VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 16.06.2010 - 4 K 1613/09.KS.A [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 245 f.] - asyl.net: M17190
https://www.asyl.net/rsdb/M17190
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen unzureichender Gesundheitsversorgung für Roma im Kosovo.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Kosovo, Roma, medizinische Versorgung, Insulin
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. [...]

Nach dieser Bestimmung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Ausweislich des ärztlichen Attestes des Dr. ... vom 19.02.2010 leidet der Kläger u.a. nach einem Hinterwandinfarkt und Stentimplantation unter einer koronaren Gefäßkrankheit, einer chronisch obstruktiven Atemwegserkrankung, Diabetes mellitus Typ II b, Hyperlipidämie. Es handelt sich um eine insulinpflichtige Diabeteserkrankung. Angesichts des insgesamt schweren Krankheitsbildes geht das Gericht davon aus, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Kosovo als Angehöriger der Volksgruppe der Roma konkret einer erheblichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes ausgesetzt wäre. Die medizinische Versorgung im Kosovo bewegt sich trotz immenser Investitionen in das Gesundheitssystem weiterhin auf niedrigem Niveau. Kosovo hat eine der höchsten Mütter- und Kindersterblichkeitsraten in Europa. Es gibt keine Statistiken über den Gesundheitszustand der Roma-Bevölkerung. Laut dem Strategiebericht der Republik Kosovo gibt es aber große Unterschiede zwischen der Gesundheit der Roma und der Mehrheitsbevölkerung. Die schlechte Gesundheit der Roma sei darauf zurückzuführen, dass sie unter den verarmten Schichten übervertreten sind. Untersuchungen aus den Jahren 2001, 2004 und 2005 weisen auf hohe Anteile von Fehlgeburten, fehlenden Zugang zu frischem Wasser sowie Fehlen von Toiletten und Waschgelegenheiten im Haus hin. Alle Ethnien haben Zugang zu den medizinischen Einrichtungen; der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist aber grundsätzlich nur Personen mit gültigen Papieren möglich. Im primären Gesundheitsbereich wird das meist nicht streng gehandhabt, für eine Behandlung im sekundären Bereich ist dagegen meist die Vorlage gültiger Papiere notwendig. Vertreter der Roma-Gemeinschaften klagen darüber, dass ihnen wegen fehlender Dokumente oft eine Versorgung verwehrt werde. Problematisch ist außerdem die Finanzierung von Gesundheitsleistungen. Zusatzkosten, die im öffentlichen Bereich für Behandlungen, Medikamente und Transporte anfallen können und Privatleistungen kann sich ein Großteil der. Roma-Bevölkerung nicht leisten. Nach Angaben der Regierung hatten in der Vergangenheit 86 der Roma keinen Zugang zu kostenfreien Medikamenten, während das für 47 % der Mehrheitsbevölkerung der Fall war. Eine Krankenversicherung gibt es noch immer nicht, nur die medizinische Basisversorgung ist durch regionale Gesundheitszentren kostenlos bzw. gegen eine geringe Zuzahlung erhältlich. Von Zuzahlungen ausgenommen sind u.a. Kinder, Ältere, Sozialhilfeempfänger und chronisch Kranke. Eine darüber hinausgehende Behandlung und der Erhalt von bestimmten Medikamenten sind in der Regel nur gegen Bezahlung möglich. Außerdem werden neben den offiziellen Kosten seitens des Personals häufig gewisse "Aufmerksamkeiten" erwartet. Dies gilt auch für die Verfügbarkeit medizinischer Geräte für den Patienten und für die Festlegung von Operationsterminen, d.h. gegen Zahlung einer bestimmten Geldsumme an das medizinische Personal wird der Patient "vorrangig" (an der Warteliste vorbei, z.B. bei Operationen) medizinisch behandelt. Neben den Bereichen Justiz und Polizei steht insbesondere auch das Gesundheitssystem weit oben auf der Liste der wahrgenommenen Korruption (vgl. Informationszentrum Asyl und Migration, Lage der Roma in Kosovo, Dezember 2009).

Angesichts der Vielzahl der seitens des Klägers benötigten Medikamente und der insbesondere nicht hinreichend sicheren Versorgung mit Insulin im Kosovo (vgl. dazu bereits Urteil des Gerichts vom 12.11.2008 - 4 E 1855/06.A -), die auch durch die seitens des Prozessbevollmächtigten des Klägers eingeholte Stellungnahme von Exilio e.V. bestätigt wird, ist vor dem Hintergrund des geschilderten Systems der Gesundheitsversorgung im Kosovo mit einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers bei einer Rückkehr dorthin zu rechnen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass er angesichts seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung in der Lage sein wird, die insbesondere für einen Angehörigen der Volksgruppe der Roma erforderlichen Mittel zur Beschaffung der erforderlichen Medikamente und regelmäßigen ärztlichen Kontrollbesuche sowie für eine wahrscheinlich in absehbarer Zeit erforderliche Augenoperation selbst zu erwirtschaften. Auch kann im Hinblick auf das erhebliche Krankheitsbild des Klägers nicht davon ausgegangen werden, dass seine in Deutschland verbleibenden Familienangehörigen in der Lage sein werden, den Kläger in seinem Heimatland regelmäßig und dauerhaft in ausreichender Weise - insbesondere finanziell - zu helfen. Zwar kann angenommen werden, dass die typischerweise engen familiären Bindungen der Angehörigen der Volksgruppe der Roma aus dem Kosovo grundsätzlich auch ein solidarisches Einstehen für einen in sein Heimatland abgeschobenen Angehörigen beinhalten, eine derartige Annahme würde im vorliegenden Fall angesichts des fortgeschrittenen Krankheitsbildes des Klägers und der zu dessen Behandlung regelmäßig und dauerhaft erforderlichen finanziellen Mittel die Hilfsmöglichkeiten und Hilfsbereitschaft seiner Angehörigen aber deutlich überdehnen. [...]