VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 26.05.2010 - 4 K 199/10.GI.A [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 261 f.] - asyl.net: M17203
https://www.asyl.net/rsdb/M17203
Leitsatz:

Kein Ausschluss vom Grundrecht auf Asyl nach Selbsteintritt im Dublin-Verfahren. Anm. d. Red.: Siehe hierzu auch VG Aachen, Urt. v. 25.7.2007 - 8 K 1913/05.A -, M11196.

Schlagwörter: Asylverfahren, Dublin II-VO, Eritrea, Malta, Selbsteintritt, Asylrecht, sichere Drittstaaten, Drittstaatenregelung, Militärdienst, illegaler Auslandsaufenthalt
Normen: GG Art. 16a Abs. 1, GG Art. 16a Abs. 5, AsylVfG § 26a Abs. 1, AsylVfG § 26a Abs. 3, AsylVfG § 27, GG Art. 16a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger hat einen Rechtsanspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16 a Abs. 1 GG.

Nach der genannten Vorschrift genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

Zwar kann sich gem. § 26 a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG ein Ausländer, der aus einem Drittstaat im Sinne des Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (also unter anderem Mitgliedstaaten der Europäischen Union, hier Malta) eingereist ist, sich nicht auf Art.16 a Abs. 1 GG berufen und er wird nicht als Asylberechtigter anerkannt. Aber gem. § 26 a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG gilt Satz 1 nicht, wenn die Bundesrepublik Deutschland aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Im vorliegenden Verfahren greift diese genannte Rückausnahme vom Ausschluss des Asylgrundrechts ein.

§ 26 a Abs. 1 Satz 3 AsylVfG regelt zwar nur, dass Satz 1 der Norm nicht gelte (der Ausländer kann sich nicht auf Art. 16 a Abs. 1 GG berufen). Nicht hingegen wird die Geltung von Satz 2 (keine Anerkennung als Asylberechtigter) aufgehoben. Insoweit kann es sich jedoch allenfalls um ein redaktionelles Versehen handeln, wenn im Satz 3 nur Satz 1 und nicht auch Satz 2 erwähnt ist. Denn wenn die Berufung auf Art. 16 a GG (Satz 1) möglich sein soll, dann besteht auch konsequenter- und logischerweise ein Anspruch aus Art, 16 a GG auf Anerkennung als Asylberechtigter, wenn die weiteren Voraussetzungen des Art. 16 a Abs. 1 GG - politische Verfolgung - erfüllt sind.

Soweit Art. 16 a Abs. 2 GG ebenfalls bestimmt, dass sich auf Abs. 1 des Art. 16 a GG nicht berufen kann, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften einreist und anders als § 26 a AsylVfG keine Ausnahme vorsieht, lässt sich hieraus nicht vorrangig ein Anspruchsausschluss herleiten. Denn Art. 16 a Abs. 5 GG bietet die verfassungsrechtliche Grundlage dafür, dass trotz der Einreise aus einem sicheren Drittstaat die Berufung auf ein Asylgrundrecht nicht verwehrt werden darf. Selbst wenn ein "verfassungsrechtlicher" Anspruch auf Asylgewährung nicht bestünde, dann wäre ein solcher Anspruch jedenfalls "einfach gesetzlich" über § 26 a Abs. 1 Satz 3 AsylVfG begründbar (vgl. Marx, AsylVfG 7. Auflage, Anm. 139 zu § 26 a; Funke-Kaiser GK-AsylVfG, Stand November 09, Anm. 116 - 118; Renner, Ausländerrecht 8. Auflage, Anm. 10 zu § 26 a; BVerfG, Beschluss vom 30.07.2003, NVwZ 2003 Beilage Nr. 112, 97).

Nach § 26 a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG hat der Kläger einen Rechtsanspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter bzw. ist gerade nicht ausgeschlossen, dass er sich auf das Asylgrundrecht berufen kann. Die Ausnahmeregelung greift Ihrem Wortlaut nach ein.

Die Bundesrepublik Deutschland ist aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.

Die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.12.2003 (Dublin II-VO) ist eine solche Rechtsvorschrift der Europäischen Gemeinschaft (vgl. Marx und Funke-Kaiser a.a.O.; BVerfG, Beschluss vom 30.07.2003 a.a.O. und Beschluss vom 08.06.2000, NVwZ 2000, Beilage Nr. 9, 97). Die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland zur Durchführung des Asylverfahrens ergibt sich aus Art. 3 Abs. 2 Satz 1 und 2 Dublin II-VO.

Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten ist kein Rechtsgrund für eine einschränkende Auslegung des § 26 a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG gegen den Wortlaut erkennbar.

