegenden ausführlichen und überzeugenden ärztlichen und psychologischen Attesten leidet der Kläger an einer schweren psychischen Erkrankung zumindest in Form einer schweren Angst- und depressiven Störung. Dies wird im ausführlichen Bericht der ...-Klinik vom 02.04.2008 nach einem mehrwöchigen Aufenthalt des Klägers eingehend dargelegt. Die Klinik kommt zu dem Ergebnis, dass der Kläger neben einer Medikation dringend auf eine psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung angewiesen ist. Bei einer Nichtbehandlung der Erkrankung des Klägers kann es nach Auffassung der Klinik zu einer schweren Dekompensation kommen. Diese Einschätzung wird gestützt durch die psychologischen Berichte des Dr. ... vom 15.07.2009 und 01.02.2010. Dort ist der Kläger seit April 2008 in Behandlung. Es wird eine schwere PTBS diagnostiziert. Auch ist von Selbstmordversuchen die Rede. Für den Fall einer Rückkehr in die Heimat ohne Therapie wäre u.a. mit selbstschädigenden Verhaltensweisen zu rechnen. In einer Stellungnahme vom 02.02.2010 empfiehlt der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. ... u.a. dringend eine Gesprächstherapie. Das Gericht hat keine Zweifel am realen Hintergrund der vorgelegten fachlichen Stellungnahmen. Insbesondere wird der Verlauf des Krankheitsbildes, das sich zunächst u.a. durch immer stärkere Kopfschmerzen manifestiert hat, nachvollziehbar und ohne Übertreibungen dargelegt. Aus den Bescheinigungen ergibt sich insbesondere der Schluss, dass die psychische Erkrankung des Klägers nicht allein mit Medikamenten "aufgefangen" werden kann. Vielmehr erscheint auch dem Gericht eine regelmäßige Gesprächstherapie mit dem akut behandlungsbedürftigen Kläger geboten, um Schlimmeres zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass eine Rückkehr des Klägers nach Afghanistan - auch nach Kabul - mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Wiederaufleben bestimmter Erinnerungen bewirken könnte mit entsprechender krisenhafter Zuspitzung. Dabei müssen im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG diese Erinnerungen nichts mit politischer Verfolgung zu tun haben.

Zwar können posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen/Angststörungen in Kabul medikamentös behandelt werden. Eine ausschließliche medikamentöse Behandlung des Klägers ist aber - wie dargelegt - nicht angezeigt, Vielmehr ist die als notwendig zu erachtende psychotherapeutische Behandlung, die den bereits eingeleiteten Gesundungsprozess des Klägers unterstützen und fortführen könnte, für den Kläger in seinem Heimatland nicht zu erlangen (vgl. UNHCR 01.03.2005 an VGH Bad.-Württ.; vgl. zur völlig unzureichenden medizinischen Versorgung in Afghanistan: AA, Lagebericht v. 28.10.2009; VG Regensburg, Urt. v. 22.07.2007 - RO 5 K 06.30300 -; VG Schleswig, Urt. v. 14.12.2006 - 12 A 13/05 -, juris). Es kommt hinzu, dass der schwer kranke Kläger nicht aus Kabul stammt und er mit seiner speziellen Problematik dort auch keine "Anlaufstelle" familiärer Art hat, mit der er seine Existenz sichern könnte, auch wenn möglicherweise noch Stammesmitglieder in Kabul leben. Dabei ist insbesondere auch zu berücksichtigen, dass der psychisch kranke Kläger, der auch in Deutschland nur Hilfstätigkeiten verrichtet, kaum in der Lage sein wird, eine Beschäftigung zu finden, mit der er seine Existenz sichern kann - auch wenn er möglicherweise in der Zwischenzeit deutsch spricht. Finanzielle Zuwendungen eines Onkels in Saudi Arabien und eines Cousins in London scheinen zwar theoretisch möglich zu sein. Dies nützt dem Kläger aber nichts, weil die erforderlichen Therapien zur Behandlung seiner psychischen Erkrankung nicht einmal in Kabul angeboten werden. Dabei darf auch nicht übersehen werden, dass gerade im Falle einer psychischen Erkrankung eine familiäre Unterstützung vor Ort dringend erforderlich ist. Diese Unterstützung können die möglicherweise in Kabul lebenden Stammesmitglieder kaum leisten. In seinen Heimatort Paktia kann sich der Kläger nicht begeben, weil dort die medizinische Versorgung noch unzureichender ist. Auch spricht einiges dafür, dass sich engere Familienmitglieder dort nicht mehr aufhalten, weil sie inzwischen nach Pakistan gegangen sind. [...]