VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Beschluss vom 12.01.2010 - 4 L 796/09.A - asyl.net: M17255
https://www.asyl.net/rsdb/M17255
Leitsatz:

Keine Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Griechenland. Das Ermessen des BAMF hinsichtlich eines Selbsteintritts hat sich nicht zugunsten des Antragstellers verdichtet. Soweit das BVerfG in der Entscheidung vom 8.9.2009 die Überstellung eines irakischen Asylantragstellers nach Griechenland vorläufig untersagt hat, lassen sich aus dieser Entscheidung nicht herauslesen, dass das BVerfG damit einen faktischen Abschiebungsstopp von Asylbewerbern nach Griechenland bewirken möchte.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Griechenland, vorläufiger Rechtsschutz, Selbsteintritt
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, VwGO § 123
Auszüge:

[...]

Das Rechtsschutzgesuch des Antragstellers hat auch dann keinen Erfolg, wenn § 34a Abs. 2 AsylVfG im Anwendungsbereich des § 27a AsylVfG in Fortführung der in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93 u.a. -, BVerfGE 94, 49, aufgestellten Grundsätze verfassungskonform einschränkend auszulegen sein sollte mit der Folge, dass ein genereller Ausschluss einstweiligen Rechtsschutz nicht anzunehmen ist (vgl. dazu: OVG NRW, Beschluss vom 7. Oktober 2009 - 3 B 1433/09.A juris).

Denn der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass die Antragsgegnerin das ihr bei der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO eingeräumte Ermessen rechtmäßig nur zugunsten des Antragstellers ausüben kann (§ 123 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).

Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO kann abweichend von Absatz 1 jener Vorschrift der Mitgliedsstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach der in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Diese Norm räumt dem insoweit zuständigen Bundesamt ein grundsätzlich sehr weites Ermessen ein (vgl. Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Oktober 2009, § 27a, Rdnr. 80 und November 2009, Rdnr. 135).

Die Dublin II-VO sagt nichts darüber aus, nach welchen Kriterien die Behörde das ihr eingeräumte Ermessen auszuüben hat. Die Ermessensausübung kann aber durch nationales Verfassungsrecht (z.B. Art. 6 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG im Falle einer akuten, behandlungsbedürftigen Erkrankung) sowie Völkervertragsrecht (z.B. Art. 3, 13 EMRK) determiniert sein. Zusätzlich können die In Art. 15 Abs. 1 bis 3 Dublin II-VO angesprochenen humanitären Aspekte Berücksichtigung finden. Denn Sinn und Zweck des Selbsteintrittsrechts ist es gerade, die Verordnung in gewissem Umfang für derartige Rechtspositionen flexibel zu öffnen (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., Rdnr. 135).

Andererseits hat das Bundesamt bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen, dass eine generelle oder nur regelmäßige Ausübung des Selbsteintrittsrechts faktisch dazu führen würde, dass einzelne EU-Mitgliedsstaaten vom Anwendungsbereich der Dublin II-VO ausgeschlossen werden würden. Dazu ist der deutsche Gesetz- und Verordnungsgeber - und deshalb auch [nicht] die Exekutive - aufgrund der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben nicht berechtigt. Deshalb können nur im Einzelfall besondere und inhaltlich umrissene Rechtspositionen des Asylsuchenden die Ermessensausübung durch das Bundesamt beeinflussen. Ob das vom Bundesverfassungsgericht zu § 26 a AsylVfG gewürdigte Konzept der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mal 1996 - 2 BvR 1938193 u.a. - a.a.O.) auch den Fall des § 27a AsylVfG, der erst durch Art. 3 Nr. 20 RL-Umsetzungsgesetz 2007 in das AsylVfG eingeführt worden ist, berührte (verneinend: OVG NRW, Beschluss vom 7. Oktober 2009 - 8 B 1433/09.A -, juris), kann insoweit offen bleiben. Das Bundesamt hat ausweislich der Begründung zum Bescheid vom 1. Dezember 2009 die bis dahin bekannt gewordenen Stellungnahmen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) und Äußerungen des griechischen Innenministers gegenüber dem Rat der Innen- und Justizminister der EU zum Standard der flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen und der Verfahrenspraxis in Griechenland gewürdigt und kritisch angemerkt, dass Defizite bestehen, die im Einzelfall, insbesondere bei der Bereitstellung ausreichender Unterbringungskapazitäten, zu Härten für die betroffenen Asylsuchenden führen können. Dieser Situation trage das Bundesamt dadurch Rechnung, dass bei besonders schutzwürdigen Personen von Überstellungen nach Griechenland im Zweifel abgesehen und vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht werde. [...] Der UNHCR, dessen Stellungnahme nach Erwägungsgrund 16 der Qualifikätionsrichtlinie.ein besonderes Gewicht zukommt, hat - insoweit vom Bundesamt noch nicht berücksichtigt - am 17. Juli 2009 erklärt, sich zukünftig nicht mehr an Asylverfahren in Griechenland zu beteiligen, solange nicht durch strukturelle Änderungen faire und effiziente Asylverfahren garantiert seien; der Präsidialerlass Nr. 81/2009 vom 30. Juni 2009 lasse daran zweifeln. Bis dahin war ein Vertreter des UNHCR als Mitglied an den Entscheidungen des sechsköpfigen Beschwerdekomitees beteiligt. Andererseits haben bislang weder die dazu berufenen nationalen oder supranationalen Organe die Eignung Griechenlands zur Durchführung von Asylverfahren auf der Grundlage der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben vor allem der Richtlinie 2004/83 EG in Zweifel gezogen oder gar deren Missachtung moniert. Der EGMR - 4. Sektion - hat in seiner Entscheidung vom 2. Dezember 2008 - 32733/08 - NVwZ 2009, 965, 926, in Kenntnis der Bedenken unter anderem des UNHCR ausgeführt, es müsse "vermutet werden, dass Griechenland die Verpflichtungen aus den Richtlinien über die Mindeststandards für Asylverfahren und die Aufnahme von Asylbewerbern" einhalte. Zeitnah zur vorliegenden Entscheidung der Kammer sind anders als noch im Sommer des abgelaufenen Jahres Berichte über überfüllte Aufnahmeeinrichtungen nicht mehr bekannt geworden. [...]

Soweit das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 8. September 2009 (2 BvQ 56/09) die Überstellung eines irakischen Asylantragstellers nach Griechenland in Anwendung der Dublin II-Verordnung vorläufig untersagt hat, lassen sich aus dieser Entscheidung keine Gründe dafür herauslesen, dass das Bundesverfassungsgericht damit einen faktischen Abschiebestopp von Asylbewerbern nach Griechenland bewirken möchte. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr aufgrund eines konkreten Sachverhalts die Überstellung eines Asylbewerbers nach Griechenland aufgrund einer Interessenabwägung im konkreten Einzelfall vorläufig ausgesetzt. Auch unter Berücksichtigung der angesprochenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist deshalb die Überstellung des Antragstellers nach Griechenland nicht vorläufig zu unterbinden. [...]