Zuzustimmen ist der Beklagten, und dies dürfte unstreitig sein, dass Art. 3 Abs. 3 Dublin II-VO es erlaubt, nationale Drittstaatenregelungen zu schaffen und anzuwenden. Grundsätzlich trifft auch die näher begründete Auffassung der Beklagten zu, wonach ein Ausländer des "asylrechtlichen" Schutzes in der Bundesrepublik Deutschland nicht bedarf, wenn er aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist. Folglich hat der nationale Gesetzgeber in § 26 a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG wie auch in Art. 16 a Abs. 2 GG Ausschlussregelungen geschaffen. Sogleich aber hat der nationale Gesetzgeber auch wieder eine Ausnahme vom Ausschlussgrund in § 26 a Abs. 1 Satz 3 AsylVfG formuliert; in drei Fällen (Ziffern 1 bis 3 des Satzes 3) hat er gleichwohl den Asylanspruch des Ausländers aus Art. 16 a Abs. 1 GG wieder eröffnet. Gegen diesen Willen des Gesetzgebers ist nichts Durchgreifendes einzuwenden. Insbesondere bringt die Beklagte keine Argumente dafür vor, warum im vorliegenden Fall der Ausnahmetatbestand des § 26 a Abs.1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG nicht eingreifen soll. Vielmehr ergibt sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Ausnahmetatbestände des § 26 a Abs. 1 Satz 3 AsylVfG immer in den Blick zu nehmen sind (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 08.06.2000 und 30.07.2003, a.a.O.).

Soweit schließlich § 27 AsylVfG - ohne Ausnahme - eine Anerkennung als Asylberechtigter für solche Ausländer ausschließt, die bereits In einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung sicher waren, ergibt sich hieraus kein Wertungswiderspruch und keine ungerechtfertigte Besserstellung gegenüber Ausländern i.S.v. § 26 a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG bzw. aus einem sicheren Drittstaat Einreisende. § 27 AsylVfG greift nämlich nur für solche Personen ein, die schon vor politischer Verfolgung sicher waren. § 28 a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG setzt dies nicht zwingend voraus (und die Rechtsprechung zeigt, dass nicht jeder, der aus einem sicheren Drittstaat einreiste, dort vor politischer Verfolgung bzw. vor Rückführung in den Heimatstaat sicher war; vgl. z.B. Malta oder Griechenland). Zudem ist § 26 a AsylVfG auch eine Zuständigkeitsregelung, die will, dass Flüchtlinge im ersten Staat um Schutz nachsuchen, in dem ihnen dies möglich ist und dieser erste Staat das Verfahren durchführt (vgl. BT-Drucks.12/4450 S. 20 ff.).

Mithin findet § 16 a Abs. 1 GG Anwendung und seine Voraussetzungen liegen vor. Der Kläger genießt als politisch Verfolgter Asylrecht. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat in seinem Bescheid vom 08.02.2010, in dem es die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zuerkannt und dies mit dem vom Kläger geschilderten Sachverhalt und den der Behörde vorliegenden Erkenntnissen begründet hat, dies anerkannt. Denn die Voraussetzungen der politischen Verfolgung i.S.v. Art. 16 a Abs. 1 GG sind im Wesentlichen gleich zu denen von § 60 Abs. 1 AufenthG, wenngleich der Regelungsgehalt der letztgenannten Norm weiter gefasst ist. Durch die Bezugnahme des Bundesamtes auf die Sachverhaltsschilderung und den Erkenntnisstand ist aber deutlich gemacht, dass vorliegend keine Unterschiede zwischen Art. 16 a Abs. 1 GG und § 60 Abs. 1 AufenthG durchgreifen. Denn ausweislich eines Aktenvermerks in der Behördenakte (vgl. Bl. 305 der Beiakte) hat das Bundesamt seine Entscheidung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestützt darauf, dass der Kläger wehrdienstpflichtig ist und aufgrund des illegalen Auslandsaufenthaltes im Falle der Rückkehr bzw. Abschiebung nach Eritrea dort politischer Verfolgung ausgesetzt sein würde. Wenn diese Umstände politische Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG belegen, dann bedeuten sie aber gleichermaßen politische Verfolgung i.S.v. Art. 16 a Abs. 1 GG, Außerdem hat die Beklagte im Laufe des gerichtlichen Verfahrens ihre ablehnende Haltung allein auf den vermeintlichen Ausschlusstatbestand des § 26 a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG und Art. 16 a Abs. 2 GG gestützt. Andere Gründe, die gegen eine politische Verfolgung i.S.v. Art. 16 a Abs. 1 GG sprechen könnten, sind nicht vorgetragen und nicht erkennbar. [...]